„Die russische Seele ist eine Neurose“

Anna Demidowa, 36 Jahre, Regisseurin, Moskau: „Russland ist wie ein gewalttätiger Ehemann“

Kennt die russische Seele: Anna Demidova
Kennt die russische Seele: Anna Demidowa

Ich bin in Moskau geboren. Meine Eltern stammen auch aus Moskau. Ich bin Theaterregisseurin, ich hatte ein eigenes unabhängiges Theater, die Gruppe Urban Forest Echo. Das war immer meine prinzipielle Haltung – ein Theater zu machen, das vom Staat unabhängig ist. Weil ich diesen Staat schon immer gehasst habe, und für mich war es wichtig, mit ihm nichts zu tun zu haben.

Ich habe eine ganz persönliche Theorie, nämlich dass alle unsere russischen Probleme von einer hypertrophen Hierarchie kommen, von dem heiligen Glauben an den „Großen Onkel“; davon, dass die Menschen nur sehr wenig Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen und für das, was in ihrem Leben geschieht. Bei uns möchte man am liebsten für gar nichts Verantwortung übernehmen. „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.“ Und immer wieder, im Verlauf einer bestimmten Zahl von Jahren, kommt so ein „Onkel“, der unbeschränkte Macht erhält.

Im Theater, bei den Schauspielern spüre ich sehr gut, wie sie arbeiten, wie sie miteinander umgehen. Vor dem Krieg war ich ziemlich oft in Europa und habe europäische und russische Schauspieler beobachtet. Es gibt einen gewissen Unterschied. Die europäischen Schauspieler, egal welchen Alters, sind selbständiger. In Russland war für mich das Deprimierendste, zuzusehen, wie sich Schauspieler im Alter von mehr als vierzig Jahren benehmen wie kleine Kinder.

Der 24. Februar: Auf der Demo in Moskau

Am Morgen des 24. Februar wachte ich auf, schaute auf mein Telefon, sah die Nachrichten und mir war sehr übel. Mir war schon lange schlecht von dem, was in Russland geschieht. Aber was konnte ich denn schon tun? Nichts Konkretes. Immerhin konnte ich auf den Puschkinplatz gehen, und das habe ich auch gemacht.

Das war ein riesiges Meeting, es hatte sogar Freunde dorthin getrieben, die noch nie in ihrem Leben auf die Straße gegangen waren und noch nie demonstriert hatten. Aber alle standen nur herum und gingen dann wieder nach Hause.

Ich hatte auch davor schon an Meetings teilgenommen. Die größten Meetings fanden 2021 statt, als Nawalny nach Moskau zurückkehrte und verhaftet wurde. Sie waren wirklich riesig, sowohl gemessen an der Zahl der Teilnehmer als auch am Ausmaß der Gewalt von Seiten der Machtorgane. Ich schrieb in den sozialen Netzwerken, rief dazu auf, auf die Straße zu gehen. Und dann prasselte so viel Hass auf mich ein, wie ich es noch nie erlebt hatte. Mir schrieben Bekannte und Unbekannte, ich bekam Dutzende persönliche Nachrichten. Alle versuchten mir zu erklären, wie sehr ich im Unrecht sei.

So viel Hass: „Ich weinte 24/7“

Wenn es Wahlen mit anderen Kandidaten gäbe, würde ich wohl nicht für Nawalny stimmen. Er ist mir irgendwie zu patriarchalisch, obwohl ich ihn sehr respektiere, irgendwie auch bewundere. Aber ich gehe nicht für Nawalny als Politiker auf die Straße. Ich gehe auf die Straße für ihn als ein Bürger dieses Landes, der absolut widerrechtlich verurteilt wurde. Ich protestiere dagegen, dass der Staat das Recht hat, mit dir zu machen was er will, unabhängig davon, ob du schuldig bist oder nicht.

Mir schien damals, und ich glaube, zu Recht, dass wenn wir das geschehen lassen, wie die Bürger dieses Lands es zulassen, dass Nawalny ins Gefängnis gesteckt wird, dann werden wir diese Staatsmaschine so weit entfesseln, dass sie jeden für nichts und wieder nichts einsperren können ohne dass sie fürchten müssen, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Absolutismus pur.

Damals habe ich noch Theaterstücke gegen den Absolutismus und gegen Putin aufgeführt. Aber diese große Zahl von Hassnachrichten hat mich so mitgenommen, dass ich jeden Tag weinte. Ich weinte, aber ich schrieb und protestierte trotzdem weiter. Ich weinte 24/7. Irgendwann begriff ich, dass ich etwas tun musste.

Es gibt eine Organisation namens „Nasiliu.net“ („Gewalt.nein“), die ich mit meinen Theaterstücken unterstützte. Ich hatte ein Stück gegen häusliche Gewalt gemacht. Ich rief ihre Hotline an und sprach mit einem Psychologen. Wir haben ungefähr eine Stunde lang gesprochen. Dieses Gespräch hat mir sehr geholfen.

Ich verstand überhaupt nicht, warum es so viel Aggression gibt. Warum kann ich in diesem Staat nicht machen, was ich will und sagen, was ich will? Warum befürworten die Menschen die Aggression, warum sagen sie: „Es ist richtig, dass man euch verprügelt, es ist richtig, dass man euch Gewalt antut, das ist alles richtig so, ihr seid selbst schuld.“

Der Psychologe sagte mir, in der Tierwelt gibt es einen Mechanismus, der auf Instinkt-Ebene funktioniert, eine Art Aggressionstrieb. Wir haben das von den Tieren geerbt. Auf dieser Instinkt-Ebene haben die Menschen Angst um ihr Leben, und sie glauben, es sei weniger gefährlich, einen Aggressor zu unterstützen, dann tut er ihnen nichts. Deshalb ist es einfacher, die, die sich widersetzen und die schwächer sind, zu Tode zu hetzen, als sich auf ihre Seite zu stellen.

Verhaftungen bei Protesten gegen den Krieg

Als die Proteste begannen, wurden mehrere meiner Freunde und Bekannten festgenommen. Die Meetings von Nawalny waren immer gut organisiert, man wusste immer, wo und wie wir uns versammelten. Aber bei den Antikriegs-Meetings war alles ziemlich konfus. In den Chats gab es Tausende von Menschen, darunter ganz sicher auch Leute von der Polizei, denn die war immer schon vor uns an den Orten, wo die Meetings stattfanden.

Aus Sicherheitsgründen fand ich, es wäre besser, einen eigenen Chat mit Bekannten aufzumachen, damit man zusammen losgeht. Damit man im Notfall einander schützen kann, oder wenn jemand verhaftet wird, aktiv nach ihm suchen und irgendwie helfen.

Wir zogen los, klebten Plakate, aber das wurde mit jedem Tag schwieriger. Im Zentrum stand neben jedem Metro-Ausgang ein Auto. Man kam aus der Metro und landete direkt im Gefangenentransporter.

Und dann ging das los, dass uniformierte Polizisten direkt zu den Leuten nach Hause kamen. Alle versteckten sich irgendwie, wohnten nicht, wo sie gemeldet waren, denn wenn nach einem Meeting Uniformierte zu dir nach Hause kommen, bedeutet das für dich nichts Gutes.

Sie setzen ein Gesichtserkennungssystem ein, viele wurden nach den Meetings von der Straße weg verhaftet. Oder in der Nähe ihrer Wohnung, oder zu Hause, am nächsten Tag.

Zu mir kamen sie nicht, weil ich nicht unter meiner Meldeadresse wohnte, mich konnten sie nicht so einfach finden. Und ich habe auch nicht gewartet, bis sie mich gefunden haben.

Ausreise nach Berlin via Türkei

Am 4. März wurde das Gesetz gegen Fake-Meldungen verabschiedet. Meine Familie machte sich große Sorgen um mich. Sie fingen an, mich zu drängen, ich solle ausreisen. Ich sah, wie die Demonstranten mit jedem Tag weniger wurden, dafür gab es immer mehr Polizei. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste. Viel schlimmer fand ich, dass in ganz Moskau im Februar bis Anfang März immer mehr Autos mit dem aufgemalten „Z“ herumfuhren.

Ich reiste am 6. März aus, über die Türkei. Es war sehr schwierig, ein Flugticket zu bekommen, weil natürlich alle ausreisten. Die Tickets waren sehr teuer. Ein Ticket, das wenige Wochen vorher noch 60 Euro gekostet hatte, kostete jetzt 460.

Mein Bruder kaufte mir ein Ticket. Ich flog allein.

Ich hatte zunächst nicht gewusst, wohin ich fliegen sollte. Klar, ich konnte in die Türkei fliegen, aber da kannte ich nur zweieinhalb Menschen, und ich wusste nicht, was ich dort machen sollte. Andererseits kannte ich Leute in Berlin, Theaterschaffende aus anderen Ländern, die hier leben. Ich schaute nach: Ein Ticket nach Istanbul kostete 400 Euro, ein Ticket nach Berlin 410 Euro. Ich wählte die zweite Option, auch wenn die Route sehr beschwerlich war; ich hatte zwei Tage Aufenthalt in Istanbul.

In Berlin bekam ich eine Aufenthaltsgenehmigung. Ich hatte vor ein paar Jahren schon einmal angefangen Deutsch zu lernen, ich war sogar bis zum Niveau B1 gekommen, ich war in Erfurt, an der Erfurter Universität. Ich möchte die Sprache lernen, aber in diesem ersten halben Jahr hatte ich andere wichtige Probleme, und ich kam mit meinem Englisch sehr gut zurecht.

Eine Inszenierung in Berlin

Jetzt mache ich ein Theaterstück. Ich bin ein Mensch des Theaters, deshalb ist für mich Theater eine Möglichkeit, das, was mir in der Welt zustößt, irgendwie zu verarbeiten, zu überwinden, zu durchdenken, zu durchfühlen. Alles das, was in Russland gerade geschieht, ist für mich eine schwer erträgliche Erfahrung.

Als ich nach Istanbul flog, beschloss ich aus irgendeinem Grund, Bulgakows Stück „Die Flucht“ noch einmal zu lesen. Ich hatte es früher schon mal gelesen, aber das ist ein Stück, das ich nie ganz verstanden habe. Als ich es jetzt im Flugzeug noch einmal las, nach mehreren Tagen ohne richtigen Schlaf, wurde mir auf einmal alles klar. Die Geschichte inspirierte mich. Ich verstand diese acht Träume. Ich nahm diese acht Träume, die in unterschiedlichen Städten Europas spielen, als Grundlage.

In Berlin habe ich viele Schauspieler kennengelernt, und jetzt sind in unserem Team sechs Schauspieler aus der Ukraine, eine Schauspielerin aus Italien, eine aus Rumänien, außerdem ein DJ und ein Dramaturg. Wir haben eine Arbeitsversion des Stücks fertiggestellt, alles, was wir ohne Geld machen konnten, und wir haben es sogar schon aufgeführt. Außerdem habe ich verschiedene Stipendien beantragt und warte auf Bescheid. Für mich ist es wichtig, diese großartigen Menschen, mit denen ich arbeite, zu bezahlen. Und mich selber auch.

Eine Gewaltbeziehung mit der Staatsmacht

Ich vergleiche Russland immer mit einem gewalttätigen Ehemann. Ich glaube, solange ich in Russland lebte, befand ich mich permanent in einer solchen Gewaltbeziehung mit der Staatsmacht. Früher glaubte ich, man müsse alle davon überzeugen, dass wir besser leben könnten, dass die Welt doch so groß und so interessant ist und so viel um uns herum passiert. Aber jetzt denke ich, dass man die Menschen, die nicht gerettet werden wollen, auch nicht retten soll.

Führer mochte ich Dostojewski. Im Teenageralter kam ich über „Schuld und Sühne“ zum Lesen. Ich dachte, Dostojewski sei ein super Schriftsteller. Aber dann nahm ich vor kurzem an einem Labor in Berlin teil, das hieß „Brechreiz oder wie man Russe bleiben kann“. Dort waren nur russische Performer versammelt, und wir versuchten, das bewusst zu machen. Man musste dort irgendeine Bewegung vormachen, und die Leute, die mit dir übereinstimmen, machten diese Bewegung nach. Jedes Statement musste beginnen mit den Worten: „Wegen des Kriegs bin ich...“ Eine Frau sagte, sie habe wegen des Kriegs angefangen, Dostojewski zu hassen.

Mir ging es genauso. Aber nicht nur wegen Russland und der Ukraine oder wegen seiner slawophilen Haltung, sondern weil er das Leiden kultiviert, dieses „Wer nicht gelitten hat, hat nicht gelebt“.

In „Die Brüder Karamasow“ gibt es ein Kapitel, das heißt „Überspanntheiten“. Ich denke, das charakterisiert Russland in einem Wort. Wenn du kein Leiden vorzuweisen hast, keine Überspanntheiten, dann hast du nicht gelebt. Mir ist das völlig fremd. Hier wird einem klar, dass die russische Seele eine Neurose ist.

Mit Anna Demidowa sprach Tatiana Firsova am 7.10.2022. Die Transkription übernahm Anastasiia Kovalenko, aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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