Hunger, Mord und „Flintenweiber“
Ausstellungs-Kuratorin Babette Quinkert über Rotarmistinnen in den Gefangenenlagern der Wehrmacht
Schon 1985 verwies die Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in Ihrem in der Sowjetunion und zwei Jahre später in der DDR erschienenen Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ auf die Frauen in der Roten Armee. Mit 700 sowjetischen Frontkämpferinnen und Partisaninnen hatte sie gesprochen. „Wir glauben, wir wüssten alles über den Krieg“, schrieb Alexijewitsch, und erinnerte an „Frauen, die Verwundete retteten und Frauen, die schossen“. Ihr Fazit: „Es gibt noch einen Krieg, den wir nicht kennen.“
Wenig bekannt ist in Deutschland über sowjetische Kriegsgefangene. Und vollends überraschend ist für die meisten Deutschen bis heute, achtzig Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, dass sich unter den Gefangenen auch Rotarmistinnen befanden.
Das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst hat eine Ausstellung über „Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg“ gestaltet, sie steht im Freien auf dem Gelände des Museums. KARENINA sprach mit der Kuratorin, Babette Quinkert, vor allem über die weiblichen sowjetischen Kriegsgefangenen:
KARENINA: In der Pressemeldung Ihres Museums steht ganz vorn der Satz: „Bis Kriegsende nahm die Wehrmacht etwa 5,7 Millionen Soldat·innen der Roten Armee gefangen.“ Wie viele Frauen dienten denn in der Roten Armee?
Babette Quinkert: Die Sowjetunion hat im Krieg etwa 34 Millionen Soldaten und Soldatinnen mobilisiert, darunter etwa eine Million Frauen. Wir haben zwei Beispiele in der Ausstellung: eine Militärärztin und eine Pilotin.
Jens Nagel hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass auf die deutschen Linien zustürmende Frauenbataillone „in das Reich der Legenden und Fantasien deutscher Soldaten sowie der NS-Propaganda“ gehörten.
Das würde ich bestätigen. Aber es gab sie. Und die Wehrmachtsoldaten waren tatsächlich überrascht, dass auch Frauen kämpften. Die Propaganda nannte sie „Flintenweiber“, die zum Äußersten entschlossen seien und auch noch die „natürliche“ Geschlechterordnung infrage stellten. Das war ein ganz spezifisches Feindbild.
Und wie viele gerieten in Gefangenschaft?
Wir kennen die genaue Zahl der weiblichen Angehörigen der Roten Armee, die in Gefangenschaft gerieten, nicht.
Waren Frauen direkt nach der Festnahme besonders von Schikanen betroffen? Oder wurden alle gleich schlecht behandelt?
Es gibt sehr unterschiedliche Kontexte, in denen sowjetische Gefangene erschossen wurden. Als direkten Mordbefehl gibt es den sogenannten Kommissarbefehl (Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare vom 6. Juni 1941). Er wies die Wehrmacht an, gefangene Politkommissare sofort und ohne Verhandlung zu erschießen.
Auch jüdische Armeeangehörige wurden in der Regel sofort erschossen. Ermordet wurden oft Offiziere, außerdem Verwundete, die transportunfähig waren oder erschöpft zurückbleiben bei den Transporten ins Hinterland; hinzu traf es überdurchschnittlich oft Soldaten aus den zentralasiatischen Republiken, weil sie in der Propaganda mit dem Feindbild des Asiaten und der besonders brutalen, grausamen Kampfesweise verknüpft wurden. Und es traf häufig eben auch die „Flintenweiber“.
Das wurde allerdings bei den Einheiten unterschiedlich gehandhabt, willkürlich. Sowjetische Kriegsgefangene galten entweder als gefährlich oder sie waren Nahrungsmittelkonkurrenten. Daher die gezielte Mord- und Hungerpolitik.
Das ebbte nach dem Frühjahr 1942 ab. Dann veränderten sich die Prioritäten der Deutschen. Es wurde klar, dass der Krieg noch lange geführt werden muss. Arbeitskräfte waren dringend benötigt. Aber auch danach starb noch eine Million sowjetischer Kriegsgefangener.
Hatten gefangene Rotarmistinnen in den Lagern mehr zu leiden als Männer?
Die Rotarmistinnen, die in Gefangenschaft geraten sind, haben besonderen Hass auf sich gezogen. Schätzungen gehen von mehreren Tausend Soldatinnen der Roten Armee aus, die von der Wehrmacht ermordet worden sind, meist direkt nach ihrer Gefangennahme.
Eine Spezifik bei den Rotarmistinnen ist aber auch, dass die Wehrmacht versucht, sie aus dem Gefangenenstatus wegzudrängen, weil sie auch begehrte Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft waren. Auch hatte die Wehrmacht bald ein wachsendes Interesse daran, die Frauen, die vor allem im Sanitätsbereich der Armee gedient hatten, selber einzusetzen in den Kriegsgefangenenlagern als Lazarettpersonal. Aber es gab keine gezielte Vernichtungspolitik dieser spezifischen Gruppe.
Wie hoch war der Anteil des Sanitätspersonals unter den Frauen in der Roten Armee?
Das war eine große Gruppe. Eine andere große Gruppe waren die Funkerinnen. Es gab auch Kampfpilotinnen, auch kämpfende Truppen von Frauen. Der genaue Anteil lässt sich nicht festlegen.
Generell steht fest: Die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden bis zum Schluss schlechter behandelt als die aller anderen Nationen. Wegen der schlimmsten Arbeitsbedingungen und der vergleichsweise schlechte Unterbringung starben mehr als die Hälfte der sowjetischen Kriegsgefangenen, während die Todesrate unter den gefangenen Westalliierten bei 3,6 Prozent lag. Das weist auf eine gezielte Politik.
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