Wieso überfiel Hitler die UdSSR?

Ziel von ‚Unternehmen Barbarossa‘: Annexion Osteuropas als koloniale Basis deutscher Weltmacht

Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 1941
Der Angriff: Hitlers Wehrmacht im Juni 1941 auf dem Weg in Richtung Osten

1941 beherrschte das nationalsozialistische Deutschland Europa zwischen Bug und Atlantik, Narvik und Kreta. Sowohl eine deutsche Invasion in England als auch eine britische Rückkehr auf den Kontinent waren unwahrscheinlich, und noch waren die USA neutral. Zwar plante Deutschland den Überfall (Führerweisung 21 vom 18. Dezember 1940), aber warum griff es am 22. Juni 1941 wirklich die Sowjetunion an, obwohl diese über mehr Eisenerz und Erdöl, vor allem aber über viel mehr Menschen in den kriegsfähigen Jahrgängen verfügte und hoch gerüstet war?

Wenig später erklärte Deutschland auch den von Japan überfallenen USA den Krieg. Das Verhältnis des Potenzials zwischen den durch Überfälle zu Alliierten gemachten ideologischen Konkurrenten und den Angreifern war 7:2! Ritten in Berlin die Walküren zur Götterdämmerung?

Hitler sah in „Mein Kampf“ die UdSSR reif für den Untergang, weil in der Oktoberrevolution der germanische Kern der russischen Oberschicht vernichtet worden sei und die Juden, welche die Macht ergriffen hätten, zwar in der Lage seien, einen Staat zu „zersetzen“, aber nicht, ihn aufzubauen. Hitlers Vorstellung war, Osteuropa als koloniale Basis deutscher Weltmacht auszubauen – „Russland ist unser Indien“, meinte er 1941.

Viele Akteure interessiert am Feldzug

Die Eroberung sollte so vor sich gehen, wie die Nationalsozialisten sich die Amerikas dachten – nur nicht in Jahrhunderten, sondern in einem Feldzug, der die Gunst der Stunde nutzte, die das „Genie“ erkannt hatte. Deutschland müsse in Osteuropa durch neue Bauern-Siedlungen „gesunden“ – die Frauen sollten auf dem Lande viele Kinder gebären, die Männer im Osten zu Herren werden und sich in der Unterdrückung „weibischer“, gehorsamer Slawen üben.

Und die anderen Akteure? Die Wehrmacht schloss aus der langen Verteidigung des kleinen Finnland gegen die Rote Armee, dass diese schlecht geführt wurde. Die deutsche Industrie sah, dass ihr Bedarf an Rohstoffen trotz der Erfolge gegen Frankreich und Norwegen auf Dauer nicht gedeckt war, besonders fehlte Erdöl. Die Bürokratie hoffte, Deutschlands Nahrungsprobleme zu lösen. Sie wussten, dass die agrarischen Überschüsse der zu erobernden Ukraine gering waren, scheuten aber, um trotzdem Getreide aus dem Land herauszuholen, nicht den Tod von „zig Millionen“. Die SS sah die Chance auf einen neuen Raubzug gegen fremdes Eigentum – und gegen die Juden.

Stalin rechnete nicht mit einem Angriff

Warum ließ die UdSSR sich überraschen? Die sowjetische Führung handelte, wie schon bei der Besetzung Georgiens 1923, mit den Annexionen Ostpolens und der baltischen Republiken 1939/40 sowie dem Angriff auf Finnland nach dem klassischen Konzept der Einflusszonen.

Der mit dem Völkerbund begonnene Versuch, Angriffskriege einzudämmen, war von den USA desavouiert, und der Kellog-Pakt war nicht mit Instrumenten zur Durchsetzung versehen worden. Wollte Deutschland wirklich den Partner bei der Aufteilung Europas angreifen?

Stalin dachte in Theorien – er schloss aus „Mein Kampf“, dass Hitler keinen Zweifrontenkrieg beginnen würde, weil der die deutsche Führung im Ersten Weltkrieg deswegen scharf verurteilt hatte. Hitler handelte aber nicht rational – seine Bücher sind keine logischen Gebäude, sondern aktionistische Werbeschriften.

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WeltTrends
Das außenpolitische Journal
"Südostasien: Region im Umbruch", Ausgabe 176, Juni 2021

Potsdamer Wissenschaftsverlag
72 Seiten
Zeitschrift
5,80 Euro
ISBN 978-3-947802-63-0
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Bei der Strategie setzte der imperialistische Teil der Wehrmacht – gegen Offiziere wie den entlassenen Ludwig Beck – auf den überraschenden Panzerangriff, der in den Fachzeitschriften diskutiert und mit dem Frankreichfeldzug konkret vorgeführt worden war: Panzer durchbrechen die Front, schneiden den feindlichen Armeen den Nachschub ab und zwingen diese damit zur Kapitulation.

Da die KPdSU jedoch (aus Stalinscher Verfolgungsangst) fast alle gelernten Offiziere der Roten Armee liquidiert hatte, gelang der Wehrmacht tatsächlich mehrfach dasselbe Manöver und in vielen „Kesseln“ wurden über drei Millionen Kriegsgefangene gemacht. Trotzdem ging die entscheidende Schlacht vor Moskau verloren, weil die Wehrmacht die Verluste der Siege nicht ausgleichen konnte – Januar 1942 waren ein Drittel der Mannschaften sowie 90 Prozent der Panzer ausgefallen und kaum Nachschub vorhanden.

Das Macho-Abenteuer der „Elite“

Die Eroberung sollte nicht nur dem Imperium Macht, sondern den „Eliten“ auch Befriedigung bringen. Die Rechtsordnung wurde ausgesetzt: Morde an Juden und Kommunisten, sexuelle Gewalt gegen Unterworfene, „Organisieren“ von Zusatzverpflegung, Raub von Kunstwerken – alles schien erlaubt, wenn nicht gar erwünscht.

Die Anfangsphase des Ostfeldzugs erhielt – für die junge Generation überzeugter Nationalsozialisten – den Charakter eines Macho-Abenteuers, von dem man Fotos mit nach Haus brachte. Der „Kriegsgerichtsbarkeitsbefehl“ hob die Pflicht zur Verfolgung der Verbrechen von Deutschen an Landeseinwohnern auf und der „Kommissarbefehl“ gebot, Gefangene zu ermorden.

Im Besatzungsgebiet herrschte, wie vorhergesehen, Hunger. Und die Wehrmacht ließ gegen alle Konventionen mehr als drei Millionen Kriegsgefangene in den Lagern verhungern – nicht nur hinter der Front, sondern auch im „Reich“, das 1941/42 gut versorgt war.

Die Einsatzgruppen der SS begannen, logistisch versorgt von der Wehrmacht, unmittelbar hinter der Front mit dem Massenmord an Juden, Roma, Kommunisten und Kranken. Da viele Kommunisten evakuiert worden waren, wurde der Wettbewerb um die höchsten Mordzahlen – man meldete sie als Erfolge nach Berlin – schnell auf die Juden konzentriert.

Ein Befehl Hitlers zum Massenmord ist nicht überliefert; SS und Polizei systematisierten die Erschießungen von September 1941 an zum Genozid. Insgesamt wurden 2,6 Millionen Juden östlich des Bug getötet.

Sowjetische Partisanen gab es von Anfang an, wie der in London entschlüsselte deutsche Polizeifunk belegt, aber es gab auch viele Kollaborateure. Ihnen wollte Berlin aber keine Zugeständnisse machen, und da von Anfang an zu wenige Besatzer da waren, um das für Deutsche riesige Land zu verwalten, wurde mit Terror regiert. In Reaktion darauf befreiten Partisanen – auch jüdische Einheiten – schon im Herbst 1941 größere Gebiete hinter der Front – von denen viele in deutschen „Unternehmen“ erneut erobert und zu „toten Zonen“ gemacht wurden.

Russland: „Alles für die Front!“

Aus dem Überraschungskrieg wurde der Abnutzungskrieg. Für den war die UdSSR gerüstet, auch die USA gingen für die Kriegswirtschaft zu zentraler Planung über. Für den Aufbau des Ural-Kuzbas-Kombinats im dritten Fünfjahresplan hatten einige in der KPdSU damit geworben, dass die Deutschen 1918 bis zum Donbass gekommen waren; nach dessen (erneutem) Verlust 1941 wurde der Ural zum Zentrum der sowjetischen Rüstung. „Alles für die Front!“

Selbst 1942 produzierte die UdSSR mehr Panzer als Deutschland. Etwa 15 Millionen Funktionäre, Facharbeiter und andere waren vor der Front evakuiert worden oder geflohen – aber wie sie nach dem Verlust der Ukraine ernähren? Ohne die US-amerikanischen Lieferungen wären noch mehr verhungert. Ideologisch wurde Frieden mit der Kirche geschlossen und der Sowjetpatriotismus russifiziert.

Georgi Schukow – ein Offizier, der die stalinschen Säuberungen überlebt hatte, aber als „Defätist“ abgesetzt wurde, weil er den Kessel von Kiew voraussah – wurde von Stalin zum Chef des sowjetischen Oberkommandos ernannt.

Dass die deutsche Armee im Sommer 1942 nach Süden schwenken würde, war vorhersehbar und Stalingrad wurde zum Grab der 6. Armee – diesmal hatten die Sowjets den Kessel zugemacht. Von da an zog die Rote Armee westwärts – nicht in „heroischen“ Vorstößen, sondern (ganz Clausewitz) sobald sie an der Front eine deutliche Überlegenheit hatte und der jeweilige Nachschub gesichert war.

Ignoranz der deutschen Führung

Die deutsche Führung verweigerte sich auch nach 1942 der Realität und versuchte noch einmal eine Panzerschlacht. Der Rückzug wurde zum infanteristischen Krieg, der auch im Osten gegen feindliche Luftüberlegenheit geführt werden musste. Für die deutsche Wirtschaft wurde Zwangsarbeit von „Ostarbeitern“ organisiert. Die Massenverbrechen wurden industrialisiert – für den Genozid an Juden und Roma wurden Vernichtungsfabriken gebaut und Auschwitz wurde zum Symbol des Bruchs nicht nur mit der deutschen, sondern auch der globalen Kultur.

Das nationalsozialistische Deutschland wollte mit dem Überfall in konkurrierender Imitation der angelsächsischen Mächte (so, wie die Nazis deren Machtgewinn begriffen) Osteuropa bis zur Linie Astrachan-Archangelsk zur Kolonie machen, um eine Basis für den Aufstieg zur Weltmacht zu gewinnen. Das Hasardspiel des Angriffs auf die nach Bevölkerung und Rüstung überlegene UdSSR ging verloren, was das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft einläutete. Die ungeheuerliche moralische, aber auch materielle Katastrophe Deutschlands wurde nun allen deutlich.

Lesen Sie außerdem in der KARENINA-Serie „22. Juni 1941: Überfall der Wehrmacht auf die UdSSR“:

Johann Michael Möller kommentiert den 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, die Großmut der Menschen in der UdSSR in der Zeit nach 1945 und was wir daraus für Schlüsse ziehen könnten.

Alexander Dynkin: 'Victor ist den Heldentod gestorben'. Der Präsident des IMEMO über die Toten seiner Familie und wie es weiterging

Andrei Kortunov: Feinde für ewig? Was der 22. Juni 1941 heute für Russen und deren Verhältnis zu den Deutschen bedeutet

Nina Petljanowa: „Der Krieg und die Psyche der Soldaten: Weltkriegsveteran Daniil Granin: ‚Den Krieg, den ich erlebt habe, findet man nicht in Dokumenten‘“

Jörg Echternkamp: Stalingrad: Die Schlacht als Metapher. 22. Juni 1941: Überfall auf die UdSSR, Stalingrad und das Gedächtnis der Deutschen

Peter Köpf: Vergessene Opfer: Sowjetische Kriegsgefangene. Die Verbrechen der Wehrmacht an 5,7 Millionen Rotarmisten – und Rotarmistinnen

Das KARENINA-Interview mit der Kuratorin der Ausstellung "Dimensionen eines Verbrechens", Babette Quinkert, über Hunger, Mord und "Flintenweiber"

Das aktuelle Buch: Hannes Heer und Christian Streit bilanzieren den Überfall auf die UdSSR vor 80 Jahren.

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