Russlands Zukunft: Moskowien?
Aus Russland könnte wieder Moskowien werden, wenn es gegen die Ukraine verliert
Angesichts der ungewissen Perspektiven des Angriffskriegs gegen die Ukraine nehmen immer mehr Beobachter Russlands Zukunft nach dem Ende des Konflikts in den Blick. Viele von ihnen argumentieren, dass das größte Land der Erde bei einem Scheitern der „militärischen Spezialoperation“ auseinanderbrechen könnte. Diese Ideen sind nicht neu, sie tauchten nach der russischen Besetzung der Krim erstmals auf.
Solche Spekulationen sind mit Skepsis zu betrachten, denn das heutige Russland unterscheidet sich in erheblichem Maß vom Russischen Reich des Jahres 1916 und von der Sowjetunion von 1990. Um 1916 waren die Provinzen des Zaren von Ethnien bevölkert, die, selbst wenn sie den Russen gegenüber wohlgesinnt waren, das Gefühl hatten, eine eigene Identität zu besitzen.
Von 1918 bis 1922 gaben die Bolschewisten, um das Land erneut zu einen, den Namen „Russland“ auf und nannten es stattdessen neutral „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“. Es ging ihnen darum, die Idee der russischen Überlegenheit zu beseitigen. Dieses Konzept hatte siebzig Jahre Bestand, bis die Ressource erschöpft war.
Der Kollaps der Sowjetunion war der Zusammenbruch eines typischen Kolonialreichs: 1990 bildeten die ethnischen Russen zum ersten Mal eine Minderheit in der Gesamtbevölkerung des Lands. Zudem erlaubte die sowjetische Verfassung formell die Auflösung der Union, da die Republiken das Recht hatten, auszutreten. Auch die Perestroika belebte diese Perspektive.
Die Russen fürchten ihre zukünftige Schwäche
Doch warum können sich die Ereignisse von 1990 bis 1992 nicht wiederholen? Es gibt viele „nationale“ Republiken in Russland selbst, und einige von ihnen haben auch starke nationale Gefühle.
Es sind zwei Faktoren, welche die Situation anders machen. Zum einen war das Imperium, das Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde und bis Ende des 20. Jahrhunderts Bestand hatte, ein ganz besonderes Imperium. Es wurde nicht von einem Nationalstaat aufgebaut (wie im Falle Spaniens oder Frankreichs), sondern von einem anderen Imperium: Man kann es Moskowien nennen. Es entstand Mitte des 17. Jahrhunderts, nachdem die Moskauer Fürsten und Zaren nicht nur in Sibirien riesige Siedlungsgebiete erobert, sondern auch die Länder unterworfen hatten, aus denen die alte Rus bestand: Nowgorod, Polotsk und Kiew. Dabei ging es auch darum, die westlichen und südlichen Grenzen vor Polen und Türken zu sichern.
Das war das Erste Reich, und seine Grenzen entsprachen fast denen der heutigen Russischen Föderation (wenn die Russen die Hälfte der Ukraine erobern würden, hätten wir fast genau das Russland der 1660er Jahre). Was 1990 zusammenbrach, war nicht dieser Staat, sondern das Zweite Reich, das zwischen 1700 und 1870 durch die Angliederung der baltischen Staaten und der Westukraine, Bessarabiens und des Südkaukasus sowie ganz Zentralasiens entstanden war. Die Kämpfe in Tschetschenien, Abchasien und in der Ostukraine umfassen zum Teil die Gebiete, in denen die Grenzen des alten Russlands von denen der Russischen Föderation abweichen.
Der Untergang des Zweiten Reichs sagt wenig über die Aussichten des Ersten Reichs aus, das im Bewusstsein der Russen immer noch sehr lebendig ist. Indes ist die heutige Russische Föderation in ethnischer Hinsicht viel monolithischer. Nicht 50 Prozent, wie in der späten UdSSR, sondern mindestens 80 Prozent der Bevölkerung sind Russen (oder russifizierte Ukrainer bzw. Weißrussen).
Nur in einigen wenigen Volksrepubliken wie Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan, Tjewa oder Burjatien machen die Russen weniger als 50 Prozent der Bevölkerung aus (in Inguschetien liegt ihr Anteil übrigens immer noch bei nur etwa einem Prozent). Sollten diese Einheiten sich abspalten, würde dies den Rest des Lands stärken.
Es ist zu bezweifeln, dass mehrere russische Gebiete versuchen werden, sich von Russland zu trennen. Die Russen fürchten sich davor, außerhalb eines Lands zu leben, das sie als „ihr“ Land betrachten – die Chancen für die Entstehung einer fernöstlichen oder uralischen Republik scheinen daher gering. Zudem war die Sowjetunion 1990 die größte eurasische Macht mit einem geteilten Europa im Westen und einem schwachen China im Südosten, während Russland heute im Vergleich zur EU oder zu China arg geschrumpft ist, was die Russen ebenfalls zusammenhalten könnte, da sie ihre künftige Schwäche fürchten.
Was geschieht, wenn Putin scheitert?
Was wir derzeit erleben, ist der Versuch der Überbleibsel des Zweiten Russischen Reichs, zum Trost einige Länder zu erobern, was das Gefühl vermittelt, zusammen mit der Ukraine und Weißrussland wie ein „echtes“ Russland auszusehen. Dies erklärt, warum Putin sich im Januar nicht Kasachstan einverleibte, sondern im Februar die Ukraine angriff. Die russische „Föderation“ möchte das „historische Russland“ sein, wie Putin selbst den früheren Staat nennt, aber keine neue Sowjetunion.
Was wird passieren, wenn der russische Angriffskrieg scheitert, Russland militärisch besiegt wird und die souveränen Grenzen der Ukraine wiederhergestellt werden? Es gibt zwei Möglichkeiten:
Erstens eine gewaltige innere Veränderung Russlands wie nach den militärischen Niederlagen von 1855, 1905 oder 1917, die in einer „Europäisierung“ des Lands endet.
Zweitens, das unglückliche Möchtegern-Russland wird wieder zu Moskowien, einer traditionellen, von seiner Größe und religiösen Besonderheit besessenen Gesellschaft, die vom Zaren und von seiner Aristokratie regiert wird, wirtschaftlich von Rohstoffexporten abhängt und weder den Willen noch die Perspektive hat, sich der Welt zu öffnen.
So oder so bleibt ein möglicher Zerfall Russlands schwer vorstellbar, auch wenn ein solches Szenario nicht das schlechteste wäre, für seine Nachbarn, aber auch für das Land selber.
Wladislaw L. Inosemzew ist ein bekannter russischer Ökonom. Er ist Sonderberater des Memri-Projekts für russische Medienwissenschaft sowie Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau. – Dieser Beitrag ist ursprünglich am 9.1.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung. Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.