Kauft Wasserstoff aus Russland

Klimapuristen wollen nur grünen Wasserstoff haben, das ist aber ein Fehler

von Veronika Grimm und Kirsten Westphal
Wasserstoffmolekül, grün
Wasserstoff: Grün, grün, grün sind längst nicht alle Farben.

Die Erwartung an den Wasserstoff ist groß: Das klimaneutral erzeugte Molekül soll zukünftig fossile Grundstoffe und Energieträger ersetzen, und zwar dort, wo sich Strom nicht direkt nutzen lässt oder das zu teuer wäre. Das hilft dem Klimaschutz in der Schwerindustrie, der Schwermobilität, der Luft- und der Schifffahrt – und gleichzeitig winken industriepolitische und geopolitische Chancen.

Deutsche Unternehmen sind exzellent positioniert, um Schlüsselkomponenten für eine zukünftige Wasserstoffwirtschaft zu produzieren: Elektrolyseure, Logistiklösungen, Fahrzeuge. Zudem macht eine Umstellung der Energieimporte auf klimaneutrale Energieträger Deutschland unabhängiger von einzelnen Lieferanten: Erneuerbare Energien sind weltweit breit verfügbar, während sich Öl- und Gasreserven auf nur wenige Länder konzentrieren.

In Deutschland ist die Debatte derzeit auf grünen Wasserstoff fokussiert. In der Tat: Um 2050 klimaneutral zu sein, ist grüner Wasserstoff das beste Mittel. Er wird direkt mittels erneuerbarer Energien gewonnen. Es wird aber noch dauern, bis er in großer Menge verfügbar ist.

Aktuell beginnt in Deutschland der Ausbau von Wasserelektrolyse-Kapazitäten von fünf Gigawatt, die bis Ende des Jahrzehnts ausgebaut sein sollen, das entspricht jedoch nicht mal 15 Prozent des Bedarfs im Jahr 2030. Es werden daher Partnerschaften mit möglichen Erzeugerländern von günstigem grünem Wasserstoff weltweit angebahnt – darunter Marokko, Chile und Australien.

Blau statt grün

Beschleunigen ließe sich die Nutzung von emissionsarmem Wasserstoff durch eine größere Offenheit gegenüber anderen Quellen von Wasserstoff. Blauer Wasserstoff beispielsweise wird aus Erdgas hergestellt, wobei aber das entstehende CO2 aufgefangen und eingelagert wird. Diese Technik wird in Deutschland von vielen kritisch gesehen. Sie wird jedoch mittelfristig noch deutlich günstiger sein als ihr grünes Pendant. Zudem bieten viele unserer aktuellen fossilen Energiepartnerschaften die Chance, den Handel von Gas auf blauen Wasserstoff umzustellen.

Ein solcher Schritt zahlt sich in mehrfacher Dividende aus: Klimapolitisch ermöglicht er, schnell und in großem Maßstab Emissionen einzusparen. Aber auch außen- und industriepolitisch würde ein solcher Schritt Chancen eröffnen.

Heute importieren wir rund 70 Prozent unseres Primärenergiebedarfs in Form fossiler Energieträger; Gas, Öl und Kohle. Auch die Energiewende wird für Deutschland keine Autarkie mit sich bringen. Denn es fehlt an Flächen und wohl auch an sozialer Akzeptanz für den dafür notwendigen Ausbau erneuerbarer Energien und Stromtrassen. Langfristig muss Deutschland daher erneuerbare Energieträger importieren, also klimaneutralen Wasserstoff und darauf basierende synthetische Kraftstoffe oder Produkte.

Außenpolitisch ist viel von Wasserstoffpartnerschaften zu erwarten. Wir haben mehr Gestaltungspotential als früher und können unsere künftigen Handelspartner wählen. Anders als früher gibt nicht die Geologie vor, von wem wir Öl und Gas kaufen. Vielmehr können wir emissionsarmen Wasserstoff aus vielen Ländern mit guten Bedingungen für erneuerbare Energien importieren.

Win-win: Heutige Öl- und Gaslieferanten beteiligen

Doch auch die heutigen Öl- und Gaslieferanten sollten Chancen haben, am Energiehandel weiter zu verdienen. Sie in eine klimaneutrale Welt mitzunehmen, das ist geradezu ein klimapolitischer Imperativ. Wenn den öl- und gasreichen Staaten die Einnahmen wegbrechen, droht die Destabilisierung dieser Länder. Schon heute liefert Venezuela dafür ein beredtes Beispiel. In der EU-Nachbarschaft drohen Algerien, Ägypten, aber auch Russland zentrale Staatseinnahmen wegzubrechen.

Die Öl- und Gasproduzenten geben darauf ganz unterschiedliche Antworten. Heute schon erproben die Golfmonarchien Technologien zur Wasserstofferzeugung, aber auch zur Abscheidung, Wiederverwertung und Speicherung von CO2.

Russland wiederum setzt auch auf ein Verfahren zur Erzeugung von türkisem Wasserstoff, bei dem fester Kohlenstoff anfällt. Das ist Teil des globalen Technologiewettbewerbs. Wenn es glaubhaft und messbar gelingt, Emissionen einzusparen, und mehr und mehr Mengen klimaneutralen und emissionsarmen Wasserstoffs gehandelt werden, wird das auch internationale Lieferketten früher etablieren, die Kosten senken, auf mehr Schultern verteilen und damit sozio-ökonomische Kosten von Emissionseinsparungen weltweit abfedern.

Deutschland und Europa sollten diese Transformationen in Saudi-Arabien, Qatar und Russland nutzen. So eröffnen wir gleichzeitig diesen Staaten neue Einnahmequellen. Tun wir es nicht, so dürften sie ihr fossiles Geschäftsmodell mit anderen Handelspartnern ausreizen.

Bei sinkender Nachfrage aus den Staaten mit ambitionierter Klimapolitik würden die Preise für fossile Rohstoffe fallen. Die Wahrscheinlichkeit wäre dann hoch, dass es zum sogenannten Green Paradox kommt: Das Öl und Gas verbleibt nicht etwa unter der Erde, sondern wird in den Entwicklungs- und Schwellenländern billig genutzt, um dort das Wachstum zu befeuern.

Schon heute hat sich das Nachfragezentrum nach Asien verschoben. Der Weg über blauen Wasserstoff kann gleichzeitig Wertschöpfungspotentiale in den öl- und gasreichen Ländern erhalten und Nettoimporteuren von Primärenergie weltweit eine Alternative zu herkömmlichen Brennstoffen eröffnen.

Abkehr von Öl und Gas? Nicht sofort

Der Blick nach Asien zeigt: Andernorts ist man beim Aufbau von Wasserstoff-Partnerschaften sehr agnostisch, was die Farbenlehre angeht. Der Wettbewerb ist in vollem Gang. Japan macht es vor: Verschiedene Verfahren werden mit Australien, Brunei und Saudi-Arabien getestet, um Handel und Transport zu erproben und Standards zu setzen.

Der Wasserstoff und seine Derivate werden dabei aus Braunkohle (Australien) oder Erdgas (Brunei und Saudi-Arabien) erzeugt und auf drei verschiedene Arten transportiert. Dies geschieht gezielt mit Blick auf die Festigung der Energie-Handelsbeziehungen sowie das industriepolitische Potential – denn so erwerben sich die Hersteller von Schlüsselkomponenten einer Wasserstoffwirtschaft einen Vorsprung vor dem Rest der Welt.

Mit im Fokus sind freilich auch die langfristigen Ziele von Klima- und Karbonneutralität. In Asien hält man sich einen breiten Energie- und Technologiemix offen und erhofft sich Flexibilität und eine starke Ausgangssituation im globalen Wettbewerb. Dekarbonisierung bedeutet dort keine sofortige Abkehr von Öl, Gas und Kohle. Rhetorisch setzt man auf „saubere“ Technologien und könnte möglicherweise sogar von den Preissenkungen aufgrund des Green Paradox profitieren, wenn andere Länder den Pfad über fossile Energieträger nicht einschlagen.

Für die Energiewende brauchen wir schnell größtmögliche Mengen klimafreundlichen Wasserstoffs; bestenfalls aus unterschiedlichen Ländern in aller Welt. Es ist kontraproduktiv, jetzt schon mögliche Lieferanten auszuschließen.

Veronika Grimm lehrt Volkswirtschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Kirsten Westphal leitet das Projekt „Geopolitik der Energiewende – Wasserstoff“ der Stiftung Wissenschaft und Politik und ist Mitglied im Nationalen Wasserstoffrat.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen am 2. Mai 2021 in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Wir danken den Autorinnen für die Erlaubnis zur Veröffentlichung in KARENINA.

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