Strafvollzug: Ohne Kontrolle geht es nicht

Um die Rechte der Inhaftierten zu schützen, muss die Gesellschaft den Strafvollzug überwachen

von Michael Wilhelmi
Gefaengnis Wilhelmi imago imagesPanthermedia Zuschnitt | Nachrichten über Russland

Abgeschottete Systeme wie der Strafvollzug haben eine ungute Eigenschaft: Sich selbst überlassen, entwickeln sie ihre eigenen Regeln. Das ist überall so, wenn sie nicht von außen, durch die Zivilgesellschaft infiltriert werden. Was der Berliner Rechtsanwalt Olaf Heischel in der Theorie beschrieb, beschäftigte die AG Zivilgesellschaft auf ihrer Tagung „Gesellschaftliche Kontrolle zur Einhaltung der Menschenrechte in den Strafvollzugssystemen in Russland und Deutschland“ in der Praxis.

Diese ist in beiden Ländern recht unterschiedlich, wie sich auf der von den AG- Koordinatoren Michail Fedotow und Johann Saathoff geleiteten Video-Konferenz am 11. November 2020 zeigte: In Deutschland wachen die an die Haftanstalten angebundenen Beiräte über die Rechte der Gefangenen. In Russland kontrollieren die regional organisierten gesellschaftlichen Beobachtungskommissionen die Einrichtungen des Freiheitsentzugs.

Perfekt seien beide Kontrollsysteme nicht, monierten einige der Experten: In Russland würden die Beobachtungskommissionen nicht unabhängig besetzt, in den letzten Jahren sogar mit ehemaligen Bediensteten aus dem Strafvollzug. In Deutschland seien Infrastruktur wie auch personelle und finanzielle Ausstattung mangelhaft.

Beobachtungskommissionen in Russland

Jewa Merkatschowa stellte die Arbeit der russlandweit 85, mit fünf bis 40 Mitgliedern besetzten, regionalen Beobachtungskommissionen vor. Diese überwachten, so erläuterte die stellvertretende Vorsitzende der Beobachtungskommission in Moskau, die Haftbedingungen der 500 000 Inhaftierten in Gefängnissen und Untersuchungsgefängnissen sowie der jährlich mehr als einer Million Personen in Polizeihaft und im Maßregelvollzug.

In den Kommissionen seien Mitglieder aller Berufe tätig. Sie hätten freien Zugang zu den Hafträumen und Inhaftierten, um Unterbringung, Ernährung, medizinische Versorgung, Bewegungsangebot und Hinweise auf Gewalt zu überprüfen. Interventionen der Kommissionen würde nachgegangen. So seien die Missstände im überbelegten Moskauer Frauenuntersuchungsgefängnis rasch beseitigt worden.

Der Vorsitzende des „Komitees für Zivilrecht“, Andrej Babuschkin, ergänzte, dass die gesellschaftlichen Beobachtungskommissionen zu merklichen Verbesserungen im Strafvollzug geführt hätten. So habe sich die Sterblichkeit in den Gefängnissen verringert, die Zahl der Tuberkulose-Toten sei deutlich zurückgegangen. Oft aber reichten die personellen Kapazitäten der Kommissionen nicht aus, auch sei mehr finanzielle Unterstützung vonnöten.

Anstaltsbeiräte in Deutschland

Der ehemalige Direktor des Kriminologischen Instituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, erläuterte die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements am Beispiel einiger von ihm angestoßener Initiativen: die von Bürgern gespendeten Zeitungsabonnements für Gefangene zum Beispiel oder die heute 410 Bürgerstiftungen, deren erste Pfeiffer gegründet hatte.

Diese Stiftungen unterstützten die Integration von Flüchtlingen und trügen so zur Kriminalitätsprävention bei. Trotz der zahlreichen jungen Männer, die während der Flüchtlingskrise nach Deutschland kamen, sei die Kriminalität heute auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung.

Christine Graebsch, Leiterin des Strafvollzugarchivs an der Fachhochschule Dortmund, stellte das System der Anstaltsbeiräte mit seinen Stärken und Schwächen vor. Mit dem Szenario vor Ort vertraut, könnten die Beiräte Rechtsverstöße besser als externe Kontrolleure aufdecken. Allerdings seien sie nicht völlig unabhängig, da sie von der Justizbehörde besetzt würden. Kritische Mitglieder könnten abberufen werden.

Die Rechte der Beiräte umfassten freien Zugang zur Anstalt, unüberwachte Kommunikation mit den Insassen sowie Dokumentation und Publikation. Grundproblem sei dabei die „Aufgabenkonfusion“: Beiräte sollen kontrollieren, zugleich aber mit der Anstalt vertrauensvoll zusammenarbeiten. Oft fehle es in den Beiräten an Expertise und Engagement: Wer würde Folter, wenn es solche Vorwürfe gäbe, entdecken? Vielfach sei die „Kaffee-Stunde mit der Anstaltsleitung“ die Realität.

Der Vorsitzende des Berliner Vollzugsbeirats, Olaf Heischel, erläuterte die Arbeit seines Gremiums. Der Vollzugsbeirat setze sich für die Belange aller Berliner Gefängnisse ein, beispielsweise für den Ausbau des offenen Vollzugs oder gegen die Unterbringung in besonders gesicherten Hafträumen als Disziplinarmaßnahme. Das Gremium arbeite mit dem Senat zusammen und werde von der Justizverwaltung besetzt. Jede der Haftanstalten habe zudem eigene aus acht bis zwölf ehrenamtlich tätigen Personen bestehende Anstaltsbeiräte.

Vollzugsziel in Deutschland sei die Resozialisierung. Dieses könne nur bei einem guten Umgang mit den Gefangenen erreicht werden. Daraus ergebe sich die fundamentale Bedeutung ziviler Institutionen für die Kontrolle.

Folter? Nur vereinzelt

Anatolij Rudyj, stellvertretender Direktor des Föderalen Strafvollzugsdienstes (FSIN), hob hervor, dass die Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen Institutionen für seinen Dienst große Bedeutung habe. Der FSIN stehe im ständigen, engen Austausch mit den Beobachtungskommissionen. Ein Ergebnis sei die Verbesserung der Kontrolle: So dürften die Kommissionen heute Foto- und Videoaufnahmen machen.

Auf Berichte über Folter in russischen Gefängnissen angesprochen, entgegnete Rudyj, es gehe eher um einzelne Fälle. Diese würden ausnahmslos untersucht, auch komme es zu Verurteilungen, wie zum Beispiel beim Fall in der Strafkolonie IK-1 im Gebiet Jaroslawl. Insgesamt sei die Zahl der Gefangenen in den vergangenen Jahren immer weiter gesunken.

Der Direktor des Instituts für Menschenrechte Walentin Gefter stimmte zu, dass es sich bei Folter im engeren Sinn um einzelne Fälle handele. Das Hauptproblem im Strafvollzug sei grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinn der UN-Antifolterkonvention. Diese habe systemische Ursachen: unzureichende Rechtsvorschriften, Tradition der Gewalt im Strafvollzug, geringer Bildungsgrad und schlechte Bezahlung des Personals, ineffektive Untersuchung von Verstößen.

Gefter regte Verbesserungen an, etwa eine professionelle Einsatzgruppe, die russlandweit schwere Verstöße untersucht: „Was wir haben, ist besser als das, was wir gestern hatten, aber wir dürfen uns damit nicht begnügen.“

Walerij Borschtschow von der Moskauer Stiftung „Soziale Partnerschaft“, einer der „Väter“ des Gesetzes über die Beobachtungskommissionen, warf einen Blick zurück: Nach langjährigen Verhandlungen sei das Gesetz 2008 mit gravierenden Änderungen verabschiedet worden: Die Kommissionen hätten darin nur regionale, nicht wie ursprünglich vorgesehen russlandweite Zuständigkeit; auch würden sie von der Gesellschaftskammer besetzt, nicht vom Menschenrechtsbeauftragten. So fehle es heute an einer Instanz, die überall im Land kontrollieren könne. Die regionalen Kommissionen seien sehr heterogen: teilweise stark, teilweise völlig ineffektiv. Hauptforderung bleibe: Die Beobachtungskommissionen müssen unabhängig sein.

Thomas Feltes, Mitglied des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT), referierte über die Arbeit des CPT, in dem alle 47 Vertragsstaaten des Europarats vertreten sind; Russlands Platz sei derzeit vakant.

Das CPT inspiziere bei seinen Ad-hoc- und turnusmäßigen Besuchen Einrichtungen des Strafvollzugs, aber auch der Polizei, Psychiatrie oder Altenpflege. Die Berichte darüber dürften nicht ohne Zustimmung der Regierung des besuchten Vertragsstaats veröffentlicht werden. Bei Nichtkooperation, wie zuletzt bei Russland, könne das CPT nur mit einer Stellungnahme reagieren. Dennoch seien die Berichte wertvoll, weil sie ein Schlaglicht auf vorhandene Probleme würfen und mit ihnen ein gewisser politischer Druck verbunden sei.

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