Gemeinsam gedenken
An den Zweiten Weltkrieg muss im Dialog erinnert werden, nur so kann das Gedenken der Zukunft dienen
Der Historiker Andrej Sorokin fand deutliche Worte: „Nicht jede politische Diskussion führt zum Krieg, doch jedem Krieg geht eine ideologische Mobilisierung voraus“. 75 Jahre nach Kriegsende ist Europa im Gedenken eher gespalten als geeint. Geschichte droht zum politischen Instrument zu werden.
Dass die Vergangenheit kein Spielball der Politik sein darf, wurde auf der Tagung „Gedenken an den Zweiten Weltkrieg“ der Arbeirsgruppe Zivilgesellschaft ebenso klar wie die Entschlossenheit zum Dialog. Die AG-Koordinatoren Michail Fedotow und Johann Saathoff waren sich einig: Es ist die Aufgabe der Gesellschaften, unterschiedliche Sichtweisen auf die Geschichte im Gespräch miteinander zu erörtern.
Gemeinsam gedenken, um auch in Zukunft verbunden zu sein – am 3. Dezember 2020 zeigte sich, dass das gelingen kann. An keiner Stelle wurde das so deutlich wie bei einer Schilderung von Hermann Krause: Deutsche und russische Jugendliche pflegen im westlich von Moskau gelegenen Rshew, Schauplatz einer der großen Schlachten, gemeinsam die Friedhöfe deutscher und sowjetischer Gefallener. Bringt man junge Leute auf diese Weise zusammen, so der Leiter des Moskauer Büros des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, ließen sich all die Unterschiede in der Frage „Wie bewerten wir den Krieg?“ überbrücken.
Wie die Vergangenheit vergegenwärtigen?
Ausgehend von der Debatte des vergangenen Jahres um ein Denkmal für die polnischen Opfer des Nationalsozialismus in Berlin beleuchtete der Historiker Norbert Frei die Frage, wie in Deutschland an den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Besatzungspolitik erinnert werden sollte. Sein Plädoyer: Ein Denkmal und der Fokus auf ein Land seien zu wenig. Es bedürfe einer Dokumentations- und Bildungsstätte, die umfassend über die deutsche Besatzungspolitik in ganz Europa informiert.
An einem solchen Ort könne stärker auch über die bislang eher wenig beleuchtete brutale Besatzungspolitik im Osten aufgeklärt werden, in Polen wie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – Ukraine, Weißrussland, baltische Länder und Russland.
Andrej Sorokin, Leiter des Russischen Staatsarchivs für sozio-politische Geschichte, ging auf die Erinnerung in Europa ein. Die von den neuen östlichen EU-Mitgliedern befeuerte Debatte über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs habe mit der EU-Resolution zur Erinnerungspolitik von 2019 einen Höhepunkt erreicht. Diese erkläre die UdSSR zusammen mit Nazideutschland zum Hauptschuldigen für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Sorokin plädierte für eine Entpolitisierung des Dialogs über die europäische Vergangenheit und eine gemeinsame wissenschaftliche Aufarbeitung anhand der historischen Quellen. Die Archive böten einen unvoreingenommenen Blick auf die Geschichte. Russland mache seit den neunziger Jahren in großem Umfang Materialien zugänglich.
Irina Schtscherbakowa von der Gesellschaft „Memorial“ berichtete, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Russland in den letzten Jahren ideologisch aufgeladen werde. Das beeinträchtige die Geschichtsvermittlung: Schülern und Jugendlichen falle es schwer, sich zwischen den oft tragischen Erfahrungen der Familie und dem patriotischen Narrativ zu orientieren. Gute Möglichkeiten böten Internetprojekte wie „Prozhito“, die Geschichte anhand von Tagebüchern und persönlichen Dokumenten nachvollziehbar machen.
Aktuell sei die historische Bildungsarbeit, wie sie von Memorial seit 20 Jahren mit einem Schülerwettbewerb geleistet werde, durch neue Gesetzesinitiativen gefährdet.
Opfer nicht vergessen
Heike Winkel vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge stellte das 2016 von den Außenministern Steinmeier und Lawrow initiierte gemeinsame Projekt zur Klärung der Schicksale von deutschen und sowjetischen Kriegsgefangenen vor. Viele Namen und Biographien seien bis heute unbekannt. Der deutsche Umgang mit den über fünf Millionen sowjetischen Gefangenen, von denen mehr als drei Millionen zu Tode kamen, zähle zu den größten Verbrechen des Krieges.
In dem auf deutscher Seite vom Volksbund, auf russischer von einer Abteilung im Verteidigungsministerium getragenen Projekt würden Quellen in deutschen, russischen und internationalen Archiven digital erschlossen. Dies sei ein Beitrag zur „nachholenden Erinnerung“, der die in beiden Ländern lange Zeit vernachlässigten Opfergruppen stärker in den Fokus der Gesellschaften rücke.
Ewelina Rudenko präsentierte das Memorial-Programm „Opfer zweier Diktaturen“, das über die Geschichte der drei Millionen sowjetischen Ostarbeiter aufklärt. Im Krieg zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, nach der Rückkehr als Vaterlandsverräter diskreditiert, sind die Ostarbeiter im kollektiven Gedächtnis der russischen Gesellschaft bis heute kaum präsent.
Um diese Opfergruppe ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, habe die Gesellschaft Memorial ihre einschlägigen Archive mit Unterlagen, Fotos und Interviews online zugänglich gemacht und präsentiere die Schicksale der Ostarbeiter nicht nur in Buch und Ausstellung, sondern auch in modernen Formaten wie Podcast und Trickfilm.
Entfremdung verhindern
Der Ehrenvorsitzende der Stiftung West-Östliche Begegnungen, Helmut Domke, warb für eine gemeinsame Aufarbeitung der europäischen Gewaltgeschichte. Mit einer „dialogischen Erinnerungskultur“ (Aleida Assmann) könnten Partnerstädte, Museen oder NGOs einer Instrumentalisierung der Geschichte und einer Entfremdung von Deutschen und Russen entgegenwirken.
Gute Beispiele für gemeinsames Erinnern seien die Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge oder der Deutsch-Russischen Historikerkommission. Doch müsste diese viel stärker in die Öffentlichkeit getragen werden. Die Versöhnung im Nachkriegseuropa sei ein gemeinsamer Wert, den die Zivilgesellschaften nicht aus dem Blick verlieren dürften.