Digitalisierung: Good bye, Uni
Arbeitgeber akzeptieren zunehmend digitale Bildungsprogramme mit Zertifizierungen von Anbietern als Äquivalent für einen Hochschulabschluss
Auch die Arbeitsgruppe Bildung und Wissenschaft beschäftigte sich mit der „Auswirkung der COVID-19-Pandemie“. In der Diskussion über den durch die Pandemie verursachten Wandel des Hochschulbetriebs kristallisierte sich am 22. November ein Spannungsfeld zwischen den Polen klassische und digitale Universität heraus: auf der einen Seite der Auftrag, den Menschen zu bilden und der persönliche Austausch, auf der anderen die Vermittlung von Lerninhalten durch neue Technologien und die virtuelle Kommunikation. Für die deutsch-russische Wissenschaftskooperation wurde der verstärkte Online-Austausch in der Pandemie übereinstimmend als große Chance gewertet.
Der Vorsitzende des Rektorenrats der staatlichen Universitäten in St. Petersburg und im Gebiet Leningrad, Alexej Demidow, erläuterte die Arbeit des Rektorenrats und die Situation der Hochschulen während der Pandemie. In Stadt und Gebiet hätten diese soweit möglich auf Online-Unterricht umgestellt, zum Teil finde auch Präsenzunterricht statt.
Clemens Renker von der Hochschule Zittau-Görlitz konstatierte, dass die Pandemie die Digitalisierung der Lehre erzwungen habe. Für die Zukunft sei nun eine Tendenz zum Online-Format festzustellen. Leitlinie könne sein: „So viel Präsenz-Lehre wie möglich, so viel Online wie nötig.“
Die Digitalisierung eröffne große Chancen für die internationale und die deutsch-russische Kooperation. Um diese zu realisieren, müssten die Lehrkonzepte digitalaffin gestaltet werden – einfacher und unterhaltsamer, mit Räumen für den virtuellen Austausch. Die Digitalisierung müsse permanent finanziert, Universitäten, Lehrende und Studierende mit adäquater IT ausgestattet sein. Deutsche und russische Universitäten sollten sich viel stärker vernetzen. Hochschule müsse „glo-kal“ gedacht werden: lokal, in der Heimat verwurzelt und gleichzeitig global vernetzt. Die Pandemie eröffne die historische Chance, die Freiheit der Wissenschaft von Ort und Zeit neu zu leben.
Marina Lawrikowa von der Staatlichen Universität St. Petersburg schilderte, wie infolge des pandemiebedingten Online-Unterrichts die Nachfrage der Hochschulen und Schulen nach methodischer Unterstützung für digitale Anwendungen zunehme. Vielen Lehrenden fehlten Kenntnisse zu IT und digitaler Bildung. Die Universität St. Petersburg stelle Video-Erklärmaterialien zu Plattformen wie Zoom und Webinare zur digitalen Pädagogik zur Verfügung.
Massive Open Online Courses (MOOCs) seien mittlerweile stark nachgefragt und an vielen Hochschulen des Landes Teil des Lehrprogramms. Die Universität St. Petersburg biete sowohl Kurse auf der russischen Plattform „Offene Bildung“ als auch auf der internationalen Plattform „Coursera“ an.
Der Präsident der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Andreas Zaby, berichtete, dass in Berlin die digitale Lehre in der Pandemie ausgebaut und massiv in Personal sowie IT investiert worden sei (aus Gründen der Datensicherheit ausschließlich Open Source Systeme). Die Umstellung auf Online-Lehre habe nicht zu mehr Studienabbrüchen oder längeren Studienzeiten geführt. Allerdings sei die Mobilität der Studierenden und Lehrenden eingebrochen.
Als digitale Alternative zum Auslandsaufenthalt würden Online-Kollaborationen genutzt. Solche „global classrooms“ könnten auch künftig den Austausch ergänzen.
Zaby wies abschließend darauf hin, dass das Modell der Präsenzhochschule durch neue digitale Angebote unter Druck gerate. Konzerne wie Google böten Bildungsprogramme mit Zertifizierungen an, die zunehmend von Arbeitgebern in aller Welt als Äquivalent für einen Hochschulabschluss akzeptiert würden.
Der Psychologe Jurij Sintschenko von der Moskauer Lomonossow-Universität erläuterte die gemeinsam mit weiteren Hochschulen und Institutionen durchgeführte Studie „Issledujem doma!“ (Forschen wir zu Hause!). Die Studie, an der mehr als 100 000 Personen teilgenommen haben, untersuche die psychologischen Implikationen der Pandemie-Situation. Erforscht worden seien die Dynamiken von Stress, Angst und Depression in der Gesellschaft und die psychische Konstitution der Teilnehmer.
Aufgrund der gewonnenen Daten seien auch Empfehlungen für den Online-Unterricht an Schulen und Hochschulen erarbeitet worden, mit dem Ziel, die negativen psychologischen Folgen von Distanzunterricht und sozialer Isolation zu mindern. Empfehlungen seien auch für die in der Corona-Krise stark belasteten Ärzte und das medizinische Personal erstellt worden.
Dmitrij Wasilenko von der St. Petersburger Staatlichen Wirtschaftsuniversität erläuterte die Auswirkungen der Pandemie auf die internationale Mobilität von Studentinnen und Studenten. Die Krise habe die auch zuvor schon vorhandenen Hemmnisse für einen Auslandsaufenthalt vergrößert: Die Motivation, ins Ausland zu gehen, sei gesunken, die Finanzierung sei schwieriger geworden.
Wasilenko führte eine finnische Studie an, nach der Arbeitgeber Auslandserfahrung nicht als maßgebliches Einstellungskriterium werteten, sehr wohl aber aus dieser Erfahrung entwickelte Kompetenzen wie Neugierde und Resilienz schätzten. Die akademische Mobilität solle stärker auf diese Kompetenzen hin ausgerichtet werden.
Für die Zeit nach der Krise sei ein starker Anstieg der Mobilität zu erwarten. Der Bedarf an finanzieller Unterstützung dafür werde steigen, Auslandsaufenthalte würden kürzer und zielgerichteter werden.
Der deutsche Tagungsleiter Wilfried Bergmann, Mitglied des Senats der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, hob die Bedeutung der deutsch-russischen Wissenschaftskooperation hervor, die auch in schwieriger Situation weiter ausgebaut werden müsse.