Gorbatschow: Russlands demokratischster Staatschef

Sein Glaube an Frieden, gegenseitige Verständigung, Dialog und Demokratie blieb unerschütterlich

Gorbatschow 2010
Michail Gorbatschow (2. März 1931 bis 30. August 2022)

„Wir alle brauchen Perestroika“, lautet ein oft gehörter Satz von Michail Gorbatschow. Der letzte Staatschef der Sowjetunion lebte nach diesem Credo. Nachdem er 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei gewählt worden und sein Programm der Umstrukturierung und Glasnost (Offenheit) eingeleitet hatte, änderte er sogar seinen Amtstitel und ließ sich lieber Präsident nennen.

Der erste und letzte sowjetische Präsident war das demokratischste Staatsoberhaupt, das Russland (das eigentliche Zentrum der UdSSR) zumindest in den letzten hundert Jahren und vermutlich überhaupt je hatte. Und auch in den 31 Jahren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieb sein Glaube an Frieden, gegenseitige Verständigung, Dialog und Demokratie unerschütterlich.

Auf der Grundlage dieser Werte beendete Gorbatschow den jahrzehntelangen verheerenden Krieg in Afghanistan und verwendete 1993 das Preisgeld, das er 1990 für den Friedensnobelpreis erhielt, für die Gründung der Nowaja Gaseta. Die Zeitung wurde zum wichtigsten Leitmedium für Russlands Demokraten und ihr Chefredakteur Dmitri Muratow wurde letztes Jahr selbst mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Genau wie Dutzende andere unabhängige Medien war die Nowaja Gaseta kurz nach Beginn von Putins „spezieller Militäroperation“ in der Ukraine gezwungen, ihre Arbeit einzustellen.

Wenig Anerkennung in Russland

Auch Gorbatschow hat für seine Überzeugungen gelitten. Wäre er 1991 gestorben, hätten man sich damals womöglich mehr Mühe gegeben, seinen Platz in der Geschichte einzuordnen. Dem lebenden Gorbatschow schlug jedoch Animosität und verlegenes Schweigen entgegen. Über Jahre wurden ihm seine Leistungen abgesprochen, wenn er denn überhaupt erwähnt wurde.

Seitdem er die Perestroika eingeleitet hatte, die heute viele Russen – einschließlich Putin – für eine Katastrophe halten, war Gorbatschow Kritik aus allen Richtungen ausgesetzt: als zu radikal, zu konservativ oder zu schwach. Er aber versteckte sich nie vor dem prüfenden Blick der Öffentlichkeit. Auch als er schon durch Alter und Krankheit geschwächt war, schätzte er diesen Blick noch als Direktor der Gorbatschow-Stiftung, deren Arbeit seine Werte verkörpert.

Wie Putin hätte es auch Gorbatschow vorgezogen, die UdSSR nicht untergehen zu sehen. Aber anders als Putin schwebte ihm dabei eine reformierte, demokratische Föderation vor und keine Union von Nationen, die sich widerwillig der Herrschaft des Kremls beugen.

Im Jahr 2000 erklärte mir Gorbatschow, warum er 1989 keine Panzer nach Deutschland geschickt hat, um den Fall der Berliner Mauer zu verhindern. Er sagte: „Wir sollten souveränen Ländern nicht ihren Lebensstil vorschreiben.“

An der Antipathie, die ihm nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entgegenschlug, war Gorbatschow nicht ganz unschuldig. Reformern fehlt oft die Geduld und sein Plan für weitreichenden wirtschaftliche Veränderungen in nur 500 Tagen war ebenso utopisch wie Chruschtschows Versprechen von 1961, in 20 Jahren den „vollständigen Kommunismus“ zu erreichen.

Anders als andere russische Führungsfiguren hat Gorbatschow allerdings Verantwortung für die Folgen seiner Entscheidungen übernommen. Das taten Chruschtschow und Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin (zufällig die einzigen anderen russischen Staatschefs, die vor ihrem Tod zum Rücktritt gezwungen wurden oder freiwillig zurücktraten) zwar auch. Sie aber zogen sich vollkommen aus der Öffentlichkeit zurück und bereuten ihre Versäumnisse nur im Privaten.

Gorbatschow jedoch leistete einen eigenen Beitrag zu der kritischen Auseinandersetzung zahlreiche Historiker, Politiker, früherer Genossen und der Öffentlichkeit mit seiner Amtszeit. Ironischerweise schaufelte er damit noch zu Lebzeiten sein Grab als historische Persönlichkeit.

Das gescheiterte Comeback 1996

In Russland sind sich alle einig, dass Gorbatschows Reformen durch seine eigene Schuld ihre Ziele verfehlten oder scheiterten. Im Ausland wird sein Vermächtnis – zurecht – anders wahrgenommen. Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und das erste dieses Jahrhunderts hat die florierende Globalisierung vor allem Gorbatschows Entschlossenheit zu verdanken, sich der Welt zu öffnen, ein „neues politisches Denken“ zu begründen und Russlands übliches Misstrauen und seine Feindseligkeit gegenüber dem Rest der Welt zu überwinden.

Als Mann von Gewissen, der seine Amtszeit im Kreml später kritisch hinterfragte, wollte Gorbatschow die wirtschaftliche Not vieler Menschen, die politische Instabilität und andere Probleme angehen, für die er sich verantwortlich fühlte. Trotz der geringen Erfolgsaussichten machte seine weltfremde Kandidatur für das Präsidentenamt im Jahr 1996 die Stimmabgabe zumindest für einige Russen (wie mich) wieder interessant. Jelzin Kandidatur in diesem Jahr, in dem das Land tiefer im Chaos versunken war als je zu Zeiten der Sowjetunion, inspirierte nur sehr wenige.

Es wäre schade gewesen, wäre ein derart aufregendes Ereignis (Präsidentschaftswahlen waren in Russland noch etwas Neues und diese Neuheit versetzte das Land in Feierlaune) nur eine weitere Gelegenheit gewesen, der allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Ich hatte nie geglaubt, Gorbatschow könne wirklich gewinnen oder würde ein guter Präsident werden. Aber er war der erste Präsident der russischen Geschichte, dem es gelungen ist, nach Jahren, in denen alles getan wurde, um ihn zu verdrängen, als Kandidat zurückzukommen und sowohl als früherer Staatschef als auch als Stimme der Zukunft aufzutreten.

Gorbatschow ging weiter als Chruschtschow

Nach seinem Rauswurf aus dem Kreml konnte Chruschtschow von so etwas nur träumen. Vor seinem Tod und nachdem er lange über die Vergangenheit nachgedachte hatte, kam mein Urgroßvater zu dem Schluss, dass seine größte Leistung nicht das „Tauwetter“ war, also die Offenlegung von Stalins Verbrechen und eine gewisse politische und kulturelle Liberalisierung, sondern in Wirklichkeit sein eigener Sturz mittels einer schlichten Abstimmung.

Er wurde weder zum „Feind des Volks“ erklärt noch in den Gulag verbannt, sondern lediglich in den „ehrenvollen Ruhestand“ in seiner Datscha gezwungen. Auch wurde er nach seinem politischen Tod nicht liquidiert, wie das in den 1930er-Jahren sicher der Fall gewesen wäre. Trotzdem bereute Chruschtschow die eigene Mutlosigkeit und wünschte, er hätte das Tauwetter noch weiter vorangetrieben und auch den politischen Tod freiwillig gemacht.

Fünfundzwanzig Jahre später nahm die russische Geschichte endlich diese liberale Wendung. Tod und Verschwinden waren nicht mehr die einzigen Optionen. Man konnte sich für den politischen Tod entscheiden.

Gorbatschow hatte 1996 vielleicht keine Chance auf den Sieg, aber zumindest konnte er sich zu Wahl stellen. Perestroika und Glasnost, die heute so geschmäht werden, machten dies unter Jelzin möglich, der zwar kein Fan seines sowjetischen Vorgängers, jedoch demokratisch genug war, um den Geist der Veränderung am Leben zu erhalten.

Angesichts des Angriffs auf die Ukraine und der Vernichtung vieler Medien, die durch Glasnost erst möglich wurden, scheint Gorbatschows Vermächtnis ausgelöscht zu sein. Gorbatschows selbst jedoch war optimistischer. Er bezeichnete sich selbst oft als Produkt von Chruschtschows Tauwetter und würde uns sicher in der Überzeugung bestärken, dass in Russland eines Tages eine neue Führung an die Macht kommen wird, die eine neue Perestroika anstößt und sich wieder an den Werten orientiert, denen er sein ganzes Leben gewidmet hat.

Copyright: Project Syndicate 2022.

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