Noch ist Russland nicht verloren
Zukunftsprognosen und Realität: Anmerkungen zum 30. Jahrestag der Auflösung der UdSSR
Bei der Betrachtung der Vorgänge, die vor 30 Jahren zur Auflösung der Sowjetunion führten, befinden wir uns immer noch in der Periode des Staunens. Dies nicht zuletzt deshalb, weil es einige Jahre zuvor nur wenige wahrnehmbare Signale für den baldigen Zerfall des Sowjetreichs gegeben hatte. Auch viele Experten, wenn man von einigen Ausnahmen absieht, von denen hier noch die Rede sein wird, hielten den sowjetischen Koloss für saturiert und im Grunde für unbezwingbar.
Wie kam es dann zur Auflösung des Sowjetimperiums, das noch kurz zuvor gemeinsam mit den USA die 1945 entstandene bipolare Welt entscheidend prägte?
Die Auflösung des Sowjetimperiums erfolgte nicht durch irgendeine „Laune der Geschichte“. Sie wurde durch tiefgreifende Prozesse ausgelöst und hatte sich lange angebahnt. Zwar ist es den Bolschewiki etwa 1920 (nach dem gewonnenen Bürgerkrieg) gelungen, das 1917/18 zusammengebrochene russische Imperium weitgehend wiederherzustellen, indes wurde das von ihnen neu errichtete imperiale Gebäude von manchen Beobachtern keineswegs als stabil angesehen.
Der Vordenker der 1921 im russischen Exil entstandenen Eurasierbewegung, Nikolai Trubetzkoy, schrieb 1927: Die Bolschewiki hätten erkannt, dass die Alleinherrschaft der Russen im Russischen Reich endgültig vorbei sei. Sie hätten auch einen neuen Träger der russischen Einheit gefunden: anstelle des russischen Volkes – das Proletariat.
Dies sei aber nur eine scheinbare Lösung, hob Trubetzkoy hervor. Das Klassenprinzip schüre nur Klassenhass und untergrabe die Einheit Russlands. Abgesehen davon seien nationale Emotionen bei den Arbeitern in der Regel stärker ausgeprägt als Klassensolidarität.
Georgi Fedotows Prognosen
Zwanzig Jahre später setzte der russische Exilhistoriker Georgi Fedotow diese Gedankengänge fort. Ausgerechnet im Jahr 1947, als Stalin es vermochte, die imperialen Positionen der Sowjetunion in einem bis dahin ungekannten Ausmaß zu festigen (dafür verzeihen viele russische Nationalisten dem Kreml-Diktator sowohl die Kollektivierung der Landwirtschaft als auch den Großen Terror der Jahre 1936 – 1938) – also ausgerechnet in dieser Konstellation –, schrieb Fedotow Folgendes über die Nationalitätenfrage in der UdSSR: Die überwältigende Mehrheit der Russen hasse den Bolschewismus genauso wie dies die nichtrussischen Völker der Sowjetunion täten.
Dieser gemeinsame Hass erzeuge aber kein Gemeinschaftsgefühl innerhalb des Reichs. Alle nationalen Minderheiten verknüpften die Ablehnung des Bolschewismus mit der Ablehnung Russlands. Nicht zuletzt aus diesen Gründen plädiert Fedotow für die Befreiung Russlands von der imperialen Last. Dies werde nicht das Ende Russlands bedeuten, so Fedotow:
„Großrussland (der russische Kern des Reichs – L.L.), (vielleicht) zusammen mit Weißrussland und mit Sibirien, stellt immer noch ein gewaltiges und das bevölkerungsreichste Land Europas dar. Zwar wird Russland die Kohlevorkommen in Donezk und das Erdöl von Baku verlieren – aber Frankreich, Deutschland und viele andere Völker haben gar kein Öl …. Das Trauma von dem Verlust der früheren Größe wird dadurch abgemildert, dass kein anderer Rivale Russlands in Europa den von ihm geräumten Platz einnehmen wird. Alle alten Imperien werden auch verschwinden … Von den militärischen und polizeilichen Sorgen befreit, wird sich Russland seinen inneren Problemen widmen können, vor allem dem Aufbau … einer freien, sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung.“
Es ist erstaunlich, wie genau Fedotow im Jahre 1947 die künftige territoriale Gestalt der 1991 entstandenen Russischen Föderation voraussagte. Zwar hat er Weißrussland als Bestandteil des postsowjetischen Russland genannt, diese Aussage wurde von ihm allerdings durch das Wörtchen „vielleicht“ relativiert.
Auch in einem anderen Punkt sollte sich die Prognose Fedotows buchstabengetreu verwirklichen, nämlich als er sagte, dass die Republiken der UdSSR sich bei ihrem Austritt aus der Sowjetföderation auf den entsprechenden Artikel der Sowjetverfassung berufen würden. Dies ungeachtet der Tatsache, dass dieser Artikel zur Zeit der Entstehung der sowjetischen Verfassungen (1924, 1936, 1977) lediglich ein Lippenbekenntnis darstellte. 1991 sollte aber die Verfassungstheorie zur Verfassungswirklichkeit werden.
Juliusz Mieroszewski über die Zukunft der UdSSR
Und noch eine Prognose darf in diesem Zusammenhang nicht fehlen. Sie stammt aus dem Jahre 1974, also aus einer Zeit, in der das Sowjetimperium in den Augen vieler Beobachter, wenn man von einigen Ausnahmen absieht, als endgültig saturiert, ja im Grunde als unbezwingbar galt.
Ausgerechnet in dieser Periode der scheinbar unerschütterlichen Stabilität des Breschnew-Reichs schreibt der scharfsinnige polnische Exilpublizist Julius Mieroszewski Folgendes: In ihrer gesellschaftlichen Entwicklung stelle Sowjetrussland eine „verspätete Nation“, ein archaisches Gebilde dar, das sich von der Moderne abgekoppelt habe. Man könne sich sowohl gegen China als auch gegen die USA erfolgreich wehren, aber nicht gegen den Zeitgeist. „Der Kampf gegen den Zeitgeist, gegen den Fortschritt ist aussichtslos. Die Ablehnung der unentbehrlichen, (grundlegenden) Reformen schwächt auch die stärkste Regierung und führt zu ihrem Untergang.“
Und in der Tat, gerade an den von Mieroszewski geschilderten Problemen sollte das Breschnew-Regime letztendlich scheitern. Im Zeitalter der Elektronik und der grenzüberschreitenden Kommunikation verwandelte sich die damalige Sowjetunion in einen lebenden Anachronismus.
Die herrschende Bürokratie war zwar an der größeren Effektivität der Wirtschaft interessiert, zugleich bemühte sie sich aber auch um eine lückenlose Kontrolle des gesamten wirtschaftlichen und politischen Lebens. Sie wollte alles reglementieren, alle disziplinieren und erstickte dadurch die Eigeninitiative mancher ehrgeiziger Betriebsleiter.
Zusätzlich wurde dieses System durch die Erosion des Glaubens an die kommunistische Ideologie beziehungsweise an den proletarischen Internationalismus gefährdet, die das bestehende System legitimierte und die wichtigste einigende Klammer des Sowjetreichs darstellte. Kaum jemand nahm damals diese Ideale ernst, weder die Herrscher noch die Beherrschten. Man täuschte den Glauben an die kommunistische „lichte Zukunft“ in der Regel nur vor.
Die Schwächen der Konvergenztheorie
In der Erosion des Glaubens an die kommunistische Ideologie, die in der Breschnew-Zeit zu beobachten war, sahen damals viele Beobachter keine Gefahr für die Stabilität des kommunistischen Regimes. Im Gegenteil, einige gingen sogar davon aus, dass der Kommunismus nun infolge der Sachzwänge der Moderne immer technokratischer und pragmatischer werde und damit den modernen westlichen Industriegesellschaften immer ähnlicher. So wurde die sogenannte Konvergenztheorie geboren.
Als der sowjetische Dissident Andrei Amalrik 1969 die These aufstellte, die Sowjetunion werde das Jahr 1984 nicht erleben, galt dies in Ost und West gleichermaßen als unseriös. 1981 schrieb der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung Reinhard Meier Folgendes dazu: „Nach längeren Moskau-Erfahrungen … halte ich die Prognose von einem baldigen Kollaps der Sowjetmacht für verfehlt.“ Das Buchkapitel, in dem diese These aufgestellt wurde, trug den Titel „Die Sowjetunion wird das Jahr 2000 erleben“.
Nun aber zurück zur Konvergenztheorie, die ebenfalls von der Saturiertheit der „Sowjetmacht“ ausging. Ihre Verfechter ließen indes die Tatsache außer Acht, dass es sich bei den kommunistischen Regimen um Ideokratien handelte, deren Herzstück das ausgeklügelte ideologische System darstellte, das ununterbrochen an die neuen Erfordernisse der Zeit angepasst werden musste. Dies hat auch Michail Gorbatschow versucht, als er dem Breschnewschen Immobilismus den Kampf ansagte, und das bestehende System durch die Rückkehr zu seinen leninistischen Ursprüngen erneuern wollte.
Es stellte sich aber alsbald heraus, dass eine moderne, pluralistische Gesellschaft mit den leninistischen Prinzipien nicht zu vereinbaren war, denn die Missachtung gegenüber den elementarsten demokratischen Spielregeln gehörte zum Wesen des Leninschen Systems. Aus all diesen Gründen begannen die Verfechter der Modernisierung und Demokratisierung der UdSSR am Lenin-Denkmal und damit auch an den legitimatorischen Grundlagen des Systems zu rütteln.
Letztendlich war auch Gorbatschow selbst gezwungen, sich an diesen eigendynamischen Prozess der Abkehr vom Unfehlbarkeitsdogma der kommunistischen Doktrin anzupassen, als er im März 1990 auf die im 6. Artikel der Breschnewschen Verfassung verankerte führende Rolle der Partei im Land verzichtete. Und nun wurde für alle sichtbar, dass die kommunistische Ideologie in den Augen der Bevölkerungsmehrheit ähnlich diskreditiert worden war, wie die Zarenidee zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Parallelen zur Dämmerung des Zarenreichs
Der Sowjetunion drohte nun das gleiche Schicksal wie dem Zarenreich im Jahr 1917. Denn die damalige Auflösung des zarischen Regimes fand in erster Linie deshalb statt, weil große Teile des russischen Staatsvolks sich von dem damals herrschenden System abwandten. Die erschreckende Leere, die den Zarenthron sowohl während der Revolution von 1905 als auch im Februar 1917 umgab, zeigte, dass die Romanow-Dynastie ihre Verwurzelung bei den eigenen Untertanen weitgehend verloren hatte. Der Zarenglaube der russischen Volksschichten zerbröckelte und wurde zunehmend durch den Glauben an eine Revolution abgelöst.
Viele Verfechter der bestehenden Ordnung versuchten damals, die revolutionäre Gefahr – und dies erinnert an die Endphase des Sowjetreichs – mit Hilfe chauvinistischer Ideen zu bekämpfen. Sergei Witte, der zu den bedeutendsten Staatsmännern im vorrevolutionären Russland zählte, bezichtigte den letzten russischen Zaren allzu großer Sympathien für die extreme russische Rechte. Witte hielt diesen Kurs für verderblich.
Und in der Tat, der Flirt mit den Chauvinisten hat die Monarchie nicht zu der erhofften Volksnähe geführt. Die russische Bauernschaft – die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung des Reichs – war für die nationalistische Ideologie nicht allzu stark empfänglich. Der ungelösten Agrarfrage schenkte sie viel mehr Aufmerksamkeit als der nationalen Größe Russlands.
Der nationalistische Rausch, der viele europäische Völker nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfasste, beschränkte sich in Russland im Wesentlichen nur auf die Bildungsschicht. Die Unterschichten blieben davon kaum berührt.
Mit Euphorie begrüßten sie aber 1917 die Revolution. Die militanten russischen Nationalisten spielten bei den Ereignissen von 1917 so gut wie keine Rolle.
Der Kampf: Was soll auf den Kommunismus folgen?
Der russische Nationalismus erlitt also zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei seinem Versuch, das Zarenregime zu beerben und das Imperium zu revitalisieren, ein totales Fiasko. Siebzig Jahre später, in der Stunde der Dämmerung des Sowjetreichs, meldete er erneut seinen Anspruch an, die Doktrin, die bis dahin das Imperium zementierte, abzulösen, und trat als Alternative auf.
In der russischen Öffentlichkeit entbrannte nun ein harter Kampf um die Nachfolge der diskreditierten kommunistischen Idee. Er wurde mit einer solchen Schärfe geführt, dass man ihm in Moskau sogar die Bezeichnung des „geistigen Bürgerkriegs“ verlieh.
Bei diesem Kampf um die geistige Hegemonie im Land hatten die russischen Nationalisten erneut, ähnlich wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mächtige Konkurrenten. Diesmal waren es aber nicht revolutionäre Utopisten, sondern Reformer, die Russland, wie sie sagten, „normalisieren und nach Europa zurückführen“ wollten. Nicht der hegemonialen Stellung Russlands in Europa und in der Welt, sondern seiner demokratischen Erneuerung maßen sie absolute Priorität bei.
Damit verstießen sie aber nach Ansicht der imperial gesinnten Gruppierungen gegen die fundamentalen Interessen des Lands. Einer der führenden Ideologen des „national-patriotischen“ Lagers, Alexander Prochanow, schrieb 1990: „Zum ersten Mal in der Geschichte unseres Lands, ja in der Weltgeschichte, sehen wir, wie eine Macht nicht infolge von außenpolitischen Rückschlägen oder von Naturkatastrophen zerfällt, sondern infolge der zielstrebigen Handlungen ihrer Führer.“
Trotz ihres leidenschaftlichen Engagements für die sogenannten russischen Interessen vermochten indes die militanten Verfechter der imperialen Idee, ähnlich wie ihre Vorgänger am Vorabend der bolschewistischen Revolution, keine überragenden Erfolge zu erzielen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat ihnen erneut eine Abfuhr erteilt.
Dies zeigte sich besonders deutlich bei den russischen Präsidentschaftswahlen vom 12. Juni 1991, bei denen Boris Jelzin auf Anhieb mehr als 57 Prozent der Stimmen erhielt. Eine Nation, die in den Augen vieler Beobachter als die imperiale Nation par excellence gilt, wählte also zu ihrem ersten demokratisch legitimierten Staatsoberhaupt einen Politiker, der sich damals vom imperialen Gedanken expressis verbis distanzierte.
Die Hegemonialstrukturen des Sowjetreichs erhielten nun einen Riss an der empfindlichsten Stelle – im Zentrum. Von diesem Schlag konnten sie sich nicht mehr erholen.
Seit dem Tod Stalins hatte es an der westlichen Peripherie des Moskauer Imperiums immer wieder Versuche gegeben, die sowjetische Hegemonie abzuschütteln – Ost-Berlin, Budapest, Prag, Warschau. Alle diese Versuche scheiterten; denn Moskau stellte den ruhenden Pol des Imperiums dar. Mit ihm konnten die Dogmatiker in Ost-Berlin, in Budapest oder in Prag immer rechnen, wenn sie innere Krisen aus eigener Kraft nicht bewältigen konnten.
Während der Perestroika geriet aber dieser Pol selbst in Bewegung. Der Verzicht Gorbatschows auf die Breschnew-Doktrin stellte die wichtigste Voraussetzung für den Zusammenbruch des „äußeren Sowjetimperiums“ – des Ostblocks – dar. Der Sieg der russischen Demokraten über die Moskauer Putschisten vom August 1991 leitete die Auflösung des „inneren Imperiums“ – der UdSSR – ein.
Wie Weimar: die russische Dolchstoßlegende
Viele Verfechter des imperialen Gedankens in Russland betrachten das Treffen der Präsidenten Russlands, der Ukraine und des Vorsitzenden des Obersten Sowjets Weißrusslands im weißrussischen Viskuli vom Dezember 1991, das die Auflösung der Sowjetunion beschlossen hatte, als heimtückische Verschwörung der Feinde des russischen Reichs, die im Auftrag des Westens Russland als Großmacht zerstören wollten. Diese Dolchstoßlegende weist erstaunliche Ähnlichkeiten mit derjenigen auf, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstand und die politische Kultur der Weimarer Republik so stark vergiftete.
Die Tatsache, dass das Sowjetreich wenig Chancen hatte, die nach dem gescheiterten Putsch vom August 1991 entmachtete und diskreditierte KPdSU zu überleben, wird von den Kritikern des Abkommens vom Dezember 1991 unterschätzt. Denn die Ideologie des proletarischen Internationalismus stellte die wohl wichtigste legitimatorische Grundlage der UdSSR dar. Nach der Ausschaltung der KPdSU, die diese Ideologie verkörperte, verschwand die im Grunde wichtigste Klammer, die die Union bis dahin zusammengehalten hatte.
Kurz nach der Entmachtung der KPdSU begannen allerdings die russischen Reformer, die das „Wunder“ der friedlichen Revolutionen in Osteuropa und die Überwindung der europäischen Spaltung im Wesentlichen ermöglicht hatten, die Initiative im innerrussischen Diskurs zu verlieren. Der Ausbruch Russlands aus einer totalitären Sackgasse, in die die Bolschewiki das Land 1917 hineingeführt hatten, erwies sich als ein äußerst schwieriges Unterfangen.
Wie die historische Erfahrung zeigt, ist die Überwindung vom totalitären Erbe ohne massive Unterstützung von außen schwer durchführbar. Dass der westliche Teil Deutschlands nach dem Zivilisationsbruch von 1933 – 1945 relativ schnell stabile demokratische Strukturen aufbauen konnte, war mit dem Marshall-Plan und mit dem sonstigen Beistand der freien Welt eng verknüpft.
Auch russische Reformer hatten zu Beginn der 1990er-Jahre davon geträumt, dass der Westen die russischen Transformationsprozesse mit einer Art Marshall-Plan unterstützen werde. Darauf weist z. B. der britisch-russische Historiker Vladislav Zubok in seinem vor kurzem erschienenen Artikel in der Zeitschrift Rossija v globalnoj politike (Russland in der globalen Politik) hin.
Besonders ausgeprägt sei diese Hoffnung beim Außenminister Andrei Kosyrew und beim Finanzminister Jegor Gaidar gewesen. Dennoch sei eine Neuauflage des „Marshall-Plans“ zur Unterstützung der russischen Transformationsprozesse für den Westen nicht in Frage gekommen, so Zubok. Auch die damals bekundete Bereitschaft der russischen Führung, der NATO beizutreten, habe im Westen keine Begeisterung ausgelöst, setzt Zubok seine Ausführungen fort.
Als Jelzins engster Mitarbeiter, Gennadij Burbulis, diesen Vorschlag des russischen Präsidenten den führenden Vertretern der NATO und der EU am 12. Dezember 1991 bei einem Treffen in Paris übermittelte, hätten seine westlichen Gesprächspartner darauf sehr skeptisch reagiert: „(Russland) ist ein so großes Land, dass ich mir eine Konfiguration, in der dies geschehen kann, schwer vorstellen kann“, zitiert Burbulis die Worte des damaligen Generalsekretärs der NATO Manfred Wörner.
Die petrinische Revolution und ihre Folgen
Bei der Betrachtung dieser Vorgänge wäre eine historische Parallele vielleicht angebracht. Russland erlebte bekanntlich schon mehrmals umwälzende Transformationsprozesse, die mit der Hinwendung zum Westen verbunden waren. Paradigmatisch hierfür war die petrinische Revolution von oben zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die zum Eintritt Russlands ins europäische „Konzert der Mächte“ führte.
Die gewaltige territoriale Ausdehnung des Lands stellte damals für die Einbindung Russlands in die europäischen Strukturen übrigens kein Hindernis dar. Die damaligen russischen Herrscher, vor allem Peter der Große und Katharina die Große, wurden zu Lieblingen der westlichen Aufklärer. Ihr Unternehmen – ein aus der Sicht des Westens unterentwickeltes Land der europäischen Kultur anzupassen – wurde allgemein bewundert.
Aber auch Kritiker des petrinischen Werks meldeten sich damals zu Wort. Jean-Jacques Rousseau warf in seinem „Gesellschaftsvertrag“ (1762) dem Zaren Folgendes vor: „Er hat gesehen, dass sein Volk ungesittet war; er hat nicht gesehen, dass es für die Gesittung noch nicht reif war; er wollte es sittlich machen, als es nur der kriegerischen Zucht bedurfte.“
Und dann entwickelte Rousseau folgende düstere Vision: „Das Russische Reich möchte Europa unterjochen und wird selbst unterjocht werden. Seine Untertanen oder Nachbarn, die Tataren, werden seine und unsere Herren sein. Dieser Umschwung scheint mir unausweichlich. Die Fürsten Europas arbeiten mit vereinten Kräften, ihn zu beschleunigen.“
Diese Prognose hatte mit der politischen Wirklichkeit nur wenig gemeinsam. Die Zarenmonarchie entwickelte sich infolge der petrinischen Umwälzung zu einem gleichberechtigten Mitglied des europäischen Mächtekonzerts, war in der Regel loyaler Verbündeter ihrer westlichen Koalitionspartner, und auch bei genauerem Hinsehen konnte man keine Merkmale entdecken, die auf eine unversöhnliche Gegnerschaft des Petersburger Russland zum Westen hinwiesen. Mehr noch. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts trug das Zarenreich entscheidend dazu bei, dass der napoleonische Versuch scheiterte, das europäische Gleichgewicht zu zerstören.
Russische Europäer: mit dem Rücken zur Wand
Mit der Frage, warum das, was im 18. Jahrhundert möglich gewesen war, im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht gelingen konnte, möchte ich mich hier nicht beschäftigen. Auch nicht mit der Frage, ob ein Marschall-Plan für Russland oder die Aufnahme des Lands in die NATO zu Beginn der 1990er-Jahre eine realistische Option darstellte.
Auf eines muss man allerdings in diesem Zusammenhang hinweisen. Die Tatsache, dass die bereits von Michail Gorbatschow lancierte Idee vom „Gemeinsamen europäischen Haus“ nicht verwirklicht werden konnte, führte dazu, dass Russland und der Westen sich seit etwa Mitte der 1990er-Jahre erneut asynchron zu entwickeln begannen.
Während der westliche Teil des Kontinents, trotz mancher Rückschläge, einen immer tieferen Integrationsprozess erlebt und an der Schwelle eines postnationalen Zeitalters steht, kehrt das weitgehend isolierte Russland quasi ins 19. Jahrhundert zurück und räumt den nationalen Interessen absolute Priorität ein. Dies war auch einer der Gründe für die Erosion der im August 1991 entstandenen „zweiten“ russischen Demokratie und für ihre Ablösung durch die Putinsche „gelenkte Demokratie“.
Selbstverständlich hat das Scheitern der „zweiten“ russischen Demokratie in erster Linie innerrussische Ursachen (wirtschaftliche Schocktherapie, scharfe Konflikte an der Spitze der Machtpyramide, allgegenwärtige Korruption, Tschetschenienkriege und vieles mehr). Aber auch außenpolitische Faktoren spielten dabei eine gewichtige Rolle.
Die „russischen Europäer“, denen der europäische Kontinent die friedliche Überwindung seiner Spaltung im Wesentlichen verdankt, stehen jetzt mit dem Rücken zur Wand und scheinen ihre Auseinandersetzung mit den radikalen Gegnern des Westens im Land verloren zu haben. Man darf aber nicht vergessen, dass die Verfechter der europäischen Werte in Russland schon oft als „Verlierer der Geschichte“ galten.
Letztendlich stellte es sich aber immer wieder heraus, dass ihre Zielsetzungen keineswegs so utopisch waren, wie dies auf den ersten Blick zu sein schien. So sind die Würfel im innerrussischen Diskurs keineswegs endgültig gefallen. Das Ringen um die Zukunft des Lands geht unvermindert weiter.
Dieser Beitrag ist zuerst am 15 Dezember 2021 auf dem Portal Die Kolumnisten erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.
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