Gorbatschow, der Türöffner
Zum 90. Geburtstag: Michail Gorbatschow ermöglichte seinem Land Demokratie und Rechtstaatlichkeit und Deutschland die Wiedervereinigung
Es geschah auf dem Berliner Flughafen Tegel. Durch Zufall erkannte ich in der Menschenmenge vor mir Michail Gorbatschow, der mit einer Delegation zu Gesprächen in der Bundeshauptstadt landete. Er war schon lange nicht mehr Präsident der Sowjetunion, aber wurde sofort mit „Gorbi, Gorbi“-Rufen begrüßt. Ein Freund, der mit Gorbatschow eng vertraut war, zog mich heran und stellte mich ihm mit den Worten vor: „Das ist einer von uns.“
Daraufhin nahm Gorbatschow mich in den Arm und hat mich seitdem jedes Mal, wenn wir uns trafen, wie einen seiner besten Freunde begrüßt. Von diesem Mann ging stets eine Herzlichkeit aus, die einen immer wieder überraschte. Im persönlichen Umgang humorvoll, zuvorkommend, freundlich und doch in seinen politischen Auffassungen unnachgiebig.
Als ich 1986 als junger Reporter für den Westdeutschen Rundfunk zum ersten Mal nach Moskau kam, war Gorbatschow ein Jahr im Amt des Generalsekretärs der KPdSU. Die Perestroika hatte gerade begonnen. Für uns Journalisten war es eine aufregende Zeit. Das ganze Land war im Umbruch, in Aufruhr.
Wind of change: Mc Donald’s in Moskau
Gorbatschow hatte – aus Sicht der Nomenklatura – die Büchse der Pandora geöffnet. Alle wollten die neue Freiheit austesten und träumten von einem besseren Leben. Glasnost – die Offenheit erlaubte russischen Journalisten, über Dinge zu schreiben, die vorher tabu waren.
Das erste privat geführte Restaurant in Moskau war eine Sensation. Der Begriff Xozraschet, Selbstfinanzierung, erlaubte den Sowjetbürgern, wirtschaftlich aktiv zu werden.
In den Kinos wurden Filme gezeigt, die die Zensur vorher nie zugelassen hätte. Theaterstücke, in denen die herrschende Klasse kritisiert wurde, durften aufgeführt werden.
Als der erste McDonald-Schnellimbiss am Puschkin-Platz öffnete, standen Hunderte davor Schlange. Private Hotels und Läden öffneten. Die Versorgungssituation war katastrophal, in den Geschäften gab es kaum etwas, aber das Land spürte den Wind der Veränderung, den wind of change.
Gorbatschow kam, die Angst vor dem Atomkrieg verschwand
Auf der internationalen Bühne veränderte Gorbatschow das Bild, das über Jahrzehnte die Sowjetführer geprägt hatten. Mit seiner sympathischen Frau Raissa eroberte er die Herzen nicht nur der Deutschen, sondern auch der Amerikaner und der Franzosen. Mit Ronald Reagan und später mit George Bush Senior schloss er die weitreichendsten Abrüstungsverträge überhaupt. Die Angst vor dem Atomkrieg verschwand. Gorbatschow 1989: „Was macht es für einen Sinn, wenn die Menschheit sich mehrfach gegenseitig vernichten kann? Da gibt es weder Gewinner noch Verlierer.“
Für uns Korrespondenten war Gorbatschow kein einfacher Staatsmann. Die Details der Abrüstungsverträge waren kompliziert, die Definition der Raketensysteme in der russischen Sprache anders als in der amerikanischen oder der deutschen.
Gorbatschow war immer für eine Überraschung gut. Kaum hatte man sich in die Thematik der Mittelstreckenraketen eingearbeitet, ging es um Langstreckenraketen, START I, Start II, INF-Vertrag, KSE-Abkommen etc. Ein Abrüstungsvertrag folgte auf den nächsten. Der Warschauer Pakt zerfiel, die alten Feindbilder stimmten nicht mehr. Im gesamten Ostblock wurden die Karten neu gemischt.
Aus Perestroika wird Peredischka
Als es mit der Perestroika im eigenen Land nicht so recht voranging, brachte Gorbatschow den Begriff „Peredischka“ ins Spiel, Atempause. Die Sowjetunion brauche eine Atempause.
Das galt allerdings nicht für Korrespondenten. Pressekonferenzen gab Gorbatschow gern nachts. Das Außenministerium rief an, man solle doch bitte um 24 Uhr im Pressesaal erscheinen. Gegen 2 Uhr kam dann Gorbatschow, bestens gelaunt, und redete ca. zwei Stunden ohne Pause.
Auch dies war eine herausragende Eigenschaft des damaligen Generalsekretärs der KPdSU. Mit vielen Worten wenig sagen. Am Ende schrieben wir ein wenig ratlos: Die Perestroika geht weiter!
In der Realität aber stockte alles, Gorbatschows Stern sank. Die Leute bezeichneten ihn als „Apparatschik“. Er bleibe doch ein Parteimensch, sonst nichts. Um zu überleben, verkauften auf den Straßen die Menschen ihre Wertsachen: Ikonen, das Familienbesteck, Schmuck oder Antiquitäten aus dem Wohnzimmer. Stundenlanges Warten vor leeren Geschäften, es gab keine Lebensmittel.
Schluss mit Kommunismus und Ideologie
Der Westen war mit Krediten zurückhaltend. Und in Russland wurde Gorbatschows Perestroika von verschiedensten Kräften boykottierte. Es gelang ihm nicht, den Umbau von einem zentral gelenkten System auf die freie Marktwirtschaft durchzusetzen. Die Konservativen in der Kommunistischen Partei rebellierten, Gorbatschow musste taktieren, was ihm viele hinterher vorwarfen.
Als im August 1991 rechte Kräfte putschten, habe ich als Korrespondent für die ARD über die „Tage, die die Welt veränderten“, berichtet. Es war wohl die aufregendste Woche meines Lebens. Kein Schlaf, kaum Essen, Berichterstattung rund um die Uhr. Die Welt hielt den Atem an. Wir standen auf den Barrikaden, neben den Panzern, interviewten Soldaten, begeisterten uns für Boris Jelzin und für die Widerstandskraft der Menschen.
Dann die berühmte Pressekonferenz der Putschisten. Ihre Hände zitterten, sie hatten keinen Plan, keine Perspektive. Die Menschen wollten nicht zurück, in den Zwangskasten der ehemaligen Sowjetunion, hatten genug von Kommunismus, Sozialismus und Ideologie.
Am Montagmorgen, dem 21. August, begann der Putsch, drei Tage später war er gescheitert. Gorbatschow war auf der Krim festgesetzt. Die Putschisten reisten zu ihm, entweder um sich zu entschuldigen oder Rat zu holen. Er empfing sie nicht.
Alles abgesprochen, ein Marionettentheater? Jedenfalls zogen die Panzer ab, die Soldaten gingen wieder in ihre Kasernen zurück. Am Sonntagabend löste Gorbatschow dann die Kommunistische Partei der Sowjetunion auf. Der Spuk war vorüber.
Bis heute ist unklar, ob er die Ereignisse hat heraufziehen sehen. Hatte er gehofft, nach dem misslungenen Putsch als gestärkter Präsident zurückkehren zu können?
Das Gegenteil war der Fall. Der neue starke Mann hieß Boris Jelzin. Gorbatschow wurde zum Nachlassverwalter der UdSSR.
Gorbatschow ging, aber er wirkt bis heute nach
Als dann am 31. Dezember 1991 die Fahne der Sowjetunion über dem Kreml aufhörte zu wehen, endete die Ära Gorbatschow. Aber sie wirkt bis heute nach. Durch ihn hat die Welt erfahren, wozu Staatsmänner fähig sein können: internationale Blockaden aufzulösen; über ihren Schatten zu springen, im Dienst des Friedens und im Sinne guter nachbarschaftlicher Beziehungen.
Was Willy Brandt und Egon Bahr angestoßen hatten, nämlich eine neue Ostpolitik, setzte der Mann aus dem Kaukasus ohne große Attitüden einfach um. Er verändert die Welt zum Besseren.
Immer wieder wird Gorbatschow vorgeworfen, er habe die Sowjetunion mutwillig zerstört. Das ist falsch. Wer damals in die Ukraine, in die Baltischen Staaten, nach Armenien oder Georgien reiste, traf auf den Willen der Menschen, sich von der Herrschaft der Kommunistischen Partei zu lösen. Überall gab es Demonstrationen und Proteste gegen die KPdSU. Die Fliehkräfte waren so groß, dass es für Gorbatschow völlig unmöglich war, die Sowjetunion zusammenzuhalten.
Diese Bewegungen gingen nicht von Gorbatschow aus, sondern von den einzelnen Völkern, er hat lediglich den Anstoß gegeben. Sein Versuch, mit einem neuen Unionsvertrag das Imperium zu retten, scheiterte.
Der Mann, der die Wiedervereinigung ermöglichte
Dass er den Deutschen die Wiedervereinigung ermöglichte, ist ebenso eine seiner großen historischen Leistungen. Auch da hat Gorbatschow die Zeichen der Zeit erkannt und begriffen, dass es unmöglich war, eine Vereinigung mit Gewalt zu verhindern. So weigerte er sich, Truppen einzusetzen, um die Freiheitsbewegung in der damaligen DDR niederzuschlagen. Honecker und seine Kumpane hätten sich das sicherlich gewünscht.
Nach seinem Ausscheiden aus der Politik war Gorbatschow hin und wieder so etwas wie das Gewissen der internationalen Politik. Seine wichtigste Forderung: zu seiner Politik der Abrüstung zurückkehren, den INF-Vertrag verlängern.
Gegenüber Wladimir Putin war er vorsichtig. So kritisierte er nicht die Annexion der Krim, sondern bat den Westen um Verständnis für das Vorgehen des Kremls. In Radiointerviews verurteilte er auch schon mal die Entscheidungen der russischen Regierung, hielt sich jedoch aus der aktuellen Innenpolitik weitgehend heraus.
Dass derzeit so viele Jugendliche in Russland auf die Straße gehen, ist indirekt auch ein Erbe der Politik Gorbatschows. Er hat die Tore aufgestoßen, für Deutschland Wiedervereinigung und seinem Land Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Pressefreiheit. Sie wieder zu schließen, dies ist – trotz aller restriktiven Maßnahmen – auch im heutigen Russland auf lange Sicht so gut wie unmöglich. Damit allein hat Michail Gorbatschow, der am 2. März seinen 90. Geburtstag feiert, einen großartigen Eintrag in den Geschichtsbüchern verdient.
Zu Gorbatschows 90. Geburtstag am 2. März 2021 siehe auch:
Gorbatschows historisches Erbe Der KARENINA-Kommentar von Johannes Grotzky
Gorbatschow: Es ging um Sein oder Nichtsein Ein Gespräch zwischen Gorbatschow und Richard von Weizsäcker