Ostpolitik: Eine Frage der Werte
75 Jahre nach dem Godesberger Reichstreffen der CDU: Ein Blick auf deren Ostpolitik
Die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und Russland befinden sich in keinem guten Zustand. Im Blick auf die letzten 75 Jahre ist das kein Novum. Die Beziehungen zu Russland waren zyklisch, sie kannten gute und schlechte Zeiten. Die Kanzler der CDU, die diese Russland-Politik entscheidend geprägt haben – Konrad Adenauer, Kurt Georg Kiesinger, Helmut Kohl, Angela Merkel –, waren bei der Formung ihrer Haltung zu Russland immer auch von äußeren Faktoren abhängig. Im Inneren prägte sie aber stets die starke Überzeugung, dass Demokratie, Freiheit sowie die einem christlichen Menschenbild entspringenden Werte nicht aufgebbar sind.
Die äußeren Faktoren
Die äußeren Faktoren ergaben sich in der Nachkriegszeit zunächst aus der deutschen Teilung selbst. Im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfügte die Bundesrepublik nicht über jene politische Souveränität, die eine eigenständige Außenpolitik möglich gemacht hätte. Der Ost-West-Konflikt bestimmte die deutsche politische Realität, in dem die Adenauer-Regierung zu dieser Zeit eher Zuschauer als Akteur gewesen ist.
Das Glück der damaligen Bundesrepublik, im Zugriffsbereich freiheitlich und demokratisch verfasster Besatzungsmächte (USA, Großbritannien, Frankreich) gelandet zu sein, hat Adenauer zur festen Überzeugung geführt, dort – also in der Westbindung – müsse Deutschland auch für die Zukunft unwiderruflich aufgehoben bleiben. Tatsächlich verdankte die aufstrebende Bundesrepublik dieser Westbindung in den Nachkriegsjahrzehnten (und bis heute) nicht nur ihre Existenz und ihre Sicherheit, sondern auch die Freiheit und den Wohlstand ihrer Bürger. Kluge Politiker wie Ludwig Erhard wussten das mit einem Wirtschaftssystem zu verbinden, in dem die Effizienz der freiheitlichen Marktwirtschaft mit einer ausgleichenden Sozialpolitik verbunden wurde – der „sozialen Marktwirtschaft“.
1955: Diplomatische Beziehungen zur UdSSR
Diese festgefügte Westbindung, die auch durch die Gründung der NATO und den Beitritt der Bundesrepublik im Frühjahr 1955 bestärkt wurde, schloss die Aufnahme von Verbindungen in den Osten Europas aber nicht aus. Schon im September 1955 nutzte Adenauer diese unzweifelhafte Einbettung in den Westen zu einem Moskau-Besuch, mit dem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion einherging. Damit meldete sich Deutschland als außenpolitischer Akteur zurück und bekundete zugleich seine Bereitschaft, den Dialog Russlands mit dem Westen immer wieder vermittelnd zu organisieren.
Das galt auch für die Regierungen unter den CDU-Kanzlern Erhard und Kiesinger zwischen 1963 und 1969, außenpolitische Jahre, die zwischen den Großmächten von einer nervenzehrenden Politik des „Friedens durch Abschreckung“ gekennzeichnet war. 1963 gelang es, einen „heißen Draht“ zwischen Washington und Moskau einzurichten, im selben Jahr einen Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffentests im Weltraum und unter Wasser und vor allem 1968 den Atomwaffensperrvertrag zu schließen. Diese neue politische Atmosphäre wurde insbesondere gefördert von Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger (CDU), der in einer Koalition mit der SPD unter Willy Brandt die ostpolitischen Segel für das darauffolgende Jahrzehnt neu setzen konnte. Sein Ziel: Das Selbstbestimmungsrecht des ganzen deutschen Volkes über seine Staatlichkeit, seine Innen- und Außenpolitik, seine Zukunft.
Grundlage für Brandts Entspannungspolitik
Auf diesen Bausteinen konnte die sozialliberale Brandt-Scheel-Koalition ab 1969 die kraftvolle Entspannungspolitik intensivieren. Zwar sah die CDU in ihrer Oppositionsrolle manche Maßnahmen damals außerordentlich kritisch, insbesondere die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens durch den Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970. Aber die Ostverträge, der Grundlagenvertrag, das Berlinabkommen fanden letztlich immer – wenn auch bedingt – die Zustimmung der CDU, die allerdings keinen Vertrauensvorschuss für Moskau wollte und darauf bestand, Rechtspositionen nur gegen entsprechende Gegenleistung aufzugeben. Diese Gemeinsamkeit erwies sich auch 1972 in der gemeinsamen Erklärung der Bundestags-Fraktionen anlässlich der Ratifikation des Moskauer und des Warschauer Vertrags.
Auch der KSZE-Vertrag zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa fand die Unterstützung der CDU, da er den Kern der Überzeugungen der CDU verbindlich machte: Außenpolitisch die Gleichberechtigung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, von der inneren Verfassung her die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit der Bürger im Vertragsgebiet der 15 europäischen Unterzeichnerstaaten. Die Möglichkeit der Berufung auf diese Regelungen hat die politische Entwicklung im damaligen Ostblock und damit auch die deutsche Ostpolitik nach 1975 wesentlich mitbestimmt.
Anfang der 1980er-Jahre – 1982 übernahm Helmut Kohl (CDU) die Kanzlerschaft von Helmut Schmidt (SPD) – war das politische Klima zwischen West und Ost frostig. Die Weltpolitik befand sich in einer Konfrontationsphase gegenseitiger Vor- und Nachrüstung, in Deutschland wurden Mittelstreckenraketen stationiert. Dennoch riss der Gesprächsfaden zwischen den Westmächten, der CDU-geführten Bundesregierung und Moskau nicht ab. 1987 konnte der Vertrag zur Begrenzung von Mittelstreckenwaffen in Europa geschlossen werden, ein Entspannungszeichen im Vorfeld all der Umbrüche, die sich ab 1989 ereignen sollten.
Innere Überzeugungen
Bedeutend freilich sind ebenso die inneren Überzeugungen, welche die politischen Maßnahmen der CDU bis heute prägen. Die CDU war in ihrer Russlandpolitik immer bei einem Grundsatz geblieben: Nie würde sie sich mit der Zweistaatlichkeit Deutschlands abfinden. Das war keineswegs zuerst eine territoriale Frage. Vielmehr konnte nicht hingenommen werden, dass ein Teil der Deutschen um seine Freiheitsrechte gebracht wurde, um all das, was auch den Bürgern der DDR im KSZE-Vertrag zugesichert worden war. Die DDR als Gefängnis, umzäunt von Selbstschussanlagen und Minengürteln – das war der immerwährende Stachel im politischen Bewusstsein der CDU.
Der Mauerfall von 1989 und die deutsche Wiedervereinigung 1990 zählen zu den großen Geschenken Russlands an Deutschland. Kein Deutscher wird das Vertrauen, das in dieser Zustimmung durch Michail Gorbatschow steckte, je vergessen. Die Wiedervereinigung wird aber zugleich – nicht nur in der CDU – als Bestätigung dafür bilanziert, dass es sich lohnt, zu seinen Überzeugungen nachhaltig zu stehen. Dazu zählt auch, dass der Zusammenbruch des Kommunismus 1989 als Beweis gelten muss für die Attraktivität eines freien, demokratischen und auf Menschenrechten fußenden Gesellschaftsmodells.
Dafür kämpft die CDU bis heute. Seit 2005 regiert Angela Merkel, und auch sie steht für diese Werte ein. Die Rede vom christlichen Menschenbild mag manchem formelhaft erscheinen, sie ist es aber nicht. Denn sie sieht den Menschen als göttliches Geschöpf, begabt mit Freiheit und Vernunft, zur Selbstreflexion und Selbstüberschreitung fähig, als sittliches Subjekt freier Entscheidung und der Fähigkeit, für sich Verantwortung zu übernehmen. Das hat Folgen, und zwar für die Vorstellung einer Gesellschaft, ihrem Zusammenleben, für die staatliche Rechtsgemeinschaft, für die politische Gestaltung von Normen, Institutionen und Ordnungen. Diese Werte begründen auch die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, die Idee souveräner Staaten, deren Grenzen respektiert werden müssen.
Das Vertrauen in Russland ist tief erschüttert
In diesen Überzeugungen liegt auch der Kern des gegenwärtigen Dissenses zwischen der deutschen und russischen Regierung. Der Bruch des Völkerrechts durch die Annexion der Krim hat das Vertrauen in die Vertragstreue Russlands tief erschüttert. Auch der Umstand, dass Russland die Zeichen seiner Stärke vornehmlich mit Mitteln der Militärpolitik setzt und seine Nachbarn lieber in Furcht als in Freundschaft hält, trägt zur Wiederannäherung nicht bei.
Hinzu kommt die mangelnde Demokratie im Inneren Russlands, die Einschränkung der Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Verfolgung von Oppositionellen. All das bereitet gerade jenen große Betrübnis, denen an einer freundschaftlichen Beziehung zu Russland sehr gelegen ist. Solche Freunde haben sich beispielsweise im Petersburger Dialog versammelt, der seine Aufbruchsstimmung der ersten Jahre mittlerweile verloren hat.
Angela Merkel hat mit besonderer Intensität versucht, zu Wladimir Putin ein gutes Verhältnis zu wahren. Das Gespräch zwischen Staatschefs kennt aber zwei Ebenen: Die öffentliche politische Bühne der Gipfel- und bilateralen Konferenzen, auf der unterschiedliche Auffassungen lauthals ausgetragen werden.
Aber tieferliegend kommt unter Staatschefs oft eine vertrauliche Gesprächsebene zustande, ein Vier-Augen-Gespräch, in dem man sich ehrlich und mit gegenseitigem Respekt die Meinung sagt und manchmal auch inoffizielle Abmachungen trifft, auf die sich die Partner unbedingt verlassen können. Diese Gesprächsebene hat zwischen Deutschland und Russland gelitten, das Vertrauen in die russische Verlässlichkeit ist geschwunden, was solche Gespräche entwertet und sie belanglos macht.
Politik wird von Menschen gestaltet. Große weltpolitische Entscheidungen haben mit Vertrauen zu tun, das sich die politischen Akteure gegenseitig entgegenbringen. So wird es auch künftig sein: Falls in neuen personalpolitischen Konstellationen Vertrauen wiederaufgebaut werden kann, wird es auch für die deutsch-russischen Beziehungen einen neuen Aufbruch geben.