Kein Visum mehr für Russen?
Die Europäische Union diskutiert, ob sie russischen Touristen die Einreise verweigern darf und soll
Dies sei Putins Krieg, sagt Bundeskanzler Olaf Scholz. Dies sei nicht nur Putins Krieg, entgegnet der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba, sondern Russlands Krieg. Zwei Stimmen zu einer Frage, die die Europäische Union nun klären muss: Soll man russischen Touristen die Einreise in die EU verweigern, als Strafe für den Angriff auf die Ukraine? Scholz kann sich das nur schwer vorstellen, wie er sagt, während Kuleba und sein Präsident Wolodymyr Selensky sich vehement dafür aussprechen – und dabei in der EU immer mehr Unterstützung finden.
Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas und ihre finnische Kollegin Sanna Marin sind treibende Kräfte in der Debatte. Europa zu besuchen sei kein Menschenrecht, sondern ein Privileg, sagte Kallas diese Woche.
Marin erklärte, es sei nicht gerecht, dass russische Bürgerinnen und Bürger ein normales Leben führen und durch Europa reisen können, während ihr Staat einen „brutalen Angriffskrieg“ führe. Die EU-Gremien befassen sich nun ganz offiziell mit der Forderung, keine Visa mehr zu erteilen, auch beim Treffen der Außenministerinnen und Außenminister am 31. August in Prag wird das Thema auf der Tagesordnung stehen.
Außenminister Jan Lipavský wird in Prag im Namen der tschechischen Ratspräsidentschaft vorschlagen, die Vergabe von Kurzzeitvisa für den Schengen-Raum an russische Staatsbürger auszusetzen. Der Schritt sei das richtige Signal an die russische Gesellschaft – und geboten, um zu verhindern, dass der russische Geheimdienst unter dem Deckmantel des Tourismus Europa unterwandere. Tschechien hat gleich zu Kriegsbeginn die Vergabe von Visa gestoppt.
Auch Polen, Lettland, Litauen und Estland haben die Einreise von Russen eingeschränkt. Am vergangenen Donnerstag erklärte die estnische Regierung, man werde von estnischen Behörden vor dem Ukraine-Krieg ausgestellte Schengen-Visa nicht mehr anerkennen. Die Zahl der Einreisen und Durchreisen aus Russland sei zuletzt „massiv gestiegen“. Das sei nicht zu vereinbaren mit den Sanktionen, die die EU verhängt habe.
Wegen der Sanktionen gibt es aus Russland keine Direktflüge mehr in die EU, doch reisen nun offenbar viele Russen über Finnland und die baltischen Staaten ein. In Finnland gibt es offenbar ähnliche Pläne wie in Estland, dennoch beharrt Ministerpräsidentin Marin darauf, es müsse eine einheitliche Regelung für den ganzen Schengen-Raum geben.
Noch unklar ist, auf welcher Basis die EU ein pauschales Visa-Verbot verhängen könnte, denn laut EU-Recht ist die Prüfung jedes Einzelfalls erforderlich. Von Reisebeschränkungen betroffen sind nach den bisher verhängten Sanktionen nur Personen, denen eine Nähe zum russischen Regime und damit eine Unterstützung des Angriffskriegs auf die Ukraine nachgewiesen werden kann.
Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine haben in Deutschland mehr als 14 000 Russinnen und Russen ein deutsches Schengen-Visum erhalten. Bundeskanzler Scholz sagte am Donnerstag, die Sanktionen sollten Eliten Russlands bestrafen. Eine vollständige Aussetzung der Visa-Vergabe würde aber auch die Zivilgesellschaft treffen und damit Menschen, die der EU gegenüber aufgeschlossen seien. In den meisten westlichen EU-Staaten sieht man das ähnlich.
In den Beziehungen zwischen der EU und Russland sorgt die Debatte für neue Verwerfungen. Der ehemalige Präsident Dmitri Medwedjew warf auf Twitter der estnischen Ministerpräsidentin Kallas vor, sie äußere sich wie ein „Nazi“, und entgegnete auf ihre Bemerkung, Europa zu besuchen sei kein Menschenrecht, mit dem Spruch: „Dass ihr auf freiem Fuß seid, ist nicht euer Verdienst, sondern unser Versäumnis.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 13.8.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München