Auch Polens Interessen beachten

Was Deutschlands östlicher Nachbar von der neuen Bundesregierung erwartet

von Marcin Antosiewicz
Wer dort verkehrt, hat große Erwartungen an Deutschland: der Präsidentenpalast in Warschau

Nach einem doch eher glanzlosen Wahlkampf ist es schwierig, neue Erwartungen an die künftige Regierung in Berlin zu stellen. Zudem scheint Olaf Scholz nicht ein Mann größerer Veränderungen zu sein, er steht eher für Kontinuität. Daher stehen alte Themen weiterhin auf der polnisch-deutschen Agenda und viele hoffen, dass sie in Angela Merkels Stil gelöst werden.

Obwohl die verschiedenen Regierungen in Warschau nicht immer mit Merkels Politik einverstanden waren, haben sie ihre Sensibilität gegenüber unserem Land geschätzt. Dank ihrer ostdeutschen Biografie konnte sie ein Gleichgewicht zwischen Südeuropa, Frankreich sowie Mittel- und Osteuropa herstellen. In den verschiedenen Etappen der europäischen Integration hat Merkel immer lieber einen breiten als einen schnellen Weg eingeschlagen. Es war ihr ein Anliegen, die europäische Einheit zu erhalten.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in

WeltTrends. Das außenpolitische Journal
"Polen und der Norden"
Ausgabe 182, Dezember 2021

Potsdamer Wissenschaftsverlag
72 Seiten
Zeitschrift
5,80 Euro
ISBN 978-3-947802-661
Zum Verlag

Und das ist es, was Warschau heute von der Ampelregierung erwartet. Politisch ist Polen zweigeteilt, aber sowohl die konservativ-populistische Regierung als auch die breiter verstandene liberale Opposition stehen Nord Stream 2, der deutsch-russischen Gaspipeline, kritisch gegenüber. Deutschland hat wegen dieses Projekts viel Vertrauen in unserem Teil Europas verloren.

Heute fällt es schwer, Politikern aus Berlin zuzuhören, die europäische Lösungen und eine ehrgeizige Klimapolitik fordern, wenn sie unsere Energieinteressen vergessen haben, indem sie über unsere Köpfe hinweg mit Russland Gasgeschäfte machen.

Dazu hatten sie jedes Recht. Aber bei Nord Stream haben die Deutschen ausschließlich an die eigenen Interessen gedacht, nicht an die von ganz Europa. Es wäre gut, wenn auch die Deutschen ihre nationalen Interessen klar definieren und kommunizieren würden und nicht alle ihre Projekte als „europäisch“ bezeichneten, denn das hilft weder dem gemeinsamen Europa noch den bilateralen Beziehungen.

In Warschau möchte man auch wissen, welche Vorstellung Deutschland von sich selbst in der internationalen Politik hat: Will es weiterhin eine große Schweiz sein, die ihre Vermittlungsdienste anbietet, oder ist es in der Lage, mehr Verantwortung zu übernehmen und entschlossen für demokratische Werte und Menschenrechte einzutreten? In dieser Frage keine Entscheidung zu treffen, ist auch eine Wahl, aber wohl keine sehr souveräne.

Polen und andere Länder in der Region hoffen, dass Deutschland die 2014 auf dem Nato-Gipfel in Wales gemachte Zusage, zwei Prozent des BIP in die Verteidigung zu investieren, einhalten wird. Glauben Sie uns, niemand würde sich mehr über ein demokratisches, stabiles Russland freuen, mit dem wir freundschaftliche Beziehungen entwickeln, als die Nationen, die zwischen Deutschland und Russland liegen.

Aber es ist wie es ist. Und unsere Sicherheit hängt auch von den militärischen Fähigkeiten der Nato ab. Aus unserer Sicht vergessen die Deutschen zu oft, dass Willy Brandts Ostpolitik, Wandel durch Annäherung, auch durch die Doktrin der Abschreckung erfolgreich war.

Berlin ist mehr Beobachter als Anführer

Von Europas größter Volkswirtschaft mit großer industrieller Vergangenheit erwarten wir eine Führungsrolle bei der digitalen und technologischen Transformation. Der großartige Erfolg des Mainzer Unternehmens Biontech wäre ohne die Unterstützung des US-Unternehmens Pfizer unbemerkt geblieben.

Nicht nur die Internetgiganten aus Kalifornien überflügeln Europa bei neuen Technologien, Algorithmen, Robotern und künstlicher Intelligenz, sondern auch viele asiatische Tiger. Deutschland scheint mehr ein Beobachter dieser Prozesse zu sein als ein Anführer.

Wir möchten, dass sich das ändert, denn die polnische Wirtschaft ist untrennbar mit der deutschen Wirtschaft verbunden. Fast 30 Prozent unserer Exporte gehen jenseits von Oder und Neiße.

Angesichts der vierten industriellen Revolution befürchten wir, dass ihr Tempo und ihre Unvorhersehbarkeit viele Opfer auf dem Arbeitsmarkt nach sich ziehen werden. Wenn wir den Populisten erfolgreich entgegentreten und die Demokratie verteidigen wollen, können wir nicht zulassen, dass Millionen von Menschen in ständiger Angst leben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und nur noch ein existenzsicherndes Einkommen zu verdienen.

Deutschland hat nicht nur eine große wirtschaftliche Tradition, sondern auch eine große soziale Tradition. Wer, wenn nicht die Deutschen, und wer, wenn nicht ein sozialdemokratischer Kanzler, könnte ein mutiges neues Konzept für den Sozialstaat vorlegen?

Die Menschen wandern, seit sie auf dieser Erde leben. Aber noch nie waren Ausmaß und Leichtigkeit, mit der sich Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt fortbewegen, so groß wie heute. Europa ist der beste Ort zum Leben.

Das Thema Migration und Einwanderung wird eine der größten Herausforderungen unserer Zeit sein. Die Mauern an den Grenzen und die Unterstützung für die Rechtsextremen sind nur eine nervöse Reaktion auf dieses Problem. Die einseitige Entscheidung Deutschlands im Jahr 2015 hat der Sache nicht geholfen; sie hat die Populisten in Deutschland und in Polen gestärkt.

Wir brauchen eine ernsthafte Debatte, die zu einer neuen Migrationspolitik für die Europäische Union führen wird. Wir erwarten von Deutschland, dass es in der Migrations- und Grenzschutzpolitik wie auch in der Klimapolitik polnische Realitäten entsprechend berücksichtigt.

Zum Schluss eine Banalität, die in den bilateralen Beziehungen immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden sollte. Wir sind seit mehr als tausend Jahren Nachbarn. Unsere Geschichte ist untrennbar miteinander verbunden. In guten wie in schlechten Zeiten – und die haben uns gelehrt, dass es immer besser ist, miteinander zu reden als übereinander.

Marcin Antosiewicz ist freier Journalist und Dozent an der Vistula University der Universität Warschau. Zuvor arbeitete der Politologe viele Jahre als Auslandskorrespondent für öffentlichen Rundfunk, unter anderem in London und Berlin.

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