Visastreit: Müssen Russen draußen bleiben?
Europäische Länder wollen Russen keine Visa mehr ausstellen. Gleichzeitig finanzieren sie Putins Krieg
In Europa erklingen die Aufrufe, russischen Staatsbürgern keine Schengen-Visa mehr auszustellen, immer lauter. Zehn Mitgliedstaaten der EU tun das faktisch schon nicht mehr. Sich bei der Konsularabteilung der spanischen Botschaft in Moskau anzumelden ist unmöglich, die Italiener vergeben Termine erst für den November.
Die vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky vorgebrachte Initiative wurde sogleich von den Premierministern Estlands und Polens aufgegriffen, Letzterer hatte schon im Frühjahr vorgeschlagen, keine Schengen-Visa mehr an Russen auszugeben. In Lettland will man die Aufenthaltstitel von Russen, die dort leben, nur in Ausnahmefällen verlängern.
Selensky ist der Auffassung, dass, wenn die Russen nicht durch Europa reisen können, sie daheim verzweifelt das Regime Putins bekämpfen werden. Ihm sekundiert der Außenminister Litauens Gabrielius Landsbergis, der gesagt hat, ein solches Verbot könne die Opposition im Landesinnern halten: „Wenn wir davon ausgehen, dass in Russland fünf bis zehn Prozent gegen den Konflikt sind, so sprechen wir von Millionen“, stellte er fest und schloss eine rhetorische Frage an: „Würden Sie wollen, dass diese Millionen in Russland wären oder außerhalb seiner Grenzen?“
Während man die Müdigkeit und Gereiztheit Selenskys, dessen Land seit sechs Monaten von russischen Truppen bekriegt wird, bestens verstehen kann, so wirft die Haltung europäischer Diplomaten und Politiker Fragen auf. Die Mehrheit der Länder Europas konsumiert weiterhin russisches Gas, auch der Ölimport in die EU und nach Großbritannien bleibt bis zum Dezember legal.
Noch nie hat Russland so viel Geld mit Energieträgern verdient wie seit Beginn des Kriegs. Nach einem Einbruch im Mai steigt das Handelsvolumen zwischen Europa und Russland mittlerweile wieder.
Infolge früherer Lieferungen und Verträge bestünden russische Panzer und andere Militärtechnik zu dreißig bis siebzig Prozent aus europäischen und amerikanischen Bauteilen, berichtete die Moscow Times mit Berufung auf mehrere Militärexperten, die nicht genannt werden wollten, im April. Demnach sind in der russischen Armee noch immer etwa 800 Waffentypen – Raketen, Luftabwehrsysteme, Flugzeuge, Drohnen –, die Bauteile aus amerikanischer, europäischer, japanischer oder israelischer Produktion enthalten, im Einsatz.
Einige Drohnen stammen aus israelisch-russischer Gemeinschaftsproduktion, und in den meisten russischen Panzerfahrzeugen sollen amerikanische Motoren stecken. Allein in der Überschallrakete „Kinschal“ sind 133 Komponenten verbaut, die im Ausland produziert wurden, bei der Herstellung anderer Raketen ist Japan Russland behilflich. Russisches Gerät enthält so viele ausländische Bauteile, dass der Eindruck entstehen könnte, Russland führe seinen Krieg mit westlichen Waffen.
Was machen die Ukrainer in Moskau?
Der vom Krieg gezeichnete Selensky sagt: „Die Russen sollen so lange in ihrer Welt leben, bis sie ihre Philosophie ändern. Sie haben diese Leute (gemeint sind Putins Getreue – die Redaktion) gewählt und bekämpfen sie jetzt nicht, sie streiten nicht mit ihnen, schreien sie nicht an. Es gibt nur vereinzelte Russen, die gegen den Krieg auftreten, und die kommen ins Gefängnis. Die Russen sollen alle nach Hause fahren, nach Russland.“
Selenskys Zorn ist verständlich. Aber was heißt das mit Blick auf die etwa 400 000 Ukrainer, die allein in Moskau leben? Nach dem 24. Februar sind diese Leute kein Mal zu Massenprotesten auf die Straße gegangen, sie arbeiten weiter in Russland und zahlen dort ihre Steuern. Was soll man mit ihnen machen, wenn sie nach Europa reisen wollen?
Und soll man den Bewohnern der annektierten Krim, des besetzten Cherson und anderer okkupierter Gebiete, wo ihnen russische Pässe aufgezwungen wurden, Schengen-Visa ausstellen? Bis vor Kurzem verwiesen europäische Diplomaten die Visawünsche solcher Leute mit einem Lächeln an Kiew.
Selensky sagt, alle Russen seien schuld, weil sie Putin gewählt hätten, doch für Putin stimmten bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2018 gut 56 Millionen russische Staatsbürger, wobei laut dem unabhängigen Nachrichtenportal Medusa 17 bis 18 Millionen Wahlzettel zusätzlich in die Urnen gestopft wurden, um den Sieg Putins aufzuhübschen.
Selensky hat absolut recht, wenn er sagt, dass die Mehrheit der Russen ein gewöhnliches Leben führt und den Krieg nicht wahrnimmt. Aber dass ein Verbot, Schengen-Visa auszustellen, Millionen Russen dazu veranlassen würde, auf die Straße zu gehen, ist fraglich. Ich glaube nicht, dass es so käme.
Putins Wähler reisen nicht
Erstens besitzen nur etwa dreißig Prozent der Russen überhaupt einen Auslandspass, und von denen bekennen die meisten sich zu liberalen Werten und sind gegen Putin. Die Wähler Putins reisen nicht nach Europa, daher wird dieser Schritt die Mehrheit der Russen nicht beeinflussen.
Zweitens erinnern wir uns daran, dass die Proteste gegen Putin ihren Höhepunkt anlässlich seiner Rückkehr nach der Medwedew-Periode 2012 erreichten, als die Russen sehr viel durch Europa reisten. Russland ist auch deswegen so autoritär geworden, weil die Leute weniger reisen, die Welt nicht sehen. Wenn sie Europa nicht sehen, glauben sie der Propaganda eher. Das Visaverbot ist tatsächlich ein Geschenk für Putin und seine Propaganda.
Übrigens waren die Belarussen vor der niedergeschlagenen Revolution 2020 besonders viel in die EU gereist, hatten dort studiert und gearbeitet, was die Gesellschaft stark veränderte. Selensky verlangt nicht, die Einreise belarussischer Staatsbürger zu verbieten, obwohl aus Belarus Raketen in die Ukraine fliegen.
Selensky ist dabei der einzige europäische Präsident, der Swetlana Tichanowskaja nicht anerkannt hat, er bleibt mit Präsident Lukaschenko im Kontakt. Dabei wäre es logisch, auch uns Belarussen die Einreise nach Europa verbieten zu lassen, denn da wir den Kampf gegen Lukaschenko verloren haben, trifft uns gewissermaßen eine Kollektivschuld.
Die Geschichte zeigt leider, dass arme und geschlossene Gesellschaften nicht um ihre Freiheit kämpfen, von der Freiheit anderer ganz zu schweigen. In Russland wird jeglicher Widerstand gegen den Krieg umgehend bestraft. Und zwar beispielsweise mittels Technologie zur Auflösung von Demonstrationen, die noch nach der Krimannexion Frankreich Russland zur Verfügung stellte.
Aber warum diskutieren Selensky und andere Länder so lautstark eine Maßnahme, die wenig Wirkung hätte und eher an Rache erinnert, auf die nur Selensky wirklich ein Recht hat? Wohl weil die anderen einigermaßen wirksamen Maßnahmen erschöpft sind.
Wenn Deutschland ständig Gründe findet, um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine auszubremsen, wenn die wichtigsten Länder Europas ihre Militärhilfe an die Ukraine herunterfahren, wie das amerikanische Journal Politico zuletzt meldete, wenn es nicht gelingt, auf russisches Öl und Gas sofort zu verzichten, wenn man weiter – über Umwege – Ersatzteile für russische Panzer verkaufen will, dann bleibt wenig mehr als Populismus. Wenn für entscheidende Schritte der Mut fehlt, muss man den Kampf imitieren.
Die Epoche halber Maßnahmen
Amerika befindet sich in einer ähnlichen Lage wie Europa. Washington steht in diesen Tagen vor dem Dilemma: Da fast das gesamte Instrumentarium zur Druckausübung erschöpft ist, bleibt nur noch, Russland zum Terrorismus-Sponsor zu erklären. Dann treffen die Sanktionen aber nicht nur Russland, sondern alle Länder, die mit ihm Handel treiben. Sind die USA dazu bereit? Wohl kaum, aber zuzugeben, dass man sich zu entschiedenen Maßnahmen nicht durchringen kann, dazu sieht sich niemand imstande.
Die Strategie der antirussischen Alliierten sieht ungefähr so aus: Wir dürfen Putin nicht siegen lassen, weil er sich dann stark fühlt und halb Europa verwüstet; aber wir können ihn auch nicht verlieren lassen, weil er dann in Wut gerät und wiederum halb Europa verwüstet. Daher möchte Europa alle möglichen Mauern errichten, alle Vorhänge der Welt herunterlassen und nur kleine Schlupflöcher lassen, durch die man über Drittländer sanktionierte Waren nach Russland liefern kann.
In dieser Epoche halber Maßnahmen startet Europa einen Großangriff der symbolischen Gesten, die leider nicht klug sind. Viel klüger wäre es beispielsweise, die Visavergabe nicht auszusetzen, sondern sie um das Dreifache zu verteuern und bekannt zu geben, dass 75 Prozent des Entgelts der Ukraine zugutekommt.
Welche Entscheidung die europäischen Länder in dieser Frage in nächster Zeit auch treffen, die Antwort auf die Frage: „Kann etwas Russisches durch Europa reisen?“ wird am Ende lauten: „Ja, wenn es sich um Gas handelt.“
Sasha Filipenko ist ein belarussischer Autor, der auf Russisch schreibt und nach Europa geflohen ist. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt der Roman „Die Jagd“.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der FAZ erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, den Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen, und Kerstin Holm für die Übersetzung aus dem Russischen.