Das zivilisierte und das barbarische Europa
Wie der Krieg in der Ukraine das Verhältnis zwischen West- und Osteuropa neu definiert
Im Jahr 1995 hielt der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien einen Vortrag über das Wesen der internationalen Ordnung nach dem Kalten Krieg. Seine Überlegungen überraschten viele der Zuhörer. Entgegen dem allgemeinen Konsens, dass Konvergenz – sprich: die Übernahme westlicher Modelle und die Verbreitung westlicher Werte in der nichtwestlichen Welt – die dominierende Kraft der Gegenwart darstelle, sah Geertz die Zukunft durch wachsende Divergenz und Pluralismus im Osten wie im Westen gekennzeichnet.
Geertz stellte sich eine von Identität besessene Welt vor, in der „ein Strom von undurchsichtigen Spaltungen und seltsamen Instabilitäten“ dominieren werde. Eine Welt, die sich weniger mit der Neuziehung von Grenzen zwischen Staaten als mit der Neuverhandlung unsichtbarer kultureller, wirtschaftlicher und politischer Brüche innerhalb der Gesellschaft befassen werde. Ihm kam das Ende des Kalten Kriegs dem Ende des künstlichen Zusammenhalts gleich, der durch die Logik der ideologischen Konfrontation zwischen dem kommunistischen Osten und dem liberalen Westen geschaffen worden war.
Um diese neue Welt zu verstehen, so Geertz, sei es wichtig, zu begreifen, „wie die Menschen die Dinge betrachten, auf sie reagieren, sie sich vorstellen, sie beurteilen, mit ihnen umgehen“. Es gehe darum, sich auf „Denkweisen einzustellen, welche auf Besonderheiten, Individualitäten, Seltsamkeiten, Diskontinuitäten, Kontraste und Singularitäten reagieren“.
Es stellte sich heraus, dass Geertz mit seiner Vorhersage recht hatte, dass das Zeitalter der Identität das Zeitalter der Ideologien ablösen werde. Die institutionelle Einigung Europas in Form der Erweiterung der Europäischen Union bedeutete nicht den Tod der Identitätspolitik, sondern deren Aufschwung.
Im letzten Jahrzehnt hat die Europäische Union einen Tanz aufgeführt, welcher der Quadrille des 19. Jahrhunderts sehr ähnelt, bei der die Teilnehmer ständig Partner und Rollen wechseln. Die EU sah sich mit der Krise der Euro-Zone in den Jahren 2009/2010 herumgewirbelt; sie wurde 2014 durch die russische Annexion der Krim aus dem Gleichgewicht gebracht (und agierte dabei, nach den Worten des späteren deutschen Außenministers Sigmar Gabriel, wie „ein Vegetarier, der zum Cocktail von Kannibalen eingeladen wurde“). Sie sah sich durch die Flüchtlingskrise von 2015 zutiefst destabilisiert; und sie wurde durch den Brexit von 2016 erneut kräftig durchgeschüttelt.
2020 brachte die Corona-Pandemie die Union für eine Weile zum Stillstand, als die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten teilweise geschlossen wurden. Eine festgefrorene Welt schien bedrohliche Realität zu werden.
All diese Krisen haben Spaltungen und Verwerfungen in der EU offengelegt, zugleich haben sie das bestehende Kräftefeld umgestaltet und neue politische Konstellationen und Allianzen zwischen den Mitgliedstaaten ermöglicht, die zuvor als undenkbar galten. Die Überwindung verschiedener Zerfallskrisen gab der EU Gelegenheit, ihre Integration zu vertiefen.
Der ewige Ost-West-Gegensatz
Während die Krise der Euro-Zone das Nord-Süd-Gefälle zutage förderte, hob die Flüchtlingskrise dieses auf und brachte stattdessen ein Ost-West-Gefälle an die Oberfläche. Dabei wurde jedoch deutlich, dass die wichtigste Kluft in Europa nicht zwischen den Staaten, sondern innerhalb jeder einzelnen europäischen Gesellschaft besteht, und zwar insbesondere zwischen städtischen Zentren wie Berlin, Budapest und Paris und dem, was die Franzosen „périphérie“ nennen – ländliche oder deindustrialisierte Gebiete, deren Bewohner sich als Verlierer der Globalisierung und der europäischen Integration fühlen. Es war diese Art von Spaltung innerhalb des Vereinigten Königreichs, die zum Brexit führte, der bisher bedeutendsten Herausforderung für die EU.
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine markiert die Wiederkehr all dieser Krisen. Europa lebt jetzt in Angst vor Inflation und Rezession; der Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine ist doppelt so groß wie die Flüchtlingswelle von 2015; und die „Kannibalen“ haben die Europäer gezwungen, ihren „Vegetarismus“ zu überdenken. Doch all diese Krisen werden dieses Mal ganz anders erlebt.
Zumindest für den Moment hat der Ukraine-Krieg Europa eher geeint als geteilt. Er hatte auch dramatische Auswirkungen auf die europäische politische Vorstellungskraft. Er hat das Narrativ des Kalten Kriegs, das die Politik der letzten Jahrzehnte prägte, durch ein Narrativ der Entkolonialisierung – des langsamen und schmerzhaften Todes des Sowjetimperiums – ersetzt und gleichzeitig die europäischen Grenzen definiert, indem er Russland ausschloss und Europa auf die künftigen Grenzen der EU reduzierte. Was bis gestern eine politische Grenze war, wurde zu einer kulturellen Grenze umgedeutet.
Der Ost-West-Gegensatz war schon immer von zentraler Bedeutung für die europäische Selbstdarstellung. In seinem klassischen Werk „Inventing Eastern Europe“ hat Larry Wolff gezeigt, dass der Eiserne Vorhang schon viel früher gezogen wurde als in Winston Churchills Rede in Fulton 1946. In jedem historischen Moment seit der Aufklärung hat sich Europa über seine Beziehung zum Osten definiert.
Jahrhundertelang kam das Überschreiten der Grenze zwischen Preußen und Polen dem Übertritt vom zivilisierten Europa ins barbarische Europa gleich. In der philosophischen Geografie des Westens war Osteuropa gleichzeitig Europa und Nichteuropa. Der Gegensatz zwischen den liberalen Demokratien und den sozialistischen – später postsozialistischen – Gesellschaften war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die dominierende politische Rahmung dieser Kluft. Der Westen galt als Modell für den Osten.
EU: Schöpfung gescheiterter Imperien
Mit dem Krieg in der Ukraine stand die moralische Autorität des Westens plötzlich infrage. Polen, Tschechen und Balten verkünden lautstark, dass sie im Recht und die Westeuropäer im Unrecht seien, wenn es um Russland gehe. Der Osten erklärt, der Westen habe es versäumt, eine Welt zu verstehen, die viel stärker durch das Erbe der Imperien als durch das Erbe des Kalten Kriegs geprägt sei.
Imperien waren für das europäische Projekt von konstitutiver Bedeutung. Der gefährlichste Mythos Europas sei, so der amerikanische Historiker Timothy Snyder, dass die EU von kleinen und mittleren Nationalstaaten gegründet worden sei.
In Wirklichkeit, so schreibt er, „ist die Europäische Union die Schöpfung gescheiterter oder scheiternder europäischer Imperien. Am Anfang steht Deutschland. Die Deutschen wurden 1945 im entscheidendsten und katastrophalsten Kolonialkrieg aller Zeiten besiegt. Wir erinnern uns an ihn als den Zweiten Weltkrieg. Auch Italien hat 1945 einen Kolonialkrieg in Afrika und auf dem Balkan verloren. Nicht lange danach, 1949, verloren die Niederlande einen Kolonialkrieg in Ostindien. Belgien verlor 1960 den Kongo. Und Frankreich, das sowohl in Indochina als auch in Algerien besiegt wurde, wendet sich Anfang der sechziger Jahre entschieden Europa zu. Dies sind die Mächte, die das europäische Projekt ins Leben gerufen haben. Keiner von ihnen war zu dieser Zeit ein Nationalstaat. Keiner von ihnen war jemals ein Nationalstaat gewesen.“
Erst mit der EU-Osterweiterung von 2004 haben sich die klassischen Nationalstaaten dem Integrationsprojekt massenhaft angeschlossen. Da sie in der Vergangenheit Gegenstand imperialer Begierden waren, haben sie natürlich eine ganz andere Sensibilität als die ehemaligen Imperien, die das europäische Projekt initiierten.
EU: Postmodernes Imperium
Erst seit den Neunziger-Jahren neigt die EU dazu, sich selbst als ein einzigartiges postmodernes Imperium zu betrachten, das von Ländern umgeben war, die sich ihm unbedingt anschließen wollten. Wie andere Imperien zuvor warb sie für Recht, Frieden und Handel. Die europäischen Eliten waren gezwungen, zu verstehen, dass es darauf ankam, Spaltungen anzuerkennen und zu lernen, mit ihnen zu leben, anstatt zu hoffen, sie zu überwinden. Die EU feierte die kulturelle Vielfalt und verurteilte den Nationalismus.
Im Gegensatz dazu waren die osteuropäischen Nationalstaaten, die 2004 der EU beitraten, weit eher von den Ideen der nationalen Souveränität und der ethnischen Homogenität besessen. Ethnische Homogenität wurde als Mittel zum Abbau von Spannungen, zur Erhöhung der Sicherheit und zur Stärkung demokratischer Tendenzen angesehen.
Minderheiten wurden mit Misstrauen betrachtet. Nicht nur die Nationalisten, sondern auch die Kommunisten (die sich selbst als Internationalisten bezeichnen) glaubten an die zentrale Bedeutung ethnischer Homogenität. Um sich erfolgreich in die EU zu integrieren, mussten sie das verlernen, was für viele von ihnen immer noch die wichtigste Lektion des 20. Jahrhunderts war: dass ethnische und kulturelle Vielfalt eine Sicherheitsbedrohung darstellt.
Zum einen scheint der Krieg in der Ukraine die letzte Ausprägung der politischen Geografie Europas zu sein, die auf einer Ost-West-Teilung basiert. In diesem Fall ist die Ukraine der Westen und Russland der Osten, der nie zu Europa werden wird. Zum andern verändert der Krieg das Wesen der EU-Grenzen.
Das europäische Projekt war immer dadurch gekennzeichnet, dass man nicht bereit oder in der Lage war, die endgültigen Grenzen Europas zu definieren. Die EU war ein Imperium, das durch harte Budgets und weiche Ränder definiert wurde. Dieses war eng mit der Idee verbunden, dass Europa nicht an den Grenzen der EU endet. Die Verschiebung der EU-Grenzen war immer eine Frage der Transformation der Nachbarn.
Der Krieg in der Ukraine stellt die EU jedoch nicht vor die Frage, wie sie ihre Nachbarn verändern kann, sondern vor die, wie sie sich gegen feindliche Mächte wie Russland zur Wehr zu setzen vermag, die sie verändern oder zerstören. Plötzlich werden harte und verteidigungsfähige Grenzen gefordert, selbst wenn dies mit höheren Haushaltsdefiziten verbunden ist. Und Europa und die EU werden immer kongruenter.
So hat der Einmarsch Russlands in die Ukraine es der EU ermöglicht, die politische Kluft zwischen dem ehemaligen Imperium und dem Nationalstaat zu überbrücken, und die Europäer gezwungen, die Zukunft ihres politischen Projekts in veränderter Weise wahrzunehmen. Um die Souveränität und die Werte der EU zu verteidigen, identifizieren sich Deutsche und Franzosen mit der nationalen Befreiungsbewegung der Ukrainer, während polnische Nationalisten der Besessenheit von ethnischer Homogenität den Rücken kehren, indem sie die Grenze zu ihrem östlichen Nachbarn öffnen. Die „fremdenfeindlichen Polen“ von 2015 haben mittlerweile mehr als drei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, und die fiskalkonservativen Deutschen von 2010 unterstützen nun wirtschaftlich kostspielige Sanktionen, um Russlands Kriegsmaschinerie zu stoppen.
Der Politologe Ivan Krastev ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Dieser Text ist ursprünglich in Englisch in IWM-Post Nr. 129 erschienen. Die Übersetzung des Beitrags ist am 9.7.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung. Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.