Röttgen: Gegen die europäische Ohnmacht

Norbert Röttgens Buch „Nie wieder hilflos“ ist auch eine Abrechnung mit der Ära Merkel

Norbert Röttgen
Röttgens Maxime lautet nicht mehr, Sicherheit sei nur mit Russland möglich, sondern es gehe heute um „Sicherheit vor Russland“.

Woran erkennt man einen Transatlantiker? An seinen „false friends“. Die „Biden-Administration“ oder „Administration Biden“, von den USA-Kennern nonchalant eingedeutschte Begriffe, verwaltet jedoch nicht die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern regiert sie. Der Transatlantiker ist auch darin zu erkennen, dass er bereit ist, die politischen Ansichten Washingtons „zu teilen“, meistens vorbehaltlos; er missbilligt, wenn die Bundesregierung nicht mitgeht, wenn die Großmacht etwas „ausrollt“.

Norbert Röttgen benutzt diese gängigen Begriffe, er ist zweifellos ein Transatlantiker, aber kein dogmatischer. Er sieht, dass es nicht bleiben kann, wie es ist. Für ihn ist unübersehbar, dass die Europäer Auswege aus dieser Abhängigkeit suchen müssen, um sich künftig nicht wieder in der Lage zu befinden, eine „verheerende Außenpolitik“ mittragen zu müssen wie zuletzt „die Folgen einer desaströsen amerikanischen Politik des Rückzugs aus der Welt“, speziell aus Afghanistan.

In einem schmalen Bändchen von 130 Seiten handelt der CDU-Außenpolitiker die Missstände in der deutschen und europäischen Politik ab: Die massenhafte Einreise von Flüchtlingen 2015 sei eine „Krise mit Ansage“ gewesen, „die uns jedoch erneut unvorbereitet getroffen hat“. Zu Covid schreibt er: „Deutschland fiel zurück in einen reagierenden und dem Krankheitsverlauf hinterherhechelnden Modus.“ Und die verschleppte und schleppende Klimapolitik sei „kein bisschen entschuldbar“.

Bezüglich der Weltlage urteilt Röttgen, die europäischen Regierungschefs hätten sich bis kurz vor Beginn des Putin-Russländischen Kriegs „so disparat und einzeln agierend gezeigt, dass es geradezu eine Demonstration europäischer Ohnmacht war“. Der Außenpolitik bescheinigt er generell „Hilfslosigkeit“. In China erkennt er die „Herausforderung des Westens, auf die wir noch immer nicht vorbereitet sind“. Und der „prekäre, ja gefährdete Zustand der amerikanischen Demokratie“ ist für ihn (mit Blick auf das mögliche Ergebnis der kommenden Präsidentschaftswahlen) „die größte Gefahr für die Sicherheit Europas“.

Röttgen fällt ein verheerendes Urteil über einen Zustand der Politik des Westens. Und das gerade in dieser „revolutionären Zwischenphase“, in der es „um unsere Selbstbehauptung als Deutsche, Europäer und als Westen“ gehe und darum, „dass wir unsere Lebensweise behaupten und verteidigen müssen“.

Röttgen und Russland

Selbstverständlich ist der Krieg in der Ukraine auch bei Röttgen zentral. Auch auf diesem Feld war alle bisherige Politik falsch: Röttgen nennt jene, die sich nicht eindeutig positionieren, gar der russischen Propaganda folgten und den Aggressor zum Opfer stilisierten, „nützlichen Idioten“. Viele europäische Politiker, deutsche zumal, hätten „beschwichtigt“ und vergeblich versucht, „mit guten Worten den russischen Präsidenten von einem Krieg gegen die Ukraine abzuhalten. Mehr als gute Worte hatte jedoch keiner anzubieten.“ Er benutzt das Wort „Appeasement“ und meint damit eine „Politik ständigen Nachgebens gegenüber dem Aggressor, die in Putin die Überzeugung genährt hat, dass die Reaktion des Westens auf seinen Einmarsch verkraftbar ausfallen würde“.

Röttgen lässt keinen Zweifel daran, dass der Überfall Putin-Russlands auf die Ukraine unentschuldbar sei. Aber er stellt auch die Frage nach einer gewissen „Mitverantwortung“ des Westens. Warum hat „der Westen“ nicht erkannt, „was das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine für Putin innenpolitisch bedeutete“?

Eine direkte Antwort auf diese selbst gestellte Fragen freilich gibt auch Röttgen nicht. Er weicht aus: Die Nato-Erweiterung habe keineswegs eine „Bedrohungslage für Russland herbeigeführt“. Die Erweiterungen seien nicht durch ein „Ausdehnungsbedürfnis der Nato“ entstanden, sondern die Staaten hätten sich freiwillig und aus einem Schutz- und Beistandsbedürfnis angeschlossen. „Die Staaten haben Schutz vor Russland gesucht!“ Und Putin wisse, „dass es sich bei der Nato um ein Verteidigungsbündnis handelt“.

Röttgen räumt aber ein, dass die Absicht, der Ukraine und Georgien die Nato-Mitgliedschaft anzubieten, zwar „selbstverständlich objektiv keine Bedrohung für Russland“, aber ein Fehler war. Die Aufnahme der beiden Staaten in der Nato wäre „mehr gewesen, als Putin vor allem innenpolitisch damals hätte schlucken können“.

George W. Bush traf diese Entscheidung vor dem Nato-Gipfel in Bukarest 2008 gegen den Rat seiner Russland-Beraterin Fiona Hill, und nur der Widerstand von Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Staatschef Nicolas Sarcozy konnten das verhindern; den beiden Staaten wurde die Mitgliedschaft nur noch in Aussicht gestellt. Röttgen erkennt darin den zweiten Fehler. Für Putin blieb es eine „Provokation“, aber er konnte das „unglückliche Agieren des damaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili“ noch im selben Jahr ausnutzen, so Röttgen, und die Regionen Südossetien und Abchasien ohne die Gefahr einer Nato-Reaktion besetzen.

Als „Teil der Wirklichkeit“ anerkennt Röttgen die Verhöhnung und Demütigung Russlands durch US-Präsident Obama („Regionalmacht“). Kritisch sieht Röttgen auch den völkerrechtswidrigen Krieg der USA im Irak und die „Überdehnung der Politik des liberalen Interventionismus mit dem Ziel des Regime Change in anderen Staaten“. Diese Politik habe die Legitimation des Westens beschädigt. Macrons vernichtende Aussage über die Nato („hirntot“) und sein Alleingang für einen „strategischen Dialog“ mit Russland, der Streit um Nord Stream 2, die Suche nach Nähe zu Russland von Orbáns Ungarn, aber auch Italiens, habe dazu geführt, dass der Westen, weil uneinig, „keine sehr abschreckende Wirkung auf Putin entfaltet“ habe.

D­­ie Politik des Westens sei „durch Unklarheit, Unentschlossenheit und Inkonsequenz geprägt“ gewesen. Röttgen gesteht allerdings ein: „Welche Wirkung eine entschiedene Politik der Abschreckung gegenüber Russland gehabt hätte, bleibt eine hypothetische Frage.“

Röttgens Vorstellungen von der Zeitenwende

Immerhin: Die Zeitenwende sei ja inzwischen angekündigt. Für Röttgen heißt das: „Wir müssen unsere Widerstandsfähigkeit – gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich, technologisch – erhöhen.“

Röttgen verlangt „eine grundlegende Überholung unserer Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, eine grundlegend neue Ausrichtung unserer Energiepolitik und ein ganz anderes außenpolitisches Verständnis von uns, von Europa und unserer Rolle und den Notwendigkeiten des Handelns in der Welt“, Punkte, die im Wahlkampf im Herbst (außer Klimapolitik) außen vor geblieben waren.

Offensichtlich haben sich mit Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine die Prioritäten gänzlich verschoben. Röttgen plädiert dafür, die noch betriebenen Atomkraftwerke länger laufen zu lassen und – vorübergehend – verstärkt Kohlekraftwerke einsetzen. „Die Beendigung des Krieges in Europa und der Stopp von massenhaftem Sterben durch einen Angriffskrieg müssen Priorität haben gegenüber diesen bedeutsamen Zielen der deutschen Energie- und Klimapolitik.“

Auch in der Frage der EU-Mitgliedschaft der Ukraine, Moldaus und Georgiens hat die Realität Röttgen bereits ein-, wenn nicht überholt. Den Beitrittsprozess einzuleiten sei nicht realistisch. „Wir müssen erkennen und zugeben, dass sich die Mechanismen und Instrumente der Europäischen Union erschöpft haben.“ Eine assoziierte Mitgliedschaft sei diesen Ländern und denen auf dem Balkan anzubieten, außerdem Hilfe bei der politischen Transformation. „Ein europäischer Marschallplan ist das Gebot der Stunde und in unserem eigenen Interesse.“

Deutschland müsse „von einer reaktiven zu einer initiativen Außenpolitik kommen“, schreibt der CDU-Politiker. Dazu brauche das Land eine „permanente strategische Krisenvorausschau“. Auch Deutschland müsse „wehrfähig“ sein. „Ohne ein schlagkräftiges Militär sind unsere diplomatischen Bemühungen weniger wert. Wir werden in entscheidenden Fällen nicht ernst genommen.“

International betrachtet will Röttgen den europäischen Pfeiler der Nato gestärkt sehen, das sei eine „Bringschuld der Europäer“. Dazu gehört mehr finanzielle Beteiligung, das 2-Prozent-Ziel. Röttgen hält es allerdings für geboten, „dass sich die militärischen Beiträge und die politische Verantwortung annähern“. Im Klartext heißt das, die Europäer müssten die bisherige Präferenz der USA konterkarieren, „dass sie mehr Verteidigungsleistung von den Europäern wünschen, aber nicht mehr politische Mitsprache“.

Auf Chinas offensivere Außenpolitik solle der Westen gemeinsam agieren. Europa müsse aber klarstellen, dass es keinen Kalten Krieg wolle, aber – anders als die USA – Möglichkeiten der Kooperation suche.

Zentraler Punkt aber bleibt bei Röttgen eine „neue Ostpolitik“, die „bis auf Weiteres von Russland als Aggressor ausgehen“ müsse. Die Maxime laute nun nicht mehr, Sicherheit sei nur mit Russland möglich, sondern es gehe um „Sicherheit vor Russland“. Das schließe nicht aus, das Land nach Putin „in die gemeinsame Friedens- und Freiheitsordnung zu integrieren“. Bis dahin solle die Hand gegenüber dem russischen Volk ausgestreckt bleiben, gesellschaftliche und kulturelle Beziehungen sollten „angepasst und fortgeführt werden, wo immer dies möglich ist. Auch dies sollte ein konzeptioneller Bestandteil einer gemeinsamen Ostpolitik der EU sein.“

Röttgen hat eine sehr eingängige Zusammenfassung der deutschen Außenpolitik seit der Jahrhundertwende geschrieben. Sein Vorwurf: Deutschland hat es versäumt, sich in der Zeit des Friedens für rauere Zeiten zu wappnen. Es war seine Partei, die CDU, die meist die Regierung anführte. Den Namen der ehemaligen Bundeskanzlerin, die sich kürzlich ein gutes Regierungszeugnis ausstellte, nennt der Autor nicht ausdrücklich. Trotzdem: Sein „Manifest“ kann als Abrechnung mit der Außen- und Sicherheitspolitik der Ära Merkel gelesen werden.

Norbert Röttgen

Nie wieder hilflos! Ein Manifest in Zeiten des Krieges

dtv
137 Seiten
Paperback
14 Euro
ISBN 978-3-423-26204-0
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