Putins Krieg: Rückblickende Rechthaberei
Rüdiger von Fritsch weist Russlands Imperialismus scharf zurück, verlangt aber auch Ehrlichkeit vom Westen
Hat sich die deutsche Politik in ihrem Bemühen um Frieden mit Russland, um Einbindung und Dialog, um Wandel durch Handel naiv und blauäugig verhalten? Rüdiger von Fritsch nennt solche Vorhalte „rückblickende Rechthaberei“, die „eine Linearität Russlands und eine Zielgerichtetheit Wladimir Putins“ unterstelle.
„Wladimir Putin hat das Schachbrett umgeworfen“, muss auch der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau (2014 bis 2019) einräumen. Aber: „Das macht weder die Regeln des Schachs noch frühere Züge falsch.“
Wladimir Putin habe die Politik des Westens an Grenzen geführt, schreibt Fritsch in seinem neuen Buch mit dem Titel „Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen“. Nach dem Überfall auf die Ukraine sei Sicherheit mit Russland „gegenwärtig nicht länger denkbar“. Jetzt seien „Entschlossenheit, Festigkeit im Bündnis und Bereitschaft zur Abschreckung“ verlangt.
Es ist von Fritschs zweites Buch über „ein Land, dem ich noch immer in großer Sympathie verbunden bin“. Im ersten, „Russlands Weg“, setzte er bei aller Empörung über Putins Politik von Krim bis Nawalny wie so viele auf Dialog. „Verstehen heißt nicht billigen“, schrieb er 2020, „aber den anderen zu verstehen und seine Motive zu begreifen – das ist die Voraussetzung erfolgreichen Handelns.“ Der Dialog müsse „ganz unbedingt aufrechterhalten“ werden. Sein Motto damals: „Haltung bewahren und im Dialog bleiben.“
Unbeachtete Urängste
Nun aber, spätestens seit dem 24. Februar 2022, ist die europäische Welt eine gänzlich andere geworden, gewalttätig verändert durch einen „autokratischen Führer, der sich mehr und mehr der Beratung entzieht, dessen Weltsicht sich verzerrt, der einen sehr eigenen Blick auf die Geschichte hat und von einem Gefühl der Bedrohung getrieben ist“. Putin habe den Versuch, Sicherheit gemeinsam zu gestalten, „zunichtegemacht und ein Zeitalter der Konfrontation eingeleitet“. Daraus zieht von Fritsch klare Konsequenzen.
Klare Konsequenzen heißt klare Kante. Verstehen und Dialog haben sich als untauglich erwiesen. Russland fehle „jedes Verständnis für die Urängste der Menschen in Ostmitteleuropa, die durch das russische Ausgreifen 2014 wieder geweckt worden waren“, schreibt von Fritsch.
Der Vorwurf, über die Sorgen der osteuropäischen Staaten hinwegzugehen, traf auch Deutschland. Mehrere Regierungen hätten „Russlands Sicht und Befindlichkeit“ seit den neunziger Jahren zu sehr beachtet. Das habe, so von Fritsch, dem Land von westlichen Partnern häufig den „Vorwurf zu großer Nähe zu Russland“ eingetragen.
Urängste reklamieren allerdings auch Menschen in Russland. Napoleon? Hitler? Nato? Von Fritsch kann die „ständigen russischen Klagen, nicht berücksichtigt, nicht beteiligt, ja herabgesetzt zu werden“, nicht mehr hören. Und das mit guten, den bekannten Argumenten:
„Putins Herrschaft wurde nicht von der Nato bedroht, sondern von Freiheit und Demokratie, die im Nachbarland erfolgreich vorgelebt wurden, das seinen Weg 1992 am gleichen Punkt begonnen hatte wie Russland.“ Nato-Truppen stünden in Europa nur in Mitgliedstaaten, russische dagegen in Georgien, Ukraine, Moldau. Und außerdem, so lautet das derzeit schlagendste Argument, hat Russland die Ukraine überfallen und endlich sein wahres Gesicht gezeigt.
„Wir müssen schon ehrlich mit uns sein“
Leider fallen bei der Analyse einzelner Ereignisse in der Vergangenheit einige Fakten unter den Tisch. Nebensächliche? Jedenfalls ermöglicht fehler- oder lückenhafte Argumentation Putin und seinen Apologeten immer wieder billigen Widerspruch.
Beispiel Georgien: 2008, so schreibt der Autor, „nutzte Russland im Krieg mit Georgien die Gelegenheit, Teile des Nachbarlandes de facto zu annektieren“. Was war die „Gelegenheit“? Dass Georgiens Militär am 8. August 2008 in Südossetien einrückte und die Hauptstadt Zchinwali bombardierte, findet keine Erwähnung. Auch nicht der Bericht der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini, Leiterin der vom Europäischen Rat eingesetzten „Unabhängige Untersuchungskommission zum Konflikt in Georgien“ (IIFFMCG – CEIIG), die Georgien für den Kriegsausbruch verantwortlich machte (aber auch die russische Antwort als unangemessen rügte).
Riskiert hatte Präsident Saakaschwili den Waffengang, ermuntert durch die USA, um die abtrünnige Provinz zurückzugewinnen, die seit der Unabhängigkeit Georgiens 1991 nach Eigenstaatlichkeit strebte. Das Ergebnis war desaströs: Russlands Militär entschied den Fünf-Tage-Krieg und anerkannte Südossetien (wie auch Abchasien) als unabhängigen Staat, tausende russische Soldaten blieben im Land. Nun soll sogar am 17. Juli eine Volksabstimmung über die endgültige Abspaltung und den Anschluss an Russland befinden. Ein sehr russisches Szenario, das sich gerade zu wiederholen scheint.
Beispiel Krim: 1991 entschied die Halbinsel Krim sich „dafür, zu Kiew und nicht zu Moskau gehören zu wollen“, so von Fritsch. Tatsächlich votierten im Januar 1991 auf der Krim (wie auch in anderen Teilen der UdSSR) rund 90 Prozent für Autonomie der Halbinsel von der Sowjetunion. Als später im ganzen Land die Unabhängigkeit der Ukraine zur Abstimmung stand, votierten auf der Krim bei vergleichsweise sehr niedriger Wahlbeteiligung 54 Prozent dafür (im ganzen Land 92 Prozent). Die Halbinsel blieb aber selbst unabhängig, hatte ein eigenes Parlament, eine Regierung, einen Präsidenten.
Bei den Wahlen 1994 siegte dann der sehr heterogene, aber grundsätzlich prorussische „Block Russland“ mit 73 Prozent der Stimmen. Im baldigen Streit zwischen den beiden Institutionen nutzte der als Schlichter gerufene ukrainische Präsident Leonid Kutschma die Gelegenheit, das Parlament aufzulösen und das Präsidentenamt auf der Krim abzuschaffen.
Keinesfalls kann dem Autor unterstellt werden, dass er aus unlauteren Gründen der „westlichen“ Argumentation zuwiderlaufende Argumente unterschlüge. Denn in anders gelagerten Fällen vermerkt von Fritsch immer wieder Fakten, die in der gegenwärtigen Debatte keine oder wenig Beachtung finden. Dazu gehört,
dass die Ukraine mit Blick auf die EU-Assoziation bei den Reformen „nur schleppend“ vorankam
dass Kiew ‚nicht lieferte‘ – nämlich die in den dort „unpopulären“ („man fühlte sich erpresst“) Minsker Vereinbarungen festgelegten Verpflichtungen
dass auch in der Ukraine Oppositionspolitiker inhaftiert, Protestierende erschossen wurden
dass die Wasserversorgung der „abtrünnigen“ Krim vom ukrainischen Festland „desolat“ war
dass 2019 trotz starken russischen Unwillens (hohe Kosten, marode Leitungen) ein Vertrag über den Transit russischen Gases durch die Ukraine nach Westeuropa“ geschlossen werden konnte, „eine für das Land wichtige Einnahmequelle“
dass auch Polen an der Durchleitung von Gas gen Westen verdiente, mit der Pipeline Jamal, „die in der Diskussion um Nord Stream zumeist genausowenig auftauchte wie andere russische Pipelines nach Europa“.
„Wir müssen schon ehrlich mit uns sein“, verlangt von Fritsch. Dazu gehört auch ein Hadern darüber, dass der Westen die Entwicklung zur Invasion der Ukraine nicht verhindern konnte: „Wir hätten noch entschlossener an einer wirklich gesamteuropäischen Friedensordnung arbeiten können.“ Das hieße wohl: Engere Zusammenarbeit zwischen Europa und Russland. Aber war das überall im sogenannten Westen gewünscht?
Russlands dunkle, ungewisse Zukunft
Hätte, Wenn und Aber sind derzeit nicht von Belang. Und so findet auch der Analyst von Fritsch zu klaren Urteilen. Er weist dem Land, dem er noch immer große Sympathie entgegenbringt, völlig klar und zurecht die Schuld am jetzigen Krieg in der Ukraine zu, oder besser: dessen Präsidenten, der diesen großen, gewalttätigen Krieg ausgelöst hat. „Wladimir Putin hat sein Land auf lange Sicht aus der internationalen Ordnung herausgenommen und es in eine dunkle, ungewisse Zukunft geführt.“
Auch von Fritsch hat, wie viele andere Analysten, wenig Hoffnung auf eine grundlegende Zeitenwende in Russland. Zu groß ist in Putins Sicherheitsnetz die Angst vor Volkserhebungen in Russland und separatistischen Entwicklungen mit großer Sprengkraft. Selbst wenn etwa das Militär („am ehesten vorstellbar“) sich gegen Putin stellte, würde außenpolitisch nichts ändern. „Weiterhin hätten wir es mit einem Russland zu tun, das einen imperialen Anspruch erhebt, Gefügigkeit von den Nachbarn erwartet, die Nato als bedrohlich sieht und sich Pufferzonen und Einflusssphären wünscht.“
Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen