Corona in Moskau
Eine Stadt zwischen wegschauen, verdrängen und hoffen: ein Reisebericht
Die Plastikhandschuhe, die er am Eingang einer staatlichen Behörde in Moskau kostenlos erhielt, hat Vasily angezogen. Aber dann hat den Historiker doch der Teufel geritten. Er wagte ein Experiment: Er zog seine Maske ab und wartete. Nichts geschah. „Niemand hat ein Wort gesagt“, sagt er etwas verwundert, „weder ein Mitarbeiter noch die Besucher.“
Vasily lebt in Deutschland und hat über die Feiertage seine Mutter in Moskau besucht. Auch ich reiste dorthin, um meine Familie und Freunde sehen zu können, die ich fast ein Jahr lang nicht mehr getroffen hatte.
Nach dem Ausbruch der Pandemie waren regelmäßige Flüge sowie Zugverkehr zwischen beiden Hauptstädten eingestellt, aber im Dezember waren Direktflüge aus Berlin nach Moskau-Scheremetjewo wieder möglich. Ich flog am 25. Dezember mit Handgepäck zum Spartarif von 316 Euro für Hin- und Rückreise nach Hause.
Nach mehreren Monaten mit Kontaktbeschränkungen, Teil-Lockdowns und Homeoffice in Berlin war ich sehr aufgeregt. Ich rechnete mit Warteschlangen auf dem Flughafen in Moskau und langwierigen Tests. Ich fürchtete mich vor einer Ansteckung in der viel größeren Großstadt mit den vielen Menschen. Ich hatte Angst, mir könnte ein Dokument fehlen, weswegen die Deutschen mich nicht aus- oder die Russen nicht einreisen lassen könnten. Oder – die schlimmste Sorge – ich erkranke in Moskau an Corona und darf nicht mehr nach Berlin zurückkehren.
Vollbesetztes Flugzeug, kein Abstand
Aber alles war einfach. Der Parkplatz am Flughafen BER war fast leer, drin gab es nur zwei Reihen Wartende am Check-in-Schalter: eine für Aeroflot und eine für Turkish Airlines. Dank meines russischen Reisepasses benötigte ich keine weiteren Papiere, nicht einmal den Nachweis eines negativen Covid-19-Tests musste ich vorlegen. An der Sicherheitskontrolle standen maskierte Menschen in versetzter Reihe und in gebührendem Abstand.
Im Flugzeug war das nicht mehr möglich; es war voll besetzt. Ich saß eingequetscht von zwei Menschen, als ob es keine Pandemie gäbe. Vor und hinter mir saßen Mütter mit schreienden Kindern, beim Einstieg weigerte sich ein Passagier, mit Atemschutzmaste zu fliegen. Nach einem Gespräch zwischen Fluggast und Flughafenzentrale traf er eine vernünftige Entscheidung.
Zahlreiche Erkrankte im Freundeskreis
In Berlin kannte ich bis dahin nur eine Person, die an Corona erkrankt war, mit mildem Verlauf. In Moskau kam mir das Virus viel näher: Schon der Taxifahrer, ein ehemaliger Polizist aus Kirgisien, erzählte von seiner Krankengeschichte. Zahlreiche Freunde und Bekannte berichteten über ihre eigene.
Die offizielle russische Statistik weist 3,5 Millionen Covid-19-Fälle aus, die deutsche rund zwei Millionen. In Moskau sind bisher fast 900 000 Fälle von Corona festgestellt (stand 14. Januar 2021), mehr als 12 241 Menschen mit Covid sind gestorben.
Seit Monaten gelten in Moskau öffentliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Die Impfkampagne läuft. Empfohlen werden häufiges Händewaschen, das Tragen von Mund- und Nasenschutz in der Öffentlichkeit und Abstand halten; wer älter ist als 65 Jahre, soll zu Hause bleiben.
Zwei große Einkaufszentren in der Nachbarschaft meiner Eltern kontrollieren, ob die Maskenvorschriften eingehalten werden, und messen am Eingang die Körpertemperatur. Die Regel ist das nicht, vor allem nicht im öffentlichen Nahverkehr. Die Moskauer U-Bahn transportiert viele Fahrgäste, die keine Maske tragen oder die Nase freilassen. Geschäfte, Restaurants und Bars sind in Betrieb.
Sehnsucht nach Kultur
„Ich freue mich darüber, dass die Geschäfte und Restaurants geöffnet haben“, sagt die Moskauer Rentnerin Marina. „Ich war während der Pandemie nur einmal in einem Café“, bedauert sie. „Aber ich würde gerne noch einmal gehen, ich mag es.“ Im Sommer, den sie in ihrer Datsche außerhalb der Stadt verbrachte, hätten ihr Freundinnen die Bilder der leeren Moskauer Straßen aufs Handy geschickt. „Da war kein Mensch drauf, kein Auto“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Das war merkwürdig.“
Marina würde gerne wieder Ausstellungen ansehen, Kultur genießen. „In den letzten Monaten war ich nur einmal im Theater“, bedauert sie. „Die Komödie war schlecht, aber die Menschen haben über jedes Wort gelacht.“ In der Pause, sagt sie, habe sich im Café eine lange Schlange gebildet, nach der Aufführung sei es zu einer Drängerei in der Garderobe gekommen. „Also alles wie immer, ohne Masken und Abstand. Es war allen alles egal.“
Corona verdrängen, Zusammenbruch vermeiden
Ihre Freundinnen und Freunde berichten: Viele Menschen lassen sich impfen, insbesondere Senioren, aber über das Virus sprechen sie selten, eher über Impfstoffe. Die Regierung versucht, die Pandemie zu bekämpfen, und die Menschen vertrauen ihr. „Ich habe den Eindruck, dass es bei uns insgesamt doch besser ist als in anderen Städten und Ländern“, glaubt auch die Rentnerin.
Vasily hat nicht nur in der Behörde beobachtet, dass die meisten Menschen in Russland, richtiger: in Moskau, nicht besonders auf Corona achten. „Sie haben keine Panik und bleiben nicht zu Hause sitzen, wie es im Frühling war“, sagt er. „Sie nehmen es gelassen und versuchen, diese Krise auf diese Weise zu überstehen.“ Natürlich riskiere niemand eine Ansteckung, sagt Vasily. „Aber um einen kognitiven Zusammenbruch zu vermeiden, verdrängt man düstere Gedanken.“