Russen sind wie Wetterfahnen
Der Soziologe Igor Erdman über die Zukunft Putins, der Ostukraine und der Krim
Meinungsumfragen zeigen, dass die meisten Russen nach wie vor den Krieg in der Ukraine befürworten. Das werde so bleiben, bis die Staatsmacht schwächelt, was innerhalb eines Jahres geschehen könne, meint der in Deutschland lebende russische Soziologe und Publizist Igor Erdmann. Mit ihm sprach KARENINA-Mitarbeiterin Anastasiia Kovalenko.
KARENINA: Kann man russischen Meinungsumfragen während des Kriegs glauben?
Igor Eidman: Die Umfragen in Russland bezüglich der Befürwortung des Kriegs sind der Situation nicht angemessen. Sie können das reale Bild der gesellschaftlichen Meinung nicht stimmig wiedergeben. In einem Polizeistaat, in dem die Menschen Angst haben, die Wahrheit zu sagen oder der staatlichen Linie, der Linie der Propaganda, zu widersprechen, sind sämtliche Umfragen über akute aktuelle politische Themen a priori irrelevant.
Die Daten der Umfragen sind überhöht, aber man sollte sie nicht völlig ignorieren. Anhand dieser Daten lassen sich bestimmte Tendenzen und die Entwicklungsdynamik analysieren.
Sie sind immer konstant zugunsten der Regierung überhöht. Nach Schätzungen meiner Kollegen, die diese Umfragen vornehmen, ist die positive Haltung zum Krieg und zu Putin um etwa 15 Prozent überhöht. Das heißt, sie wird konstant um 15 Prozent nach oben geschönt. Die Ergebnisse der Umfragen an sich ändern sich jedoch. Deshalb kann man nachverfolgen, wann Putins Umfragewerte steigen oder fallen.
Es wäre also nicht korrekt, zu sagen, 85 Prozent seien für den Krieg. Man kann jedoch sagen, dass nach der allgemeinen Mobilmachung, den Angaben des Lewada-Zentrums zufolge, die Zustimmungswerte für den Krieg und für Putin ein wenig abgerutscht sind.
Was sind das für Menschen, die den Krieg befürworten?
Ich habe keine wissenschaftlich begründeten Beweise, aber es gibt eine Hypothese auf der Grundlage der Umfrageergebnisse. Die gesamte Bevölkerung Russlands lässt sich in drei große Kategorien einteilen. 15 Prozent sind patriotische Faschisten, die sich bewußt für den Krieg aussprechen, 15 Prozent sind gegen den Krieg und gegen Putin eingestellte Bürger, der links-liberale, jugendlich-anarchistische Teil, das sind Menschen, die sogar bei Umfragen aussagen, gegen den Krieg zu sein. Die übrigen 70 Prozent, das ist der „Marais“, französisch für der „Sumpf“. Diese 70 Prozent sind nicht festgelegt, sie können da oder dorthin neigen. Gegenwärtig haben sie sich dem Lager der „Patrioten“ angeschlossen.
Der „Marais“ ist absolut loyal gegenüber der Staatsmacht. Was die Regierung sagt, was die Propaganda sagt, das tun sie, und das halten sie auch für richtig. Wobei diese Menschen keine klaren, stabilen Überzeugungen haben. Wenn morgen in Russland ein Umschwung stattfindet, und auf einmal kommt vielleicht Sergei Sobjanin an die Macht und sagt, es sei alles falsch gewesen, Putin sei verrückt geworden, dann sagen diese ganzen 70 Prozent, ja, stimmt, das haben wir schon immer gedacht.
Diese Menschen sind wie eine Wetterfahne, sie werden jede neue Regierung genauso unterstützen wie die vorherige. Sie drehen sich einfach in die neue Richtung. Die 15 Prozent Faschisten allerdings werden sich empören und protestieren.
Der „Marais“ orientiert sich am eigenen Wohlergehen, nicht an ideellen imperialen Werten. Er glaubt, die Regierung habe immer Recht. Das ist eine sehr bequeme konformistische Einstellung, und für einen Konformisten ist es immer einfacher, die Regierung zu unterstützen. Insbesondere in Russland.
Der Regierung Widerstand zu leisten, zieht immer sofort Probleme nach sich, es ist psychologisch lästig. Die Menschen aus dem „Marais“ bleiben sogar unter den Bedingungen der Sanktionen aufrichtige Unterstützer der Regierung, weil sie glauben, dass die Nato, Amerika und die Ukraine ihnen ihren Wohlstand geraubt haben, Putin dagegen sie beschützt.
Solange die Regierung stark ist, werden sie nicht begreifen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie werden überhaupt erst in der Lage sein, irgendetwas zu verstehen, wenn die Regierung ihren Zusammenhalt verliert und sie die Orientierung.
In der Sowjetunion, zum Beispiel, haben auch alle die Regierung unterstützt. Aber während der Perestroika ging diese Angst vor der Macht verloren. Das Informationsmonopol der Regierung ging verloren. Die Menschen wußten plötzlich nicht mehr, auf wen sie hören sollten. Wenn in Russland dieses Monopol verschwindet, wenn die Eliten sich spalten, und dafür sind die ersten Anzeichen bereits zu erkennen, dann kommt es zur Konfrontation.
Wie arbeitet die Propaganda in Russland?
Die Propaganda hat Putin zum Präsidenten gemacht. Es ist irrig, zu glauben, die Russen hätten Putin gewählt. Niemand hat Putin gewählt, er wurde ihnen einfach aufgezwungen.
Hätte Jelzin Boris Nemzow in dieser Weise als seinen Nachfolger präsentiert, dann wäre der genauso populär geworden. Nur hätte er eine ganz andere Politik gemacht.
Sobald Putin zum Nachfolger ernannt worden war, stiegen seine Umfragewerte sofort sprunghaft. Als Nemzow nach Moskau kam und Vize-Ministerpräsident wurde, und Jelzin ihn als seinen Nachfolger positionierte, stiegen seine Umfragewerte augenblicklich praktisch bis zu den Werten des Präsidenten.
Später, als das Fernsehen ihn im Zusammenhang der Auseinandersetzungen mit den Oligarchen niedermachte, fielen seine Umfragewerte drastisch ab. Das heißt, alles ist abhängig von der Regierung und ihren Propagandainstrumenten.
In Russland verwenden die offiziellen Medien keine normale menschliche Sprache. Sie befinden sich jenseits der menschlichen Kultur. Als wären sie Neandertaler oder so etwas, jedenfalls keine normalen Menschen. Aber die Leute, die am Tropf der Propaganda hängen, merken das nicht.
Andererseits hängen durchaus nicht alle an diesem Tropf. Die Jugend zum Beispiel schaut praktisch kein Fernsehen. Ich kann nicht sagen, dass die russische Jugend im Allgemeinen wahnsinnig progressiv und revolutionär wäre. Sie ist eher apolitisch und träge, aber sie will definitiv keinen Krieg. Auch das geben die Umfragen zu erkennen.
Und Angst haben sie alle. Aber je älter jemand ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er Putin gegenüber loyal und ein Befürworter des Kriegs ist. Weil der Informationskonsum der älteren Generation sich meistens auf das Fernsehen beschränkt, werden die Älteren mit dieser Propaganda regelreicht vollgepumpt.
Warum hat Russland wieder die Ukraine angegriffen?
Die radikalen Militärs fordern schon lange, die Städte zu bombardieren. Aber bevor der neue Kommandeur eingesetzt war, [Sergei Surowikin, der Kommandeur der gesamten russischen Streitkräfte in der Ukraine; Red.], bekannt durch die Flächenbombardierungen von Syrien, wollten die Militärs die nicht in ausreichender Menge vorhandenen Raketen nicht einsetzen. Sie wussten, dass sie den Ukrainern zwar das Leben schwer machen können, nicht aber die gesamte Infrastruktur radikal zerstören. Die Ukraine ist ein zu großes Land, und immerhin wird sie von der ganzen Welt unterstützt. Der Westen liefert ihr Abwehrsysteme und wird sie weiterhin liefern. Was in Syrien geklappt hat, wird deshalb dort nicht gelingen.
In etwa auf die gleiche Art wollte Hitler 1940 Großbritannien zur Kapitulation zwingen, aber daraus wurde nichts. Ja, es sind viele Menschen umgekommen, es gab schlimme Bombardierungen, schlimmer als in der Ukraine. Aber die Engländer blieben standhaft, die haben durchgehalten.
Was erwartet Russland nach dem Ende des Kriegs?
Nach Ende des Kriegs mit der Ukraine wird in Russland eine Zeit der Wirren kommen, wie es oft in der russischen Geschichte geschehen ist, wenn erfolglose Kriege zu inneren Unruhen führten. Die Bevölkerung wird sich den verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Elite anschließen. Es werden regionale und föderale Anziehungszentren entstehen. Die Spaltung der Eliten hat bereits begonnen.
Womit diese Zeit der Wirren endet, ist schwer zu sagen, aber auf lange Sicht glaube ich – vorausgesetzt, die Menschheit überlebt –, dass der postrussische Raum zu demokratischeren, liberaleren Organisationsformen findet. Ich glaube nicht, dass diese Wirren in Russland sehr lange dauern werden, aber sie sind unvermeidlich, weil das Element des Chaos jetzt schon entsteht. Und zwar innerhalb der Elite, was auch stimmig ist, denn der größte Teil der sozialen Umbrüche reift innerhalb der regierenden Elite heran.
Im Weiteren kommt es entweder zu einer atomaren Katastrophe, oder Putin wird vorher gestürzt. Ich meine, dafür bleibt etwa ein Jahr. Der Sturz Putins scheint mir am ehesten wahrscheinlich.
Putin ist natürlich absolut wahnsinnig, aber er ist ja nicht allein. Es wäre seltsam, wenn die gesamte russische Oberschicht gleichzeitig dem Wahnsinn verfallen wäre. Die meisten dieser Leute wurden gezwungen, sich zu unterwerfen, aber sind sie fassungslos darüber, wohin er sie treibt. Je mehr er sich der Katastrophe nähert, desto fassungsloser werden sie, und irgendwann werden sie doch versuchen, ihn zu beseitigen, weil die Angst vor dieser atomaren Katastrophe wächst.
Sie haben nicht den ideologischen Fanatismus, den Hitler und sein Umfeld besaßen. Vielleicht gibt sich der eine oder andere noch der idiotischen Hoffnung hin, dass im Winter ganz Europa einfriert und zu Putin gelaufen kommt und bettelt. Aber bald werden auch sie begreifen, dass die Welt zum Teufel geht. Wenn es im nächsten Frühjahr nicht zum Atomkrieg gekommen ist, werden sich die Illusionen in Luft auflösen.
Was den ökonomischen Konflikt mit dem Westen betrifft, werden die trübseligen Folgen für Russland sich erst im Frühjahr nächsten Jahres zeigen, wenn die Sanktionen gegen russisches Öl und Ölprodukte in Kraft treten. Die Petrodollars sind für den russischen Haushalt wichtig.
Danach könnten sich einzelne Republiken wie zum Beispiel Itschkerien von Russland lösen und unabhängig werden. Welche noch, das wird von den Völkern Russlands abhängen. Ich denke, es werden viele motiviert sein, weil in Russland viele Völker leben, darunter solche, die früher eigene Staatlichkeit besaßen.
Was die okkupierten ukrainischen Gebiete angeht – die müssen zurückgegeben werden. Wer immer an die Stelle von Putin tritt, wird sich sofort aus Donezk und Luhansk zurückziehen, denn das war alle diese Jahre nur ein „Koffer ohne Griff“, den Russland nicht braucht und der nichts als Probleme bringt.
Mit der Krim wird es schwieriger werden. Es gibt einen Archetypus des Massenbewußtseins, den ich noch aus sowjetischen Zeiten kenne. Als wir noch Teenager waren, sagten meine Freunde immer – vielleicht weil sie es so von ihren Eltern gehört hatten: „Chruschtschow hat die Krim an die Ukrainer verschenkt.“ Das hat man sich nicht erst in letzter Zeit einfallen lassen. Diese Legende hält sich schon lange in den Köpfen, und deshalb wird es ein zukünftiges Oberhaupt Russlands sehr schwer haben.
Vielleicht überlegt man sich Übergangsphasen, eine Krim unter internationaler europäischer Kontrolle, oder unter einer gemeinsamen Führung oder eine eigenständige Krim. Aber die Ukraine wird wohl kaum damit einverstanden sein, also ich glaube, letztlich wird die Krim wieder ukrainisch sein.
Werden die Ukrainer den Russen verzeihen?
Freundschaften und Konflikte zwischen den Völkern, das sind ziemlich relative Begriffe. Die Deutschen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa noch an die 50 Jahre lang gehasst, aber jetzt hat sich das Verhältnis vollkommen beruhigt. Alles geht vorüber.
Ich bin zum Beispiel ein Jude, der in Deutschland lebt. Aber Ich habe den Deutschen gegenüber keine negativen Gefühle. Mein Vater jedoch hatte den Deutschen gegenüber noch Vorurteile. Ich erinnere mich, wenn er ein Fußballspiel anschaute, fieberte er immer gegen die „Faschisten“, egal ob aus der DDR oder der BRD.
Das Thema Sprache wird nicht mehr so brisant sein. Gegenwärtig ist es das, aber offensichtlich als eine Abwehr der Versuche Russlands, die ukrainische Sprache und Kultur zu vernichten.
Andererseits ist klar, dass das Russische in der Ukraine niemals offizielle zweite Landessprache sein wird, genauso wie das Russische nicht zweite offizielle Landessprache in Deutschland sein könnte. Hier gibt es ja auch sehr viele russischsprachige Menschen, aber auf so einen Gedanken ist bisher noch niemand gekommen.
In Kiew will man jetzt das Bulgakow-Museum schließen. Ähnlich war es in Indien mit Kipling. Bulgakow, wie man aus seinen Büchern „Die weiße Garde“ oder „Die Tage der Turbins“ weiß, war in Bezug auf die Ukraine absolut imperial eingestellt, genauso wie Kipling in Bezug auf Indien, obwohl Bulgakow in der Ukraine geboren wurde und Kipling in Indien. Die Inder haben ihn lange Zeit in keiner Weise in Ehren gehalten, ein Kipling-Museum wurde in Indien erst vor zehn Jahren eröffnet.
Das heißt, erst ganze 60 Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens war man dort in der Lage, in Kipling etwas anderes zu sehen als einen Sänger des britischen Imperiums und des Kolonialismus, nämlich einfach einen großen Schriftsteller. Das ist ein ganz normaler Prozess. Aber das ist keine Bedrohung für die Kultur, denn die Kultur findet in den Köpfen statt, nicht in den Museen.