Das fatale Fehlen der Rüstungskontrolle

Abrüstungspolitik verlangt Prinzipienfestigkeit und einen unideologischen Blick auf die Interessen der Gegenseite

von Rüdiger Lüdeking
Rüstungskontrolle russische SS-20 Saber
War mit Gorbatschows und Reagans Unterschrift 1987 unter den INF-Vertrag und dessen Ratifizierung 1988 verboten: Russische Mittelstreckenrakete SS-20 Saber

Rüstungskontrolle erscheint wie ein Thema aus ferner Vergangenheit. Wer angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine von der Notwendigkeit von Rüstungskontrolle spricht, wird damit rechnen müssen, als naiver Idealist, Träumer oder unbelehrbarer Pazifist bezeichnet zu werden. Doch Rüstungskontrolle ist weder überholt noch unzeitgemäß. Deutschland kann einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Wiederbelebung leisten und sollte hierzu eine Führungsposition beanspruchen, auch um das Feld nicht allein auf Konfrontation gepolten Kalten Kriegern zu überlassen.

Es hat zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte Vereinbarungen zur Einschränkung des Gebrauchs militärischer Macht gegeben. Diese folgten vielfach gemachten Erfahrungen und zielten darauf ab, bestimmte Verhaltensmaßregeln für die Kriegsführung vorzugeben oder besonders perfide oder brutal-menschenverachtende Formen der militärischen Auseinandersetzungen zu verbieten. Für ersteres kann die Haager Landkriegsordnung von 1899 als Beispiel dienen, für letzteres das Genfer Protokoll zum Verbot chemischer und biologischer Waffen von 1925, mit dem die Konsequenz aus den Schrecken der Giftgasangriffe im Ersten Weltkrieg gezogen wurde.

Allerdings ist die Rüstungskontrolle nach heutigem Verständnis wesentlich ein Kind des Kalten Kriegs. Dabei entsprang sie – dies ist angesichts fortbestehender grundlegender Missverständnisse zu betonen – nicht einer naiven Friedenssehnsucht oder einem illusionären Pazifismus. Sie sollte vielmehr auf Basis der Gegenseitigkeit militärische Macht und ihren Gebrauch einschränken, um damit Stabilität, Transparenz und Vorhersehbarkeit im militärischen Bereich zu fördern und Krisen und Konflikte zu verhüten oder besser zu bewältigen.

Die Nato war dabei die treibende Kraft, ging es doch darum, die die europäische Sicherheitslage im Kalten Krieg beherrschende Überlegenheit des Warschauer Pakts bei konventionellen Streitkräften und Rüstungen und dessen Fähigkeit zum Überraschungsangriff und zur raumgreifenden Offensive zu beseitigen. Die Nato verfolgte Rüstungskontrolle als integralen Bestandteil ihrer Sicherheitspolitik und setzte gegen entschiedenen sowjetischen Widerstand die zentralen konzeptionellen Elemente durch:

○ Schaffung von Stabilität durch Herstellung und Wahrung eines Gleichgewichts der militärischen Kräfte und Fokussierung auf für Offensivoperationen zentrale Parameter und Waffensysteme,
○ Verifikation insbesondere durch Vor-Ort-Inspektionen, mit denen die Richtigkeit eines strukturierten, detailliert aufgeschlüsselten Datenaustauschs zu den militärischen Einheiten und der Präsenz an den jeweiligen Standorten verlässlich überprüft werden kann,

○ Vertrauensbildung durch den Ausbau militärischer Kontakte und durch größere Offenheit und Transparenz zu den militärischen Potenzialen und Aktivitäten.

Zwar bestand nach dem Ende des Kalten Kriegs 1989/1990 die Vorstellung, die Konfrontation und das Trennende zu überwinden und auf der Grundlage eines Miteinanders und gemeinsamer Werte einen gemeinsamen Sicherheitsraum zwischen Vancouver und Wladiwostok auszugestalten. Dieses Ziel, für das die OSZE stand, blieb jedoch weitgehend unerfüllte Vision.

Schon früh drängten viele Staaten Mittelosteuropas und auch der ehemaligen Sowjetunion in die Nato, in der sie Sicherheit vor Russland suchten. Nicht überraschend lehnte Russland, das sich dadurch seines Glacis und seiner Einflusssphäre beraubt sah, die Erweiterung der Nato ab. Den von Russland reklamierten Sicherheitsbedenken wurde jedoch in den 1990er-Jahren durch einseitige rüstungskontrollpolitische Beschränkungen Rechnung getragen.

Schon 1990 wurden im Zusammenhang mit der Herstellung der deutschen Einheit im 2+4-Vertrag eine Obergrenze für den Gesamtumfang der deutschen Streitkräfte und das Verbot der Stationierung von ausländischen Streitkräften und Nuklearwaffenträgern auf dem Territorium der ehemaligen DDR festgelegt. Und vor dem Hintergrund der ersten geplanten Osterweiterung der NATO um Ungarn, Polen und Tschechien, die 1999 erfolgte, war die NATO bereit, in der NATO-Russland-Grundakte 1997 rüstungskontrollpolitische Zurückhaltungsverpflichtungen wie die Nichtstationierung von „substantiellen Kampftruppen“ und Nuklearwaffen in den Beitrittsstaaten zu akzeptieren.

Die Aufkündigung der Rüstungskontrolle

Die Jahrtausendwende brachte einen markanten Einschnitt für die Rüstungskontrolle. Er fällt mit den Amtsantritten von Wladimir Putin in Moskau und George W. Bush in Washington zusammen. Für die USA unter Bush hatte die Rüstungskontrolle keine große Bedeutung mehr. Sie wurde vielmehr als Einschränkung der Handlungsfreiheit empfunden und daher im Wesentlichen abgelehnt, zumal auch Russland nicht mehr als gleichrangiger Partner, sondern nur noch als Regionalmacht gesehen wurde, die keine echte Bedrohung mehr für den Westen darstellte.

Anders als zu Zeiten des Kalten Kriegs wurde von den USA jetzt nicht mehr auf Konzepte wie Wahrung von militärischem Gleichgewicht und rüstungskontrollpolitische Zusammenarbeit oder Rücksichtnahmen gesetzt. Für die USA galt jetzt Sicherheit durch militärische Überlegenheit zu gewährleisten und sich von Hindernissen auf diesem Weg zu befreien.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in:

POLITIKUM
"Zeitenwende – Deutsche Außenpolitik"
Heft 3, 2022

Wochenschau Verlag
80 Seiten
Zeitschrift
12,80 Euro
ISBN ISSN 2364-4737
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Es begann die Abräumung des rüstungskontrollpolitischen Acquis. Als erstes kündigten die USA einseitig noch im Dezember 2001 den ABM-Vertrag. Dies sollte sich nicht gegen Russland richten, sondern den USA den Weg frei machen zur Entwicklung von Raketenabwehrsystemen, um sich vor Raketen aus Schurkenstaaten wie Nordkorea, Iran und dem Irak schützen zu können.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 rückten der Terrorismus, ihn unterstützende Schurkenstaaten wie auch der mögliche Zugriff auf und die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln in den Mittelpunkt des amerikanischen sicherheitspolitischen Interesses. Dabei glaubte man diesen Risiken am besten konfrontativ und durch militärische Mittel beikommen zu können.

Rüstungskontrolle, zumal wenn sie auf Zusammenarbeit mit einer als gegnerisch erachteten Partei fußte oder die eigenen Optionen einzuschränken geeignet war, galt als illusorisch und wurde abgelehnt. Die USA vernachlässigten auch die für die europäische Sicherheit zentralen Instrumente. So suchten sie beispielsweise die Ratifizierung des Anpassungsabkommens zum KSE-Vertrag 1999 von dem damit nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Abzug russischer Streitkräfte aus Georgien und Moldawien abhängig zu machen; allerdings hat dieser Versuch der Instrumentalisierung für die Lösung von Konflikten im postsowjetischen Raum das Vertragsregime überfordert.

Schließlich hat Russland, das anders als die Nato-Staaten das Anpassungsübereinkommen ratifiziert hatte, 2007 die Erfüllung seiner KSE-Vertragspflichten ausgesetzt und 2015 den Vertrag offiziell gekündigt. Als Gründe wurden hierfür neben den Nato-Osterweiterungen, für die es nach 1997 keine weiteren Zurückhaltungsverpflichtungen seitens des westlichen Bündnisses mehr gab, auch u. a. die Weigerung der baltischen Staaten, dem KSE-Vertrag beizutreten, und amerikanische Stützpunktpläne in Bulgarien und Rumänien angeführt.

Nach dem Zwischenspiel der Administration von Präsident Obama, der mit dem New-START-Vertrag 2010 seinem Bekenntnis zu nuklearer Abrüstung und dem Ziel der Wahrung nuklearer Parität mit Russland konkreten Ausdruck verlieh, setzte sich während der Amtszeit von Präsident Trump die Geringschätzung der Rüstungskontrolle fort. Er kündigte nicht nur den INF-Vertrag, den Vertrag über den offenen Himmel und das Nuklearabkommen mit Iran, sondern machte deutlich, dass er letztlich auch nicht an dem New-START-Vertrag mit Russland festhalten wollte; dieser wurde quasi in letzter Minute erst unter Präsident Biden Anfang 2021 um fünf Jahre verlängert.

Auch der seit 2000 herrschende Präsident Putin glaubte mit einer demütigenden Verschlechterung der sicherheitspolitischen Lage Russlands konfrontiert zu sein. Durch die Nato-Osterweiterung, aber auch durch den sicherheitspolitischen Kurs der Regierung Bush und der Nato sah Putin vitale Interessen Russlands berührt. Er sah Russland unverändert als die den USA ebenbürtige Großmacht mit Anspruch auf eine eigene Einflusssphäre.

Letzteres wurde im Falle der Ukraine durch eine abstruse Geschichtsinterpretation Putins und die daraus abgeleitete Negierung der Staatlichkeit der Ukraine noch überhöht. Die Weigerung insbesondere der Großmacht USA, Russland auf Augenhöhe zu begegnen, suchte Putin durch Stärkung der konventionellen und nuklearen Streitkräfte Russlands wie auch durch eine aggressive, stark auf den Einsatz militärischer Mittel setzende Außenpolitik zu kompensieren.

Mit den militärischen Einsätzen gegen Georgien 2008 und die Ukraine 2014 suchte Putin rote Linien für die Osterweiterung der Nato zu markieren, die er besonders im Fall der Ukraine durch ukrainische Demokratisierungstendenzen und die Westorientierung der Kiewer Regierung sowie die militärische Unterstützung der Ukraine insbesondere durch die USA und andere Nato-Staaten zunehmend gefährdet sah.

Aber auch das Fehlen rüstungskontrollpolitischer Vereinbarungen scheint Putin zugesetzt zu haben. Der Wegfall des ABM-Vertrags aufgrund der US-Kündigung wird ihn besonders herausgefordert haben. Er sah darin nicht nur die Gleichrangigkeit Russlands in Frage gestellt. Er fürchtete – trotz gegenteiliger US-Versicherungen und bis heute insgesamt ernüchternder Ergebnisse der amerikanischen Bemühungen zum Aufbau einer wirksamen Raketenabwehr – auch den Verlust der russischen Zweitschlagfähigkeit und damit den Abstieg als Großmacht.

War zu Beginn der 2000er-Jahre Russland noch zu schwach, um der Raketenwehr etwas Wirksames entgegenzusetzen, so trachtete Putin schon früh durch neue Trägermittel die amerikanische Raketenabwehr überwinden zu können. Aber es brauchte Zeit; so stellte Putin 2018 neuartige Systeme vor, die dieses Ziel erfüllen würden, darunter eine Hyperschallrakete, eine neue endphasengesteuerte Interkontinentalrakete und einen nuklear bestückten Unterwassertorpedo. Im Ergebnis wird damit deutlich, wie bedeutsam für Putin die strategische Augenhöhe mit den USA durch Wahrung der Zweitschlagfähigkeit war und dass er für dieses Ziel bereit war, erhebliche auch finanzielle Anstrengungen und ein neues Wettrüsten mit den USA in Kauf zu nehmen.

Und schließlich enthalten die von Russland noch vor seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine der Nato und den USA im Dezember 2021 übermittelten Abkommensentwürfe eine Reihe von rüstungskontrollpolitischen Forderungen. So verweist etwa die prominente Forderung nach einem Verzicht auf die Stationierung von Raketen kurzer und mittlerer Reichweite in Europa auf den Wegfall des INF-Vertrags oder der Verzicht auf militärische Übungen oberhalb der Brigadeebene nahe der russischen Grenze auf aus russischer Sicht wünschbare Beschränkungen, die in den Kanon der vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen beispielsweise des Wiener Dokuments aufgenommen werden könnten.

Rüstungskontrolle kein Garant für Frieden

Will man ein Resümee ziehen, so bleibt zunächst festzuhalten, dass nicht die Rüstungskontrolle, sondern der Niedergang der Rüstungskontrolle nach 2000 das Problem darstellt. Zuvor hatte sie nicht nur einer friedlichen Überwindung des Kalten Kriegs den Weg geebnet und sie abgesichert. Sie war anfangs auch Grundlage für die Gestaltung einer neuen Sicherheitsordnung in Europa, die sich jedoch schon bald als nicht tragfähig erwies.

Rüstungskontrolle ist vielschichtig und muss mit Augenmaß und kühlem realpolitischen Kalkül betrieben werden. Sie erfordert – das zeigt die Geschichte – Beharrlichkeit, Prinzipienfestigkeit, Konsequenz und einen unideologischen Blick auf die jeweilige Gegenseite und deren Interessen.

Die Rüstungskontrolle bietet als integraler Teil einer in sich stimmigen Sicherheitspolitik vielfältige Möglichkeiten, um kreativ auf sicherheitspolitische Herausforderungen eingehen zu können, einen Zugewinn an Sicherheit und Stabilität und die Verhinderung eines kostspieligen Wettrüstens zu erreichen. Die ausgefeilte Rüstungskontrollarchitektur, die zum Ende des Kalten Kriegs und danach geschaffen wurde, hat mehr Sicherheit geschaffen. Zudem galt sie als Ausgangspunkt für die Gestaltung durchgreifend verbesserter und auf gemeinsamen Regeln basierender Sicherheitsbeziehungen zwischen Russland und dem Westen. Der Verlust zentraler Vereinbarungen in den letzten zwei Jahrzehnten und die generelle Geringschätzung der Rüstungskontrolle bedeuteten demgegenüber einen Rückschritt und hatten negative Folgen für die Sicherheit.

Dennoch kann Rüstungskontrolle letztendlich keinen Frieden garantieren. Dies gilt besonders dann, wenn sich die Rahmenbedingungen für die Sicherheit ändern und diese weder politisch noch rüstungskontrollpolitisch Berücksichtigung finden.

Im Fall Putin kommen auch verletzter Stolz und Glaube an die Erfüllung einer historischen Mission zur Durchsetzung der aus seiner Sicht von der Nato ignorierten nationalen Interessen Russlands hinzu. Für ihn war die Nato-Erweiterung, der unipolare Anspruch der USA, deren Abwendung von der strategischen Gleichrangigkeit Russlands, das amerikanische Setzen auf militärische Überlegenheit sowie die amerikanische Kündigung zentraler Rüstungskontrollvereinbarungen unvereinbar mit russischen Interessen. Darin sah er ebenso wie in den Demokratisierungstendenzen insbesondere in angrenzenden, ehemals der Sowjetunion zugehörigen Staaten eine Gefahr für sein Regime und den von ihm erhobenen Anspruch, dass Russland als Großmacht auf Augenhöhe mit den USA wahrgenommen wird.

Die Mitverantwortung des Westens

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine entbehrt jeglicher Rechtfertigung. Dennoch lässt sich eine Mitverantwortung des Westens für die eingetretene Konfrontation mit Russland nicht ganz von der Hand weisen. Neben einer stärkeren Berücksichtigung russischer zur Nato-Erweiterung geltend gemachter Interessen hätte auch eine aktivere Rüstungskontrollpolitik zumindest einen Beitrag zu einer gewissen Entspannung, aber auch zu einer besseren kooperativen Faktenklärung und Deeskalation führen können.

So hat es beispielsweise seit der Jahrtausendwende keine echte Weiterentwicklung des Instrumentariums der vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen gegeben. Es hätten u. a. Maßnahmen zur Beschränkung von militärischen Übungen und der Dislozierung von Streitkräften insbesondere in der Nähe von Grenzen, die Verbesserung der Notifizierung und Beobachtung von Übungen, ein Verbot bisher nicht notifizierungspflichtiger Alarmübungen und Vereinbarungen zur Erhöhung subregionaler Stabilität in Spannungsgebieten mit großen Streitkräftedisparitäten (Zurückhaltungsverpflichtungen, Truppenentflechtungs-/Truppenabzugsvereinbarungen, statusneutrale Dialogregime), die Förderung bzw. Institutionalisierung von Kontakten besonders in Krisen- und Konfliktsituationen wie auch Maßnahmen/Verfahren bei militärischen Vorkommnissen an Land, in der Luft und auf See von unmittelbarem praktischen Nutzen sein können.

Regeln + Kommunikation -> Kriegsverhinderung

Heute steht die Rüstungskontrolle in einer komplexeren multipolaren Welt vor neuen schwierigen Herausforderungen. Angesichts einer sich verschärfenden Rivalität der Großmächte und der Nuklearwaffenambitionen kleinerer Staaten, die sich damit unangreifbar zu machen und sich ein Erpressungspotenzial zu verschaffen versuchen, darf es kein Interesse an einer „Deregulierung“ der internationalen Sicherheitsbeziehungen geben.

Die Rüstungskontrolle bleibt ein unverzichtbares Element einer regelbasierten Weltordnung, die gerade auch die demokratischen, der Geltung des Rechts verschriebenen Staaten anstreben. Trotz des aktuellen Ukraine-Kriegs, der zu Recht moralische Empörung ausgelöst hat, darf das Ziel einer auf gemeinsamen verbindlichen Regeln basierten Sicherheitsordnung nicht aus dem Blick geraten. Selbst wenn kurzfristig keine konkreten Ergebnisse erreichbar erscheinen, so sollte doch auf diese mit Konsistenz und Konsequenz unter Wahrung grundlegender Prinzipien wie Sicherheit, Stabilität und Verifizierbarkeit hingearbeitet werden.

Und es gibt in der jetzigen Situation noch weitere pragmatische Gründe, rüstungskontrollpolitisch initiativ zu werden. Im Verhältnis zu Russland steuern wir auf einen neuen Kalten Krieg zu, der zumal nach „Abräumung“ wichtiger rüstungskontrollpolitischer Vereinbarungen nach der Jahrtausendwende besondere Risiken birgt, da es an rüstungskontrollpolitischen Regeln und Mechanismen sowie an militärischen Kontakten fehlt, mit Hilfe derer beispielsweise Fehlkalkulationen oder Fehleinschätzungen zum Handeln des Gegners vermieden werden können. Auf globaler Ebene fehlt eine rüstungskontrollpolitische Einbindung Chinas.

Ein Minimum an Kommunikation und Zusammenarbeit, wie sie die Rüstungskontrolle bietet, ist im Interesse einer wirksamen Kriegsverhinderung notwendig; die jetzt propagierte völlige Isolation und Ausgrenzung des so unappetitlichen Putin-Regimes birgt zweifelsohne Gefahren.

Was kann Deutschland tun?

Deutschland muss die Voraussetzung für die Verfolgung einer glaubwürdigen und wirksamen Rüstungskontrollpolitik schaffen. Rüstungskontrolle ist kein isolierter Bereich der Politik. Soll sie nicht allein deklaratorisch sein, so muss sie mit der Entschlossenheit und gesicherten Fähigkeit zu auch militärischer Verteidigung einhergehen.

Dies war und ist der zentrale Punkt des Harmel-Berichts aus dem Jahr 1967 und der darin vorgeschlagenen Doppelstrategie für das Nordatlantische Bündnis. Dies sollte auch für die Bundesregierung der zentrale Maßstab sein.

Es ist zu begrüßen, dass jetzt die Beseitigung der eklatanten Fähigkeits- und Ausrüstungsdefizite der deutschen Streitkräfte in Angriff genommen werden soll und hierzu ein „100 Mrd. Euro Sondervermögen Bundeswehr“ beschlossen wurde. Allerdings bleibt die Frage, wie nachhaltig diese durch den Krieg in der Ukraine ausgelöste Einsicht ist. Bisher fehlt das Konzept für die Gewährleistung eines nachhaltigen, bedrohungskonformen deutschen Verteidigungsbeitrags.

So gibt es beispielsweise eine Scheu, die Frage der Wehrpflicht zu thematisieren. Obwohl diese 2010 lediglich ausgesetzt und nicht aufgehoben wurde, wird eine Debatte darüber unter Verweis auf sich stellende schwierige konzeptionelle Fragen nicht geführt. Allerdings – auch das zeigt der Ukraine-Krieg – kann eine Dienstpflicht eine wichtige Rolle bei der Landesverteidigung spielen.

Ein gesicherter Verteidigungsbeitrag und eine das gesamte notwendige Fähigkeitsspektrum wirksam abdeckende Bundeswehr ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit und den Einfluss Deutschlands in der Sicherheitspolitik und damit natürlich auch in der Rüstungskontrollpolitik. Deutschland kann damit und aufgrund seiner Wirtschaftskraft und politischen Bedeutung einen entscheidenden Einfluss in EU und Nato ausüben. Hierzu ist selbstbewusster politischer Führungswille erforderlich, was auch die Bereitschaft zur Austragung von Meinungsunterschieden mit westlichen Partnern einschließt.

In ihrem Engagement kann die Bundesregierung auf ein in den vergangenen Jahrzehnten gewachsenes außenpolitisches Ansehen bauen. Die Bereitschaft zu gleichberechtigtem Dialog und Zusammenarbeit, zu fairen, unterschiedliche Interessenlagen berücksichtigenden Lösungen, aber auch Verlässlichkeit, Prinzipienfestigkeit und inhaltliche Kompetenz haben Vertrauen in die deutsche Rüstungskontrollpolitik geschaffen.

Deutschland hat vielfach Anstöße gegeben – so beispielsweise auch zu den Nuklearverhandlungen mit Iran, die zunächst gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien geführt wurden und zu denen schließlich auch die USA, China und Russland hinzukamen. Dabei wurde von Beginn an an einem Interessenausgleich gearbeitet, der einerseits ein iranisches Nuklearwaffenprogramm wirksam verhindern, gleichzeitig dem Iran jedoch Fortschritte in seiner wirtschaftlichen Entwicklung ermöglichen sollte.

Auf Deutschland könnte es künftig in der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik immer mehr ankommen. Der Widerstand gegen die Rüstungskontrolle hat in Europa wie in den USA durch den Krieg in der Ukraine und die dadurch ausgelöste moralische Empörung zugenommen.

Von besonderer Bedeutung ist es, die innenpolitische Entwicklung in den USA im Blick zu behalten. Sollte die republikanische Partei bei den Halbzeitwahlen im November die Mehrheit im Kongress erringen und 2024 Trump oder einer seiner Adepten die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnen, so sind die außenpolitischen Folgen unabsehbar.

In jedem Fall dürften sich die USA wieder verstärkt auf die Verfolgung eng definierter nationaler Interessen zurückziehen. Europa wäre damit wieder stärker gefordert, seine Interessen selbst zu definieren und wahrzunehmen.

Gemeinsam mit Paris für EU-Sicherheit

In dieser Situation muss es Deutschland darum gehen, gemeinsam mit Frankreich die strategische Autonomie Europas voranzubringen, damit die EU sich in der verschärften Großmächtekonkurrenz zu behaupten vermag. Dabei ist auch dafür zu sorgen, dass die Politik gegenüber Russland sich nicht allein auf Ausgrenzung und Konfrontation reduziert, sondern auch die Möglichkeiten der Rüstungskontrolle genutzt werden, den Risiken des neuen Kalten Kriegs zu begegnen. Eine militärische Konfrontation birgt ohne ein Minimum an gegenseitiger Kommunikation und Zusammenarbeit, wie sie Rüstungskontrolle zu gewährleisten vermag, das Risiko von Fehlkalkulationen und gefährlichen Missverständnissen, die in eine neue Eskalationsspirale münden können.

Es wird gelten, mit der Bereitstellung der erforderlichen personellen Ressourcen und Expertise im Auswärtigen Amt, im Bundesministerium der Verteidigung wie auch im Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr die Grundlage für eine glaubwürdige und wirksame Rüstungskontrollpolitik auf breiter thematischer Front zu legen, um mit Konsequenz, wachem Realitätssinn und ohne Illusionen auf der Grundlage der schon im Kalten Krieg für die Nato ehernen Grundprinzipien für folgende Aufgaben einzutreten:

○ Absicherung eines neuen Kalten Kriegs mit Russland durch Aufbau regulärer militärischer Kontakte und vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen, mit Hilfe derer ein Ausbruch erneuter Kampfhandlungen verhindert werden soll. Dabei muss beispielsweise bei der Absicherung eines Waffenstillstands in der Ukraine auch ein statusneutrales Tätigwerden möglich sein; d. h. eine Kontrolle beispielsweise von Kontaktzonen und militärischen Entflechtungsbereichen ist nicht mit der Anerkennung von völkerrechtswidrig erworbenen Territorien oder Grenzen verbunden.

○ Förderung subregionaler Rüstungskontrollregime an den Kontaktlinien zwischen Russland und Nato-Staaten (u. a. an den Grenzen zwischen Russland und den baltischen Staaten wie auch einem künftigen Nato-Mitglied Finnland), um militärische Stabilität, Vorhersehbarkeit und den sukzessiven Aufbau von Vertrauen zu ermöglichen.

○ Schrittweiser Wiederaufbau eines überwölbenden rüstungskontrollpolitischen Begrenzungs- und Reduzierungsregimes in Europa, das intrusive Verifikation beinhaltet und insbesondere Waffensysteme einbezieht, die für raumgreifende Offensiven von Bedeutung sind.

○ Wiederbelebung der Rüstungskontrolle zu nuklearfähigen Raketen kurzer und mittlerer Reichweite in Europa (u. a. denkbar: Vereinbarung eines verifizierbaren Dislozierungsverbots in Europa).

○ Hinwirken auf eine Fortsetzung der nuklearen Rüstungskontrolle (u. a. Verlängerung bzw. Nachfolgeregime zum New-START-Vertrag, der 2026 ausläuft; Abschluss einer Vereinbarung zu in Europa gelagerten taktischen Nuklearwaffen).

○ Im Interesse einer regelbasierten Ordnung Stärkung von Regimen auf globaler Ebene. Vor allem der Atomwaffensperrvertrag bedarf erhöhter Aufmerksamkeit. Zwar wird der ihm innewohnende diskriminierende Charakter aufgrund der Unterscheidung zwischen Nuklearwaffen- und Nichtnuklearwaffenstaaten nicht aufhebbar sein; dennoch sollte Deutschland gemeinsam mit den Nuklearwaffenstaaten dafür Sorge tragen, dass eine Proliferation von Nuklearwaffen verhindert wird und beispielsweise mit Iran in einer der instabilsten Weltregionen kein neuer Nuklearwaffenstaat entsteht.

○ Überwindung der Untätigkeit zu bisher rüstungskontrollpolitisch nicht erfassten oder neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Hierzu gehören beispielsweise Regelungen zur Verhinderung von Cyberkrieg oder zum Schutz von Weltraumkapazitäten (u. a. durch ein Verbot von Anti-Satelliten-Waffen).

○ Stärkung und Universalisierung von Instrumenten der humanitären Rüstungskontrolle. Hierzu gehört neben dem Übereinkommen über Antipersonenminen von 1999 auch das Übereinkommen über Streumunition von 2010. Russland wird vorgeworfen, im Krieg gegen die Ukraine solche Munition eingesetzt zu haben, wodurch auch viele Zivilisten den Tod fanden. Bisher ist das Übereinkommen, das diese Waffenkategorie verbietet, jedoch weder von Russland noch von anderen wichtigen Staaten wie den USA, China, Indien, Pakistan, Israel oder auch der Ukraine unterzeichnet worden.

Dringender Handlungsbedarf

Diese Auflistung ist nicht erschöpfend. Sie zeigt jedoch den Handlungsbedarf. In einer zunehmend instabileren multipolaren Welt mit absehbar wachsenden Spannungen nimmt die Bedeutung der Rüstungskontrolle als Mittel der Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu. Insofern ist die Geringschätzung dieses Politikbereichs und die Kündigung gerade auch für die europäische Sicherheit wesentlicher Vereinbarungen seit 2000 nicht nur bedauerlich, sondern unverantwortlich.

Die Rüstungskontrolle ist geeignet, Sicherheit und Stabilität zu erhöhen. Einen hundertprozentigen Schutz gegen den Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen vermag sie jedoch nicht zu geben. Aber selbst jetzt, wo in der westlichen Diskussion angesichts des Ukraine-Kriegs Fragen der militärischen Verteidigung und Abschreckung im Mittelpunkt stehen, sollte die Rüstungskontrolle nicht vergessen werden.

Diese wird schon zur Absicherung eines auszuhandelnden Waffenstillstands, einer diplomatischen Lösung und bei der Konfliktnachsorge eine wichtige Rolle spielen. Deutschland kann einen wesentlichen Beitrag zur Wiederbelebung der Rüstungskontrolle leisten und sollte hierzu engagiert und bestimmt auftreten, auch um das Feld nicht allein auf Konfrontation gepolten Kalten Kriegern zu überlassen.

Rüdiger Lüdeking war Ständiger Vertreter Deutschlands bei der OSZE (2012 – 2015) und deutscher Botschafter in Belgien (2015 – 2018).

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