Er ist wieder da, der Kalte Krieg
Der Kalte Krieg ist zurück, steht die Welt vor der nächsten Kubakrise?
Gibt es einen neuen Rüstungswettlauf? In Europa ist er längst im Gange, sofern man darunter nicht den Wettlauf in der Rüstungsproduktion versteht, bei der Europa nur eine untergeordnete Rolle spielt, sondern die direkte militärische Konfrontation.
Russlands Militärpolitik ist gegenwärtig darauf ausgerichtet, immer neue Divisionen an seine westlichen Grenzen zu verlegen. Eine gesonderte Frage ist es, ob diese Divisionen die Verteidigungsfähigkeit Russlands tatsächlich erhöhen, denn mit den 25 neuen militärischen Verbänden, die in den vergangenen fünf Jahren entstanden sind, stieg die Personenstärke insgesamt nur um 20 000 Mann, so dass es sich vermutlich bei einem wesentlicher Teil dieser neuen Einheiten um Kadereinheiten handelt. Gleichwohl stehen sich die beiden Blöcke heute direkt gegenüber.
Die gute Nachricht ist, dass weder die eine noch die andere Seite über genügend Streitkräfte für großflächige militärische Operationen verfügt. Diese Kräfte gibt es schlichtweg nicht. Dies ist das Ergebnis von 25 Jahren Frieden. Dafür müssen wir dankbar sein; aber das muss nicht ewig so bleiben.
Beide Seiten setzen offensichtlich auf Aufrüstung. Die jüngsten NATO-Manöver in Norwegen waren für einen Veteranen des Kalten Kriegs leicht zu durchschauen. Der Eindruck drängte sich auf, dass die Militärs die alten Pläne der 1980er-Jahre entstaubt haben.
Damals fanden jedes Jahr die NATO-Großmanöver „Autumn Forge“ statt, die sich dann zu den „REFORGER“-Manövern auswuchsen. Das Szenario war immer das gleiche. Im Fall eines sowjetischen Angriffs sollten große amerikanische Truppenkontingente über den Ozean herangebracht werden.
Das identische Szenario wurde in diesem Frühjahr in Norwegen umgesetzt. Nur wurden – bisher noch – kleinere Truppenkontingente nicht über den Ozean, sondern auf dem Landweg aus Deutschland auf das Territorium des Lands verlegt, das von Russland angegriffen wurde.
Auch die russischen Planspiele hielten sich exakt an das Szenario des Kalten Kriegs: Man setzt auf eine starke Panzerarmee, die offenbar Angriffe auf den ebenen Feldern Europas abwehren soll.
Kein Krieg in Europa! Das Tabu fällt
Die Hoffnung, dass diese Aufrüstung gestoppt werden könnte, ist gleich Null. Erschwert wird die Sache noch dadurch, dass wir die Gegebenheiten des Kalten Kriegs nicht auf die aktuelle Situation extrapolieren können: Wir befinden uns nicht mehr in den 70er- oder 80er-Jahren, als es klar erkennbare und allgemein akzeptierte „rote Linien“ gab, die man nicht überschreiten durfte.
Ein solches absolutes Tabu war ein Krieg in Europa. Beide Seiten waren auf einen solchen Krieg vorbereitet. Aber sie zogen es vor, Konflikte an der weit entfernten Peripherie auszutragen: In Afghanistan oder Vietnam war Krieg akzeptabel, aber nicht in Europa. Dieses Tabu besteht heute anscheinend nicht mehr.
Es gab klare Kommunikationskanäle, die es den Militärs erlaubten, in extremen Situationen miteinander zu kommunizieren. Und letztlich gab es Spielregeln. Es war klar, unter welchen Bedingungen die jeweils andere Seite agierte.
Aber heute gibt es nichts Derartiges. Aufgrund diverser Umstände wird jene vertragliche Basis liquidiert, die in den vergangenen fünfzig Jahren aufgebaut wurde.
Die Abrüstungsverträge sind tot
Die Abrüstungsverträge über Mittel- und Kurzstreckenraketen haben ein betrübliches Schicksal erlitten. Man kann sagen, sie sind de facto tot, und es gibt kaum eine Chance auf eine Wiederbelebung.
Das gleiche Los dürfte auch den Vertrag über die Begrenzung strategischer Angriffswaffen erwarten. Er wird 2021 aus einem sehr einfachen Grund nicht verlängert werden: Es handelt sich im Grunde um zwei Verträge – INF und START –, die in Dutzenden technischer Details zusammenhängen. Trennt man eines dieser Details von einem der Verträge ab, verliert das gesamte Vertragswerk über die Begrenzung strategischer Angriffswaffen seinen Sinn.
Für Militärexperten ist das völlig klar. Wo aber werden wir uns befinden, wenn dieser letzte noch funktionierende Vertrag liquidiert wird? Keinesfalls in der Situation der 80er-Jahre, sondern in jener der 50er-Jahre, als es keine Verträge gab: Wir steuern geradewegs auf die nächste Kuba-Krise zu.
Eine gesonderte Frage ist die nach dem praktisch zerfallenen System der Verträge über Maßnahmen der militärischen Vertrauensbildung zwischen Russland und der NATO. Den Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) muss man als nichtexistent betrachten, da Russland sich (seit 2007) aus dem Vertrag zurückgezogen hat.
Es gibt außerdem das Wiener Dokument 2011 über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen, das den Aktivitäten der Streitkräfte auf europäischem Territorium bestimmte Rahmen setzt. In Moskau weiß man inzwischen sehr gut, diesen Vertrag zu manipulieren.
Angenommen, militärische Ausbildungsmanöver (ohne Beteiligung ausländischer Beobachter) mit Truppenstärken bis zu 13 000 Mann sind gestattet. Um diese Bestimmung zu umgehen, werden fünf solcher Manöver gleichzeitig aufgesetzt, von denen keines diese Zahl überschreitet. Bei Nachfrage heißt es: Das sind separate Manöver, sie fallen nur ganz zufällig zeitlich zusammen.
Um der Gerechtigkeit zu genügen, muss man bemerken, dass es die NATO nicht anders macht. Auch dort ist bekannt, wie man einzelne Punkte der NATO-Russland-Grundakte manipuliert. Sie verbietet die zusätzliche dauerhafte Stationierung substanzieller Kampftruppen auf dem Territorium neuer NATO-Mitglieder. Nach Unterzeichnung dieser Akte im Jahre 1997 stritt man sich die folgenden 30 Jahre darüber, was man unter „substanziellen“ Kampftruppen zu verstehen hat. Schließlich kam man zu dem Schluss, dass damit Einheiten der Stärke einer Brigade gemeint seien. Schriftlich ist das nirgendwo festgehalten, aber es dient als Grundlage für weitere Verhandlungen.
Ost und West: wieder militärische Gegner
Und so sieht dann die Realität aus: In den baltischen Ländern und in Polen werden Bataillone stationiert, und vor allem ist dort eine völlig neue amerikanische Brigade entstanden, die sich de facto ständig auf dem Territorium dieser Länder befindet. Vorhalten der russischen Seite heißt es, das seien keine ständigen Truppenkontingente, eine Brigade werde durch eine andere ersetzt, das gelte nicht als dauerhafte Stationierung.
Noch bekriegen sich die beiden Seiten nicht. Aber sie betrachten sich als militärische Gegner.
Nach der berühmten „Gerassimow-Doktrin“, so benannt nach dem russischen Generalstabschef Walerij Gerassimow, die noch vor den Konflikt in der Ukraine Anfang 2013 datiert, existiert keine Grenze zwischen Krieg und Frieden; vielmehr wird der Krieg beständig mit anderen Mitteln fortgesetzt, in Form von psychologischen und verdeckten Operationen. Jede Seite führt beständig Krieg, der Krieg ist endlos.
Vor nicht langer Zeit wurde diese Doktrin in Russland ausgeweitet. General Gerassimow sagte, in den Vereinigten Staaten arbeite man an der Strategie eines „Trojanischen Pferds“. Über diese Strategie wisse nur er – und die russischen Geheimdienste. Diese Strategie ziele darauf ab, hochpräzise Schläge gegen den Feind mit der Stimulation von Aktionen zivilen Protestes zu verbinden.
De facto bedeutet dies, dass jede Art von zivilem Protest mit den Operationen von Spezialkräften gleichgesetzt wird. Wenn das nicht Kalter Krieg ist, was dann?
Was heißt hier Kalter Krieg?
Natürlich lässt sich lange darüber diskutieren, was man unter dem Begriff „Kalter Krieg“ verstehen soll. Es ist der Zustand in einer militärischen Konfrontation innerhalb eines Konflikts, der weder mit diplomatischen noch mit militärischen Mitteln zu lösen ist. Auf diplomatischem Weg ist er nicht zu lösten, weil sich die Weltanschauungen prinzipiell unterscheiden, weil eine wachsende „Kluft zwischen den Werten“ besteht. Und auf militärischem Weg ist der Konflikt nicht zu lösen, weil beide Seiten über Atomwaffen verfügen.
Das Problem besteht darin, dass die Sicht auf die Atomwaffen sich ändert. Unter Präsident Obama etwa galten, ebenso wie für die russische Führung, Atomwaffen als politische Waffen, die nur dafür da sind, nicht eingesetzt zu werden, sondern die verfeindeten Seiten von einem Angriff abzuhalten.
Ansichten ändern sich: Das zeigt allein schon die Tatsache, dass im Jahr 2018 die Hälfte der Ansprachen des russischen Präsidenten vor der Föderationsversammlung sich um die neusten Waffensysteme drehte, und dass diese Waffen offenbar für den Einsatz gedacht sind. Es existiert ein Report über den Zustand der amerikanischen Atomstreitkräfte in der „Nuclear Posture Review“ (NPR 2018), de facto eine Nuklear-Doktrin der USA, in dem offen über die Schaffung von „mini-nukes“ gesprochen wird, kleinen Gefechtsköpfen mit einer Sprengkraft unter fünf Kilotonnen TNT, deren Produktion bereits begonnen hat. Damit befinden wir uns, aus militärischer Sicht, auf dem direkten Weg zu einem „begrenzten Atomkrieg“.
Bemerkenswert ist, dass es nach dem Beschluss dieses Rüstungskonzepts durch die Amerikaner sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in der Sowjetunion zu zahlreichen militärischen Planspielen kam. Das Ergebnis war immer das gleiche: Irgendwann wurde aus diesem begrenzten Atomkrieg ein allgemeiner strategischer Atomkrieg.
Zusätzlich erschwert wird dieses Problem durch den Umstand, dass die Atomwaffen faktisch Russlands einzige Ressource in einer einsetzenden militärischen Konfrontation sind. Russland hat sehr schwache Verbündete, denen wenig daran liegt, in einen Konflikt hineingezogen zu werden, zudem eine wenig effektive Wirtschaft, eine Industrie, die kaum in der Lage ist, einen massenhafte Rüstungsproduktion zu gewährleisten und schließlich und endlich, ein sehr gewichtiger Umstand, eine immer stärker alternde Bevölkerung.
Russland kann heute nicht mehr eine Armee in einer Stärke von fünf Millionen Mann aufstellen. Aber auch die NATO erscheint nicht mehr bereit, vergleichbar große militärische Gruppierungen zu unterhalten.
Das wiederum rückt die Atomwaffen in den Vordergrund. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass die russische Führung über neue Waffensysteme redet: Kürzlich besuchte Putin das Kasaner Flugzeugwerk, wo er die Möglichkeit der Produktion modernisierter strategischer Bomber vom Typ Tu-160 besprach.
Wer beruflich mit der Analyse militärischer Probleme befasst ist, muss bisweilen über Undenkbares nachdenken. Das heißt nicht, dass etwas Schreckliches bevorsteht wie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu befürchten war. Damals war der Aggressor klar erkennbar, der fremde Grenzen verletzte.
Heute liegt das Risiko in einem Szenario wie vor dem Ersten Weltkrieg, als niemand ernsthaft einen Krieg wollte. Man wollte ein wenig mit den Säbeln rasseln, um seinen Interessen Gewicht zu verleihen, nicht mehr. Leider existierte in den damaligen Generalstäben ein „Mobilisierungsplan“, und die Generäle wollten ausprobieren, wie diese „Mobilisierungspläne“ in der Praxis funktionierten.
Das führte fast automatisch zu einer Eskalation. Alle sahen sich genötigt, es Deutschland nachzutun und möglichst schnell eine bestimmte Zahl von Divisionen zu mobilisieren und an die zukünftige Frontlinie zu verlegen.
Damals hatten die verantwortlichen Politiker zwei Wochen Zeit, und die Mobilisierung dauerte zwei Wochen. Diesmal wird nur sehr wenig Zeit zur Verfügung stehen.
Auf dem Weg ins „Paradies“?
Erinnern wir uns: Präsident Putin verkündete, die Bürger Russlands kämen im Fall eines Atomkriegs ins Paradies. Augenscheinlich hängen er und seine Berater der Strategie des Nuklearen Zweitschlags an. Das bedeutet, dass Russland nicht wartet, bis die gestarteten feindlichen Atomraketen auf seinem Territorium einschlagen, sondern seinerseits Raketen losschickt, solange jene sich noch in der Luft befinden.
Namhafte Militärexperten beider Seiten halten diese Strategie des "Launch on alert" für die am meisten destabilisierende Strategie, weil in einer Krisensituation die ganze Welt zur Geisel eines funktionierenden oder nicht funktionierenden Frühwarnsystems würde. Russland macht diesbezüglich keine Angaben, doch nach Schätzungen der Amerikaner haben diese Systeme während des Kalten Kriegs etwa 200 Mal versagt. Man kann annehmen, dass diese Zahl in Russland ähnlich hoch ist.
Bekannt ist der Fall des Oberstleutnant Petrow, der im Jahre 1987 durch eine eigenmächtige Entscheidung vermutlich die Menschheit vor dem Untergang rettete, indem er die Signalisierung eines massenhaften Starts von Atomraketen vom Territorium der USA aus als Fehlalarm einstufte und nicht weitermeldete. Kurz darauf wurde er entlassen.
Ich wünschte, ich würde mich irren: Der derzeitige Chef des Weißen Hauses dürfte in etwa die gleiche Weltanschauung haben wie der im Kreml. Beide sind der Auffassung, dass es vor allem auf eine Position der Stärke ankomme. Präsident Putin sagte in einem bemerkenswerten Interview anlässlich der Einverleibung der Krim, er habe damals erwogen, die strategischen Atomaren Streitkräfte in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen.
Die russischen strategischen Atomstreitkräfte befinden sich in ständiger Kampfbereitschaft. Doch stellen wir uns einmal vor, im Verlauf der nächsten Krise würde etwas Derartiges geschehen. Ohne Zweifel würden die Amerikaner es genauso machen. Im Moment hängt unser Leben von der Frage ab, ob die Frühwarnsysteme funktionieren.
Rüstungskontrollverhandlungen jetzt
Was tun? Es müssen weitreichende Rüstungskontrollverhandlungen aufgenommen werden. Damit solche Verträge funktionieren, braucht es gegenseitiges Vertrauen. Dieses Vertrauen ist derzeit nicht vorhanden.
Wenn aber das gegenseitige Vertrauen zwischen den Ländern und deren Regierungen fehlt, sind die Menschen gefragt. Sehr aufschlussreich ist es, die Memoiren sowjetischer und amerikanischer Diplomaten parallel zu lesen, die an den Verhandlungen beteiligt waren, aus denen das System erwuchs, das gerade zusammenbricht. Diese Menschen fanden aus einer Position der Konfrontation heraus zu gegenseitigem Respekt.
Von den Wiener Verhandlungen zur konventionellen Rüstungskontrolle, die 18 Jahre dauerten, gibt es eine schöne Anekdote: Ein General der westlichen Seite trifft einen General des Warschauer Pakts. „Iwan“, flüstert er. „Ich muss dir etwas sagen, und weil ich dir vertraue, weiß ich, dass du das, was ich dir sage, Wort für Wort an deine Vorgesetzten weitergibst. Warte auf mich in der Bar um die Ecke.“ Leider befinden wir uns heute wieder in einer Situation, in der wir dieses System persönlicher Kontakte dringend brauchten, in einer Situation vollständigen gegenseitigen Nichtverstehens und falscher Interpretationen des Agierens der jeweils anderen Seite.
Wladimir Jermakow, Direktor der Abteilung für Rüstungskontrolle des russischen Außenministeriums, erklärte im vergangenen Jahr ganz offen, Russland habe kein Interesse an einer Verlängerung der Rüstungskontrollverträge. Wozu braucht man Verträge, sagt er, wenn man so hervorragende Raketen besitzt. Solche obskuren Auffassungen finden sich heute auf beiden Seiten des Atlantiks.