Keine Grundlage für Friedensgespräche
Im Westen wird über Verhandlungen mit Putin spekuliert, aber er setzt weiter auf Maximalziele
Der junge Mann sitzt im Rollstuhl. Vor ihm stehen Fähnchen Russlands und der „Donezker Volksrepublik“ im Osten der Ukraine. Hinter ihm hängt eine Landkarte des Separatistengebildes. An der Uniform des Invaliden hängen Orden. Er sei 2015 verwundet worden, erzählt er. Leider sei die Rehabilitation erfolglos geblieben. „Macht nichts“, im Rollstuhl sei das Leben „genauso farbenfroh“. Dann dankt der junge Mann Wladimir Putin, dem er per Videoverbindung zugeschaltet ist, „ganz stark dafür, dass Sie den Donbass nach Russland geholt haben. Wir haben nicht umsonst gekämpft.“ Er schluchzt. „Die Jungs sind nicht umsonst gestorben.“
Die Szene stammt aus einer Videokonferenz Putins zur Förderung von Behinderten vom vergangenen Freitag. Dankesbezeugungen an den russischen Präsidenten wie die des Rollstuhlfahrers sind Kern aktueller Kreml-Inszenierungen. Sie gelten Putins jüngsten Annexionen ukrainischer Gebiete Ende September.
Einerseits gefällt sich Putin in der Rolle des „Befreiers“. Andererseits geht es mit den Inszenierungen darum, die Russen glauben zu machen, die horrenden Opfer des Kriegs lohnten sich. So rühmte Putin Ende November in einer Begegnung mit Müttern den Tod eines Kämpfers, der sein Leben für die „Wiedervereinigung“ des Donbass mit Russland gegeben habe: „Sein Ziel ist erreicht.“
Wladimir Putins Auftritte vermitteln auch die Botschaft, dass über annektierte Gebiete nicht mehr gesprochen werde. Moskau hatte es schon in den jahrelangen Gesprächen im sogenannten Normandie-Format abgelehnt, über die 2014 annektierte Krim zu verhandeln. Mit den neuen Anschlüssen sollen Verhandlungen über insgesamt vier weitere ukrainische Gebiete ausgeschlossen sein. „Auf immer“, so lautet die Kreml-Formel. Obwohl Russland die Kontrolle über große Teile der Gebiete, so der Stadt Cherson, wieder verloren hat und sie ebenso beschießt wie andere ukrainische Gebiete. Das ist der Hintergrund neuer westlicher Diskussionen um Verhandlungen mit oder gar „Sicherheitsgarantien“ für Putin.
Biden: Bereit für Gespräche, wenn…
Sie entzündeten sich an einer Aussage des amerikanischen Präsidenten Joe Biden. Dieser hatte am Donnerstag an der Seite des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gesagt, er habe zwar keine unmittelbaren Pläne, Putin zu kontaktieren. Doch fügte Biden hinzu, er wäge seine Worte vorsichtig. „Ich bin bereit, mit Herrn Putin zu reden, wenn er tatsächlich daran interessiert ist, nach einem Weg zu suchen, den Krieg zu beenden.“ Das sei bislang nicht der Fall. Sollte es der Fall sein, werde er sich gern mit Putin zusammensetzen, in Absprache mit den französischen und den anderen NATO-Freunden. In Washington wurde daraufhin gerätselt, ob dies ein neues Signal an Putin sei, zumal Biden die ukrainische Regierung nicht erwähnt hatte.
Im November hatte Mark Milley, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, gesagt, dass die ukrainische Position der Stärke die Möglichkeit einer politischen Lösung schaffe. Gemeint war, dass die erfolgreiche Gegenoffensive Kiews eine Gelegenheit darstelle, mit Russland in Verhandlungen zu treten. Biden hat bislang stets hervorgehoben, die Vereinigten Staaten würden der Ukraine nicht sagen, was sie tun solle.
Grundverschiedene Voraussetzungen
Alsbald stellte John Kirby, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, nun klar, dass Bidens Position sich nicht verändert habe. Der Präsident sei in der Frage eines Gesprächs mit Putin sehr beständig: Er, Biden, habe derzeit „keine Absicht“, mit dem russischen Präsidenten zu sprechen. Zudem habe Biden gesagt, Putin habe absolut keine Neigung zu erkennen gegeben, an irgendeinem Dialog interessiert zu sein. Im Gegenteil: Putin sei daran interessiert, diesen illegalen und grundlosen Krieg fortzusetzen.
Auch Putins Sprecher wurde um Kommentare zu Bidens Aussage ersucht. „Was hat Präsident Biden faktisch gesagt?“, antwortete Dmitri Peskow. „Er sagte, dass Verhandlungen möglich sind, nachdem Putin aus der Ukraine abgezogen ist.“ Dazu sei Russland „zweifellos“ nicht bereit. Die „Spezialoperation“ gehe weiter. Putin sei und bleibe „bereit zu Kontakten, zu Verhandlungen“, um Russlands „Interessen“ durchzusetzen. „Natürlich“ seien „friedliche, diplomatische Mittel“ der „bevorzugte Weg“ dazu.
Putins Kriegsziele bestehen fort
Die Rhetorik überdeckt, dass Putins zum Überfall Ende Februar ausgegebene Kriegsziele fortbestehen. Sie laufen auf eine Kapitulation Kiews und eine Aufspaltung der Ukraine hinaus. Zu „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ (was als prorussischer Regierungswechsel gedeutet wird) kam der „Zurückholen“ genannte Anschluss weiterer Gebiete hinzu. Sogar von „Entsatanisierung“ der Ukraine ist mittlerweile die Rede; im Staatsfernsehen wird der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky als „Antichrist“ dargestellt.
Dass die Rhetorik immer schriller wird, dürfte den militärischen Rückschlägen geschuldet sein. Aber Putins Anschlüsse und die Präsidentenworte zu den Kriegszielen binden seine Funktionäre. So sagte Peskow nun, dass die Vereinigten Staaten Russlands „neue Gebiete“ nicht anerkennen, „kompliziert die Suche nach einer Grundlage für mögliche Diskussionen wesentlich“.
Dass Moskau sich, ohne einzulenken, als verhandlungsbereit bezeichnet, weist auf ein Kalkül: Verbündete der Ukraine würden das Land aus Eigeninteresse fallenlassen. Würden sich, unter Druck wegen hoher Rohstoffpreise oder neuer Flüchtlingsströme aus der Ukraine, auf Verhandlungen einlassen – zu Putins Bedingungen.
Um Gesprächsbereitschaft zu demonstrieren, erinnerte Peskow nun auch an Moskaus vor einem Jahr von Washington und der Nato eingeforderte „Sicherheitsgarantien“. Diese liefen darauf hinaus, Europa in eine russische und eine amerikanische Einflusszone aufzuteilen und Länder wie die Ukraine ohne deren Mitsprache zu „neutralisieren“. Gespräche zwischen Moskauer und westlichen Vertretern waren die Folge. Putin war nicht bereit, sein „Paket“ von Maximalforderungen aufzuschnüren und etwa über Abrüstung getrennt zu verhandeln. „Die Initiative ist nicht auf Gegenliebe gestoßen“, klagte Peskow nun.
Russische Hoffnungen auf Macron
Hoffnungen konnte Moskau am Wochenende aus Äußerungen Macrons ziehen. Dieser sagte zum Abschluss seines USA-Besuchs, er habe sich mit Biden über „die Sicherheitsarchitektur, in der wir morgen leben wollen“, ausgetauscht. „Einer der wichtigsten Punkte“ für Putin sei „die Angst, dass die Nato bis vor seine Haustür kommt, die Stationierung von Waffen, die Russland bedrohen können“.
Das spiegelt zwar eine der Begründungen Putins für seinen Überfall auf die Ukraine. Doch hat Putin die sich wegen seines Kriegs abzeichnende Erweiterung der Nato um Schweden und Finnland gleichgültig kommentiert. Macron sagte aber: „Dieses Thema wird Teil der Themen für den Frieden.“ Die Frage sei, „wie wir unsere Verbündeten und Nato-Mitgliedstaaten schützen, indem wir Russland Garantien für seine eigene Sicherheit an dem Tag geben, an dem es an den Verhandlungstisch zurückkehrt“.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 5.12.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.