Erzähl uns, Landolf, von der Krim

Landolf Scherzer schreibt eine Reportage über die Krim und jubelt uns versteckte Botschaften unter

Recherchierte illegal auf der Krim: Landolf Scherzer (2015)

Da sag nochmal jemand, in Deutschland dürfe man nicht alles sagen und schreiben. Landolf Scherzer jedenfalls erzählt in „Leben im Schatten der Stürme“ Geschichten über die Krim, die unsere Leitmedien ganz anders erzählen.

Das Setting von Scherzers Buch, das der Autor Ukrainern und Russen widmet, "die sich gegen jeden hasserfüllten Nationalismus und für ein friedliches Zusammenleben ihrer Völker einsetzen", ist einfach: Ein Freund krimtatarischer Herkunft bittet Scherzer, die in Deutschland weitgehend unbekannten Leiden der Krimtataren zu recherchieren und aufzuschreiben. Dessen Eltern hatten zu jenen gehört, die Stalin 1944 deportieren ließ, in ihrem Fall nach Usbekistan.

Scherzer fährt also 2019 hin, zweimal, verbringt mehrere Wochen auf der Halbinsel – entgegen Warnungen des Auswärtigen Amts. Ein befreundeter Filmemacher hatte Scherzer noch auf die Reise mitgegeben, er werde auf der Krim viele Nationalitäten treffen, deren Heute sehr kompliziert sei. „Du solltest“, rät er Scherzer, „nicht versuchen, diese Kompliziertheit in Deinem Text zu vereinfachen. Du darfst nicht entscheiden: das ist gerecht! Das ist ungerecht!“ Er solle immer nur die Menschen ansehen, aufmerksam zuhören und nur aufschreiben, was sie sagen. „Vertraue Deinen Augen und den Ohren. Der Verstand widerspiegelt oft nur, was ihm Politik und Medien versüßt oder verbittert haben.“

Landolf Scherzer

Leben im Schatten der Stürme. Erkundungen auf der Krim

Aufbau
318 Seiten
Hardcover
22 Euro
ISBN 978-3-351-03978-3
Zum Verlag

Und das tut Scherzer. Ganz nüchtern, so scheint es, schildert er, was er erlebt und hört auf der Krim, die, so belehrt uns der Autor, „nach Darstellung des Kremls durch einen Volksentscheid der Russischen Föderation angegliedert und nach Ansicht der Ukraine, der EU, der SA und anderer Länder von Russland völkerrechtswidrig annektiert worden“ sei. Was soll uns das sagen? Dass es bezüglich der Annexion der Krim zwei gleichwertige Meinungen geben könnte?

Während seiner „Erkundungen“ auf der Krim in Weinstuben, Autoreparaturwerkstätten und bei Spaziergängen, unter Krimtataren (freundliche, gute Geschichtenerzähler, die noch immer wegen einiger Nazi-Kollaborateure diskriminiert werden), Russen und auch einem ukrainischen Chefredakteur entdeckt Scherzer viele Putin-Fotos. Was soll uns das sagen? Wie die Mehrheitsverhältnisse dort sind?

Seine Leserschaft erfährt, dass einst auf der Krim auf Gorbatschows Befehl alle Weinstöcke herausgerissen werden mussten, „eine schwere Arbeit für Hände und Herz“. Was soll uns das sagen? Dass Gorbatschow gegen den Alkoholismus im Land vorging? Oder – ganz generell – wie falsch dessen Politik gewesen und welche (schlechten) Ergebnisse sie für die Menschen gebracht hat?

Scherzer erinnert auch daran, dass die Kubakrise schon vor Chruschtschows Versuch begann, dort Raketen zu stationieren. Chruschtschow zog ab, was im Westen als großer Triumph gefeiert wurde. Niemand erinnert sich an die Raketen, die die USA zuvor in Izmir stationiert hatten, von wo sie innerhalb von Minuten Kiew oder Moskau erreichen konnten. In Scherzers Sätzen: „Etwas später packten die Amerikaner, wie im Geheimen abgemacht, leise ein. Sie waren gezwungen, die Raketen in der Türkei abzubauen, die uns das alles eingebrockt hatten.“ Was soll uns das sagen? Dass Geschichte sich gerade wiederholt?

Russland – gut für die Krim

Scherzer berichtet, dass die Russen viel Geld bereitgestellt hätten, für Investitionen, die lange liegengeblieben seien; dass die Russen die Korruption auf der Krim bekämpften, dafür gebe es „Kontrollkommissionen in Moskau, die oft direkt Putin unterstellt sind“; dass die Russen 2015 die Herausgabe einer russischsprachigen Broschüre mit Berichten von Jugendlichen über die Deportation ihrer tatarischen Großeltern ermöglicht hätten, „ein Jahr nach der russischen Eingliederung der Krim!“; dass alle Haushalte inzwischen einen Gasanschluss haben; dass Studenten von der Krim in ukrainischen Hochschulen eingeschrieben sind, weil ein russisches Diplom in Westeuropa und den USA nicht anerkannt werden; dass die Ukraine nach der Annexion die Wasserversorgung der Krim unterbrochen hatte, und dass „im ukrainischen Fernsehen zu sehen ist, wie im Unterricht die Kinder im Takt nach ‚Hängt die Russen…‘ hüpfen müssen“.

Solche Hinweise, die offensichtlich viel sagen sollen, streut Scherzer in seine durchaus unterhaltsam geschriebene, geist- und erkenntnisreiche Reportage aus dem „Paradies“ ein. Ein muslimischer Krimweinbauer versichert, dass selbst gemachter Wein kein Alkohol sei. Ein anderer gibt eine Lebensweisheit zum Besten, wonach ein Gast ein „fruchtbarer Regen“ sei, „der die Wüste des Alltags zum Blühen bringt“. Sogar ein Rezept für Plow erhält Scherzers Leserschaft. Und wer’s noch nicht wusste, der erfährt auch noch Abschließendes über Joseph Beuys‘ Absturz am 16. März 1944 in einer Stuka Ju 87 und seine Verletzungen, über die es viele Versionen gibt. Beuys‘ eigene ist falsch. Es waren nicht Tataren, die den späteren Künstler mit Filz, Fett und Honig geheilt haben, wie er gern und medienwirksam vorgab, sondern er lag in einem gewöhnlichen Militärlazarett.

Nach 318 Seiten legt man das Buch zur Seite und ist geneigt, auf die Krim zu reisen, um Scherzers Erkenntnisse zu überprüfen, vor allem jene über die Rolle der Russen auf der Krim. Schließlich sind die derzeit nicht bekannt dafür, Paradiese zu schaffen, sondern Höllen. Aber leider warnt das Auswärtige Amt noch immer vor Einreisen auf die Krim, vom ukrainischen Festland aus sei „eine Betretenserlaubnis der zuständigen ukrainischen Behörde nötig“, die man nicht erhält. Über russisches Staatsgebiet einzureisen „stellt einen Verstoß gegen ukrainische Gesetze (illegale Einreise) dar und zieht ein Einreiseverbot in die Ukraine sowie unter Umständen Strafverfolgung nach sich“.

Uns bleibt also derzeit nur, uns auf Scherzers illegale „Erkundungen“ zu verlassen und zu überlegen, ob Politik und Medien unseren Verstand bezüglich der Krim und der Tataren, vor allem aber bezüglich der Russen auf der Krim „versüßt oder verbittert“ haben.

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