Kampf gegen die „Kirche des Aggressors“

Selenskys Wende in der Religionspolitik: Ist die Ukrainische Orthodoxe Kirche Kollaborateur Moskaus?

Orthodoxe Kirche in der Ukraine: das Höhlenkloster in Kiew
Verdächtige Ukrainische Orthodoxe Kirche: Das Höhlenkloster in Kiew gilt als besonders russophil und soll darum einer gesonderten Untersuchung unterzogen werden.

Anfang Dezember hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky den Nationalen Sicherheitsrat beauftragt, die Ukrainische Orthodoxe Kirche einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Zuvor hatte es bereits Durchsuchungen von Klöstern gegeben, darunter das bedeutende Kiewer Höhlenkloster. Dort wurden pro-russische Materialien und größere Geldsummen gefunden.

Darüber hinaus sind in den vergangenen Wochen vermehrte Fakten öffentlich geworden, die Kollaborationen von Bischöfen und Priestern der Kirche mit den russischen Besatzern beweisen. Präsident Selensky, der sich seit seinem Amtsantritt dezidiert aus den sehr komplexen Fragen der Kirchen in der Ukraine herausgehalten hat, sieht nun offensichtlich dringenden Handlungsbedarf.

Zwei Orthodoxe Kirchen in der Ukraine

Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) wurde 1990 als Kirche „mit weitgehender Autonomie“ vom Moskauer Patriarchat ausgestattet und ist bis heute die größte Religionsgemeinschaft in der Ukraine.[1] Sie ist also in administrativen und finanziellen Fragen unabhängig von der Kirchenleitung in Moskau, verstand sich jedoch selbst immer in geistlicher Gemeinschaft mit der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK).

1992 spaltete sich eine bedeutende Gruppe von Bischöfen und Gläubigen von dieser Kirche ab, da ihnen diese administrative Unabhängigkeit von Moskau nicht weit genug ging. Sie begründeten die Ukrainische Orthodoxe Kirche – Kiewer Patriarchat, die seitdem die zweitgrößte Religionsgemeinschaft der Ukraine darstellte, allerdings von keiner anderen orthodoxen Kirche der Welt anerkannt wurde.

Im Jahr 2018/19 ging diese Kirche in die neu begründete Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) ein und wurde durch den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel anerkannt. Es gibt also in der Ukraine seit 2019 zwei orthodoxe Kirchen, die miteinander konkurrieren und sich gegenseitig nicht als legitime Kirche anerkennen.

Die entscheidende Differenz der beiden Kirchen wird in der – tatsächlichen oder behaupteten – Loyalität zum ukrainischen Staat und seiner Selbständigkeit gesehen. Der UOK wurde schon immer vorgeworfen, nicht ausreichend oder aufrichtig ukrainisch zu sein, der OKU hingegen wird vorgeworfen, nur ein politisches Projekt ohne kirchenrechtliches Fundament zu sein.

UOK: Propagandist Russlands?

Dieser Streit hat durch die militärische Aggression Russlands seit der Annexion der Krim 2014 eine enorme politische Relevanz gewonnen. Auch die Gründung der OKU im Wahlkampf Petro Poroschenkos 2018 muss vor dem Hintergrund der Zuspitzung russischer Aggression und Propaganda gesehen werden – es war auch der Wunsch, den orthodoxen Gläubigen der Ukraine eine kirchenrechtlich sichere Möglichkeit zu geben, die Gemeinschaft mit dem Patriarchat in Moskau zu verlassen. Der UOK wurde seit 2014 vorgeworfen, sich nicht deutlich genug zur ukrainischen Souveränität zu bekennen und russischer Propaganda einen festen Ort mitten in der Ukraine zu geben.

Diese Vorbehalte gegen die UOK nahmen auch immer wieder die Form von Gesetzesentwürfen an. Die Kirche hätte sich als „Russische Orthodoxe Kirche in der Ukraine“ umbenennen sollen, um ihr Zentrum im Aggressorstaat öffentlich sichtbar zu machen; außerdem wollte man den Zugang von ihren Militärseelsorgern zu den ukrainischen Streitkräften verbieten.

Moskau beklagt Gewalt gegen Christen

Die UOK stellte diesen gesellschaftlichen Druck zusammen mit den lokalen Ereignissen von Gewalt gegen ihre Kirchgebäude als systematische Kirchenverfolgung dar und spielte damit wiederum der russischen Propaganda in die Hände. Das Moskauer Patriarchat baute seit 2018 die angebliche Verfolgung der Christen in der Ukraine in ihr internationales Engagement für Religionsfreiheit ein und verstärkte auch seine geopolitischen Angriffe auf die Kräfte, die eine Spaltung der Gläubigen der Heiligen Rus anstreben würden. Viele Gläubige der UOK litten gleichzeitig unter einer wachsenden Stigmatisierung ihrer kirchlichen Zugehörigkeit.

Die russische Invasion im Februar 2022 spitzte diese Lage zu. Allerdings positionierte sich die Kirchenleitung der UOK in Kiew sofort und eindeutig gegen den Krieg, unterstrich ihre absolute Loyalität zur ukrainischen Souveränität und Integrität und rief Moskau auf, die Aggression sofort zu beenden. Sie mobilisierte alle Kräfte zur humanitären Hilfe in den Kriegsgebieten, und es waren und sind ihre Gemeinden und Priester, die vom ersten Tag an am härtesten von Zerstörung und Gewalt betroffen waren, da diese Kirche in den Gebieten im Osten und Süden des Landes am meisten vertreten ist. (Zwischen dem 24. Februar und dem 1. Dezember sind mindestens 186 Gotteshäuser der UOK zerstört oder beschädigt worden.)

Kollaboration in besetzten Gebieten

Fast flächendeckend beendeten die Priester und Bischöfe die Nennung des Patriarchen in Moskau während der Liturgie als Zeichen der Erschütterung darüber, dass die ROK den Krieg legitimierte und aktiv unterstützte. Ein Konzil im Mai 2022 verkündete eine vollständige Loslösung von Moskau, anschließend wurden alle Bezüge zur ROK in den Statuten der UOK beseitigt.

Den Kritikern gingen diese Schritte nicht weit genug, auch, weil die Bedingungen des Kriegs mit seiner massiven medialen Propaganda die Herstellung von Vertrauen quasi unmöglich machten. Weiterhin wurde ein Verbot der Kirche gefordert, Fälle von Kollaboration in Klöstern und Gemeinden sowie durch Bischöfe und Priester in den besetzten Gebieten wurden bekannt, zurückhaltende Stellungnahmen von Metropoliten wurden als mangelnde Loyalität ausgelegt. Heiligtümer des Lands wie das Höhlenkloster in Kiew sollen der UOK entzogen und der OKU übergeben werden.

Religionsfreiheit vs. Verbot der UOK

Eine Bremse in dem Bestreben, die UOK gesetzlich zu verbieten, war das besonnene Handeln der Stabsstelle für Religionsfreiheit und Ethnopolitik am Kultusministerium. Sowohl der Kulturminister Oleksandr Tkachenko selbst als auch die Leiterin der Stabsstelle, Olena Bohdan, traten konsequent für die Einhaltung der Gesetze zur Religionsfreiheit, die Grundsätze der Gleichbehandlung und auch die Verpflichtungen gegenüber den europäischen Institutionen ein.

Dies bedeutet, dass eine strafrechtliche Verfolgung im Einzelfall von erwiesener Kollaboration natürlich erfolgen muss, allerdings eine pauschale Einschränkung der Religionsfreiheit einer ganzen Kirche nicht zulässig ist. Bohdan und Tkachenko wurden massiv persönlich für ihre Haltung angegriffen, dennoch waren sie lange wichtige Berater für Selensky in den religionspolitischen Fragen.

Neuer Berater: Wende in Selenskys Religionspolitik

Dies änderte sich im November, als mit Viktor Yelensky ein langjähriger und ausdrücklicher Kritiker der UOK als religionspolitischer Berater von Selensky berufen wurde. Weitere Personalentscheidungen wie der Wechsel des Leiters des Ukrainischen Sicherheitsdienstes vom eher UOK-freundlichen Bakanov zu dem kritischen Malyuk im Juli 2022 haben ebenfalls zu einer schärferen Überwachung der UOK geführt.

Die umfassenden Durchsuchungen im Kiewer Höhlenkloster und in weiteren Bistümern der UOK sowie der Erlass des Präsidenten zu gezielten Maßnahmen der Kontrolle der Tätigkeit der UOK am 2. Dezember 2022 signalisieren nun die Wende in Selenskys Religionspolitik. Der Nationale Sicherheitsrat soll in zwei Monaten einen Gesetzentwurf zur Beschränkung der Tätigkeit von religiösen Organisationen mit Verbindungen in den Aggressorstaat vorlegen.

Gleichzeitig soll das Statut und alle anderen Unterlagen der UOK auf Verbindungen mit Moskau untersucht werden. Das Höhlenkloster gilt als besonders russophil und soll darum einer gesonderten Untersuchung unterzogen werden. Mit gezielten persönlichen Sanktionen wurden bereits jetzt unter anderem der Vorsteher des Höhlenklosters, Metropolit Pavel (Lebed), sowie der Oligarch und Diakon der UOK, Vadim Novinsky, belegt.

Wo bleibt die Religionsfreiheit?

In der ROK reagierte man umgehend auf die „staatlichen Repressionen“ gegen die „einzige kanonische Kirche“ in der Ukraine. Es werden Parallelen zur Kirchenverfolgung unter den Bolschewiken in den 1920er-Jahren gezogen, die ebenfalls eine „Erneuererkirche“ nutzten, um die Orthodoxe Kirche zu spalten und zu unterwandern. Sollten die gesetzlichen Vorhaben einen pauschalen Charakter bekommen, wird sich die Ukraine nicht nur einen Teil des europäischen Vertrauens verspielen, sondern auch die russische Propaganda wird sich dann begründet auf europäische Richtlinien zum Schutz der Religionsfreiheit berufen.

Aktuell ist von einem solchen Verbot, oder auch von Enteignungen, nicht die Rede. Aber die ukrainischen Gesetze erlauben gezielte rechtliche Strafen oder Schließungen von einzelnen Gemeinden, ohne die gesamte Religionsgemeinschaft zu treffen. Fraglos hat die Ukraine die Pflicht, auch Religionsgemeinschaften auf ihre Loyalität zum eigenen Land in Kriegszeiten zu überprüfen und die nachweisbaren Fälle von Kollaboration innerhalb der UOK geben jeden Anlass dazu. Allerdings wird die deutliche Änderung der Religionspolitik durch Selensky in jedem Fall Auswirkungen auf den ohnehin fragilen Religionsfrieden im Land selbst haben.

Angesichts der Zuspitzung der Vorwürfe gegen die UOK, die mit offener Diskreditierung und Falschnachrichten einhergeht, ist mit einer weiteren Stigmatisierung der Gläubigen zu rechnen, die entweder als Mitglieder der UOK mit allen Kräften dem Krieg widerstehen, oder aber innerhalb der OKU für mehr Vertrauen in die UOK werben. Langfristig kann nur eine Annäherung zwischen den beiden orthodoxen Kirchen in der Ukraine die Spaltung in der Gesellschaft aufhalten, der aktuelle Diskurs führt jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Der pauschale Vorwurf, die UOK sei eine russische Kirche und handle und predige im Sinne des Aggressors, macht alle Versuche der Kirche nichtig, sich aus der Vereinnahmung Moskaus zu lösen.

Anmerkung:

1] Die Statistiken zur Kirchenzugehörigkeit sind immer wieder Anlass für Diskussionen. Es gibt eine sehr zuverlässige Registrierung von Religionsgemeinschaften, die jedoch keine Auskunft über die Größe der jeweiligen Gemeinden gibt – nach dieser Statistik gehören rund 12 000 Gemeinden zur UOK und etwa 7000 zur Orthodoxen Kirche der Ukraine. Umfragen nach einer religiösen Identifikation der Bevölkerung zeigen die OKU mit etwa 40 Prozent als stärkste Kirche, mit der UOK identifizieren sich 15 Prozent. Zur Problematik vgl. Thomas Bremer: Which Orthodox Church In Ukraine Is The Largest? https://publicorthodoxy.org/2022/11/09/ukraine-largest-church/

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