Nationalismus der Notwehr
Paradox und Provokation: Der Nationalismus ist für Europa Fluch, für die Ukraine Segen
Die schwadronierende Klasse, die Talkshows und Feuilletons bevölkert, war sich bei Kriegsbeginn sicher, dass die Ukraine der russischen Übermacht nicht widerstehen würde. Sie empfahl Kiew die ehrenhafte Kapitulation. Seither ist sie beleidigt, dass die Ukrainer den gutgemeinten Ratschlag ausschlagen. Woher aber nimmt das ukrainische Volk die Kraft, um seit bald einem Jahr dem Angriff zu trotzen?
Die Erklärungen reichen von „Freiheitsliebe“ über „Heldentum“ bis hin zum „Mut der Verzweiflung“. In den Versuchen, das Unbegreifliche begreifbar zu machen, schwingt stets der Selbstzweifel mit, ob die saturierten Europäer in gleichem Maß zum Widerstand fähig wären. Die Ukrainer haben dem Westen Europas jedenfalls eines voraus: ihren Nationalismus.
Nationalismus der Notwehr
Die Mischung aus Souveränität, Identität und nationalem Zusammenhalt existiert in der traditionell in Ost und West gespaltenen Ukraine noch nicht lange. Es ist ein Nationalismus der Notwehr, die einzig mögliche Antwort auf die russische Aggression und den aus der Zeit gefallenen panslawischen Imperialismus Putins.
Auch wenn das Phänomen neu ist, zeigt es erstaunliche Wirkung. Es ist die Kraftressource, die auch Zivilisten erst die Bombardierung von Wohnquartieren und jetzt die Zerstörung von Elektrizitätsnetz und Wasserversorgung überstehen lässt.
Im Krieg verlieren die harten Fakten – Truppenstärke und Bewaffnung – an Wert, wenn es an den weichen Faktoren fehlt: an unbedingtem Siegeswillen und einer Sache, für die es sich zu sterben lohnt. Die Ukrainer haben sie, die demoralisierten russischen Soldaten nicht.
Ansteckender Nationalismus
Dieser Nationalismus ist überdies ansteckend. Unzählige Deutsche, die nie eine schwarz-rot-goldene Fahne entrollen würden, schwenken enthusiastisch die blau-gelben Landesfarben. Man kann den Ersatz-Patriotismus wunderlich finden, lächerlich ist er nicht. Denn er äußert sich auch in echter Hilfsbereitschaft für die Millionen von ukrainischen Frauen und Kinder, die sich auf den großen Treck nach Westen gemacht haben.
Dennoch kann einem das Lob auf den Nationalismus im Halse stecken bleiben. Er ist in Europa eine Pest, auch wenn er sich für die Ukrainer als Gegengift erweist. Seit die Religion als Grund für kollektiven Massenmord mit der Aufklärung ausgedient hat, wurden die schlimmsten Verbrechen und stupidesten Dummheiten in seinem Namen begangen.
Im Ersten Weltkrieg griff Österreich-Ungarn aus verletztem Nationalstolz Serbien an. Dann stürzten sich die anderen Großmächte mit den Begriffen Ehre und Vaterland auf den Lippen wie Lemminge in den Abgrund. Der Kalte Krieg unterbrach das Morden, seit dem Fall der Berliner Mauer ist es zurück.
Vom Kommunismus zum Nationalismus
Die Jugoslawien-Kriege lesen sich wie ein Gegenbild des Ukraine-Kriegs. Der kommunistische Funktionär Slobodan Milošević füllte die Leerstelle des desavouierten Kommunismus mit nationalistischen Phrasen. Sein großserbischer Wahn verführte die Massen, ein Fanatismus löste den anderen ab. Das Massaker von Srebrenica ist das Ergebnis eines zum Exzess getriebenen Nationalismus.
Seit das Kunstgebilde Jugoslawien zerbrach, hat der Krieg Europa nie mehr verlassen. Zwar ignorierte Westeuropa die Kämpfe an seinen Rändern zunächst, ob in Georgien, Nagorni Karabach oder Transnistrien.
Der Teufel und der Nationalismus
Selbst der russische Überfall auf Krim und Donbass 2014 blieb ein fernes Wetterleuchten. Inzwischen hat sich die selbstgefällige Behauptung erledigt, zwischenstaatliche Kriege seien in Europa nicht mehr möglich. Das „Nie wieder!“ ist Makulatur. Stattdessen erhält der Satz des Philosophen Helmuth Plessner beklemmende Aktualität: „Mit der Wirklichkeit rechnen heißt mit dem Teufel rechnen.“
Keine andere Ideologie brachte seit dem frühen 19. Jahrhundert so viel Leid über Europa wie der Nationalismus. Zu Recht galt er Liberalen wie Sozialisten als tabu. Erleichtert, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, kultivierte die Bundesrepublik Deutschland gar eine „postnationale“ Identität. Man war stolz, europäisch zu denken.
Nationalismus und das postnationale Projekt EU
Umso bemerkenswerter ist es, welche Umdeutung der negativ besetzte Begriff erfährt. Nun stehen Selbstbehauptungswille und Durchhaltefähigkeit im Vordergrund. Der Nationalismus mutiert zum Nationalgefühl, wobei es schwerfällt, den Unterschied präzise zu bestimmen. Wenigstens in moralischer Hinsicht ist die Ausgangslage klar: Russland hat die Ukraine überfallen – David gegen Goliath, Verteidiger gegen Aggressor. Notwehr eben.
Für niemanden ist die Neuinterpretation so prekär wie für die EU. Sie ist ein postnationales Projekt, seit sie sich im Vertrag von Maastricht der „immer engeren Union“ verschrieb. Ob dies in die Überwindung der Nationalstaatlichkeit münden soll, bleibt zwar offen. Mitgedacht wird die Möglichkeit stets, wenn sich die EU-Kommission anschickt, einen weiteren Bereich ihrer zentralen Kontrolle zu unterwerfen.
Dass der Nationalismus für Europa einen Fluch und für die Ukraine einen Segen darstellt, ist Paradox und Provokation zugleich. Naive EU-Freunde trivialisieren die komplizierte europäische Geschichte nach 1945 als glatte Fortschrittserzählung und unaufhaltsam fortschreitende Integration.
Auftrieb fürs Europa der Vaterländer
Das Gegenteil ist wahr. Supranationale Kooperation wie verbissenes Beharren auf Souveränität und Eigenart gehören gleichermaßen zu Europa. Ursula von der Leyen, die Apostelin der Vergemeinschaftung, und Wolodymyr Selensky, der Herold der Selbstbehauptung, verkörpern die Vielfalt des Kontinents.
Mit der Rückkehr eines positiv konnotierten Nationalismus verändert sich Europa. Das Europa der Vaterländer, wie es Charles de Gaulle einst beschwor, erhält Auftrieb. Die Idee vom Vaterland Europa wird Utopie, wenn sie denn je mehr war als ein blutleeres Konstrukt. Den Frieden zu sichern, lautet der höchste Anspruch der EU. In der Ukraine ist sie daran gescheitert.
Sterben für die EU?
Sterben für die EU? Erschien früher die Frage bizarr, so klingt sie seit der russischen Invasion weniger überspannt. Die meisten Europäer dürften sie kopfschüttelnd verneinen. Das Äußerste können nur die Nationalstaaten ihren Bürgern abverlangen.
Einzelne Länder unterstreichen dies mit einer Wehrpflicht. Im Angesicht des Kriegs hätte wohl auch Deutschland diese nie abgeschafft. Die Entscheidung gehört zu den Frivolitäten der Ära Merkel. Den Wehrdienst wie in Schweden wieder einzuführen, käme aber auch niemand in den Sinn. So viel Wumms und Zeitenwende würde nur stören im Land der wohltemperierten Innerlichkeit.
Allem Gerede von Werte-Union und europäischer Demokratie zum Trotz bleibt die EU eine Verwaltungsbehörde mit weitreichenden Kompetenzen. Mit den Emotionen und Leidenschaften, wie sie die Nation im Guten wie im Schlechten freizusetzen vermag, kann sie nicht mithalten. Deshalb bleibt Brüssel im Krieg ein Statist; da mag das Europaparlament Russland so pompös wie folgenlos einen Terrorstaat nennen.
Woran die EU scheitert
Der Geltungsbereich des Postnationalen kennt klare Limitationen. Bei Sicherheit und Identität macht eine wachsende Zahl von EU-Staaten im Osten wie im Süden keine Konzessionen mehr.
Ein Beispiel ist die Migrationspolitik. Die Frage, wen man ins Land lässt, wird nicht nur wegen der vielen ukrainischen Flüchtlinge dringlicher. Das Andere und das Fremde wirken bedrohlicher, seit Russland demonstrierte, dass es das Existenzrecht seiner Nachbarn nicht achtet. Je fragiler die Grenzen, umso entschiedener werden sie verteidigt.
Eine europäische Migrationspolitik ist genauso Fiktion wie eine gemeinsame Verteidigungspolitik. Das zeigt sich im Streit um die Migranten, die dank bezahlten wie unbezahlten Helfern den Weg übers Mittelmeer finden. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni wird sich mit ihrer harten Haltung so weit durchsetzen, wie die italienische Innenpolitik dies zulässt. Die EU kommt dagegen nicht an. Ihre papiernen „Aktionspläne“ zeugen weder von Planungen noch von Aktionen.
Auch die illiberalen Regierungen in Polen und Ungarn verspüren Rückenwind. Wie kann man Selensky feiern und Viktor Orbán verdammen? Sie mögen unterschiedlicher nicht sein. Der eine verteidigt sein Land, der andere sein persönliches Stückchen Macht. Ihre Politik speist sich aber aus derselben Quelle. Beide vertreten Spielarten des europäischen Nationalismus.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 1.12.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung