Ungarn: Siegt der Freiheitsdrang der Menschen?

Im April wählt Ungarn zwischen Viktor Orbáns völkischem Nationalismus und liberaler Demokratie

von Kati Marton
Viktor Orbán 1989: "Wir können die herrschende Partei zu freien Wahlen zwingen."

Wenn die Ungarn im April ihre Stimmzettel abgeben, steht die liberale Demokratie selbst zur Wahl – und das nicht nur in Ungarn. Der frühere US-Präsident Donald Trump unterstützt den populistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Tucker Carlson, das populärste Gesicht bei Fox News, ist nach Budapest gereist, um dort für Orbáns Version eines völkischen Nationalismus zu werben. Trotzdem steht Orbán vor seinem schwersten Kampf seit seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 2010.

Die normalerweise zerstrittene ungarische Opposition hat sich dieses Mal hinter einem einzigen Kandidaten versammelt: Péter Márki-Zay. Er ist der konservative Bürgermeister von Hódmezővásárhely, einem Provinzstädtchen in der Mitte des Lands.

Márki-Zay ist gläubiger Christ und Vater von sieben Kindern und tritt mit einem pro-europäischen Rechtstaats- und Antikorruptionsprogramm an. Er beschreibt sich selbst als „alles, was Viktor Orbán nur vorgibt zu sein“.

Orbáns Nationalismus und die hilflose EU

Der heute 58 Jahre alte Orbán war vor 30 Jahren ein leidenschaftlicher Reformer. In den letzten zehn Jahren hat er aus Ungarn jedoch eine „illiberale Demokratie“ gemacht, in der nur noch seine Stimme den Willen des Volks verkündet. In seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident von 1998 bis 2002 führte Orbán Ungarn in die NATO und die Europäische Union.

Nachdem er 2002 die Wahl verloren hatte, schwor er sich, künftige Wahlniederlagen um jeden Preis zu vermeiden. Er gab seine pro-europäische demokratische Agenda auf und wandte sich dem völkischen Nationalismus und der Globalisierungskritik zu.

Nachdem er 2010 mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament wieder ins Amt wurde, änderte Orbán die ungarischer Verfassung und das Wahlrecht, um sich selbst an der Macht zu halten. Schon bald kontrollierte seine Fidesz-Partei die ungarischen Medien und die Justiz – einschließlich des Verfassungsgerichts. Und Orbán und seine Spezi wurden sehr reich.

Auf Wahlkampfveranstaltungen behauptet Orbán, die EU versuche „Ungarn aus den Händen der Jungfrau Maria zu reißen und Brüssel vor die Füße zu werfen“. Seinen Schimpftiraden und schweren Verstößen gegen die Regeln und Werte der EU zum Trotz ist Ungarn aber immer noch deren Mitglied.

Die verwickelte Bürokratie der EU ist für den Umgang mit einem Autokraten wie Orbán einfach nicht gemacht. Sie hat keine Mechanismen, um ihn unter Kontrolle zu bringen, vor allem, weil er sich darauf verlassen kann, dass die ebenso illiberale polnischer Regierung gegen alle Strafmaßnahmen ihr Veto einlegt.

Der Freiheitsdrang der Menschen

Als gebürtige Ungarin betrifft mich diese Wahl persönlich. Im Jahr 1955, ich war sechs Jahre alt, öffnete ich die Tür unserer Wohnung in Budapest. Vor mir standen drei Männer in Arbeitsoveralls. „Wir kommen wegen des Gaszählers“, log der eine. „Hol deine Mutter.“ Ich rief meine Mutter, ging wieder in mein Zimmer und sah sie (und meinen Vater, der bereits in Haft war) fast zwei Jahre nicht wieder. Meine Eltern, die letzten unabhängigen Journalisten im von der Sowjetunion kontrollierten Ungarn, wurden der Spionage angeklagt und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Selbst zu Zeiten des Kalten Kriegs war die Inhaftierung eines Paars mit zwei kleinen Kindern schockierend genug, um auf der Titelseite der New York Times zu landen. Zum Glück kamen meine Eltern nach 18 Monaten frei, gerade rechtzeitig, um über den Ungarischen Volksaufstand im Oktober 1956 zu berichten.

Als diese Revolution von sowjetischen Panzern und Soldaten brutal niedergeschlagen wurde, begann eine Besatzung, die bis zum Jahr 1989 andauern sollte. „Budapest“, rief Präsident Dwight D. Eisenhower in seiner zweiten Antrittsrede im Jahr 1957, „ist nicht länger nur der Name einer Stadt. In Zukunft ist es ein neues und leuchtendes Symbol für den Freiheitsdrang des Menschen.“

Ich war noch ein Kind, als wir im nächsten Jahr unsere Reise in den Westen antraten. Aber ich war mein Leben lang sehr stolz auf das Land, das wir verlassen mussten. Am 16. Juni 1989 wohnte ich mit 300 000 Ungarn auf dem Heldenplatz in Budapest der zweiten Beisetzung wichtiger Persönlichkeiten bei, die in der gescheiterten Revolution getötet worden waren.

Orbáns falsches Versprechen und George Soros

Die feierliche Zeremonie hatte mich zu Tränen gerührt und ich sehe noch genau den letzten Redner vor mir, einen schlanken 26-Jährigen mit Schnurrbart, der rief: „Wenn wir entschlossen genug sind, können wir die herrschende [kommunistische] Partei zu freien Wahlen zwingen.“

Mit diesen aufrüttelten Worten begann der junge Orbán seinen politischen Aufstieg. Ein paar Monate später hatte Orbán Budapest verlassen, um mit einem Stipendium des amerikanischen Investors und Philanthropen George Soros, der ihm heute bei jeder Gelegenheit als Sündenbock dient, in Oxford zu studieren.

1995 führten regionale Demagogen auf dem Balkan immer noch ihren Krieg zur ethnischen Säuberung. Im selben Jahr entschied ich mich, meine Hochzeit mit dem Diplomaten Richard Holbrooke, der noch mitten in den Verhandlungen zur Beendigung dieses Konflikts steckte, in meiner Heimatstadt zu feiern.

In seiner Tischrede, neben ihm saß der ungarische Staatspräsident Árpád Göncz, sagte mein frisch gebackener Ehemann: „Mit dieser Heirat heiße ich auch Ungarn wieder in der europäischen Demokratiefamilie willkommen – wo es hingehört.“

Richard und ich pflegten während seiner ersten Amtszeit freundschaftliche Beziehungen zu Orbán und luden ihn sogar zum Abendessen in unser Zuhause ein. Er ist zwar kein mordlustiger Diktator im Stil eines Wladimir Putin, hat aber neben der Anhäufung persönlicher Macht keinerlei tiefere Überzeugungen. Genial ist seine Fähigkeit, einen verhinderten Nationalismus zu wecken und den Ungarn das Gefühl zu geben, nur er können sie vor einer feindlichen, nichtchristlichen Welt retten. Dieselben Slogans habe ich vor 25 Jahren oft von Kriegstreibern auf dem Balkan gehört.

In Ungarn sitzen keine unabhängigen Reporter mehr in Haft. Orbáns Regime hat subtilere, jedoch ebenso wirksame Wege gefunden, um kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen, zum Beispiel durch den Entzug von Sendelizenzen und die Übernahme von Nachrichtensendern durch Holding-Gesellschaften seiner Getreuen.

Die sowjetischen Truppen, die in meinem Viertel patrouillierten, sind schon lange weg. Mit Orbán hat Putin jedoch einen Verbündeten innerhalb der EU – selbst dann, wenn der Kreml mit der Ukraine die Sicherheit Ungarns im Osten bedroht.

Orbán hat das Versprechen, das er 1989 auf dem Heldenplatz abgegeben hat, nicht erfüllt. Wenn 90 Prozent der ungarischen Medien vom Staat kontrolliert werden, kann man kaum von „freien“ Wahlen sprechen. Trotzdem entscheiden in diesem Frühjahr nicht Trump oder Carlson und auch nicht Orbán, sondern die ungarischen Wähler.

Fast eine halbe Million Ungarn (von insgesamt zehn Millionen) haben seit Orbáns Machtübernahmen das Land verlassen. Jetzt müssen wir, die ungarische Diaspora, unsere Stimme erheben, damit die Ungarn von morgen nicht ebenfalls das Land verlassen müssen, um ihr volles Potenzial zu entfalten.

Zum zweiten Mal in meinem Leben hat Ungarn die Chance zum „Symbol für den Freiheitsdrang des Menschen“ zu werden. Diese Chance müssen die Ungarn nutzen, solange sie noch können.

Kati Marton ist Gründungsmitglied des Beirats von Action for Democracy und hat zuletzt den Titel The Chancellor: The Remarkable Odyssey of Angela Merkel (William Collins, 2021) veröffentlicht.

Copyright: Project Syndicate, 2022.

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