„Jeder Konflikt endet am Verhandlungstisch“

Finnlands Außenminister Pekka Haavisto: „Wir wollen auf der richtigen Seite der Geschichte stehen“

von Peter A. Fischer und Georg Häsler
Pekka Haavisto zum Ukraine-Konflikt
Pekka Haavisto zum Ukraine-Konflikt: "Wir wollen die Ukraine mit vereinten Kräften unterstützen, damit sie in diesen Verhandlungen dereinst in einer möglichst starken Position ist."

Finnland hat im Winterkrieg 1939/40 hart gegen die Sowjetunion gekämpft. Am Ende musste es gleichwohl in einen Frieden einwilligen, bei dem es große Territorien an Russland abtreten musste. Lassen sich daraus für die gegenwärtige Situation in der Ukraine Lehren ziehen?

Pekka Haavisto: Als ich im Dezember Kiew besuchte, äußerte Präsident Selensky seine Bewunderung für General Mannerheim und unseren Widerstand. Mein Vater war damals ein Kind und wurde zusammen mit einer halben Million anderer evakuiert, als wir nach dem Krieg Karelien an Russland abtreten mussten. Unser Widerstandswille ist vielleicht ein Vorbild, aber jeder Konflikt endet am Verhandlungstisch. Wir wollen die Ukraine mit vereinten Kräften unterstützen, damit sie in diesen Verhandlungen dereinst in einer möglichst starken Position ist.

Was heißt das?

Wir wissen, woran es der ukrainischen Armee derzeit fehlt, und haben der Ukraine bereits elf Lieferungen von schweren Waffen spendiert; jetzt planen wir die zwölfte. Ich bin ziemlich stolz darauf, wie schnell und hart Europa reagiert hat.

Henry Kissinger setzte sich in Davos dafür ein, dass Europa Friedensgespräche vermittelt, die eine Rückkehr auf die Grenzen vor dem 24. Februar 2022 beinhalten, aber Russland auch eine Option zur Rückkehr in die internationale Staatengemeinschaft und nach Europa eröffnen. Zudem hielt er nun einen Nato-Beitritt für die beste Lösung, damit der Ukraine Sicherheit garantiert wird.

Da wir selber noch nicht Nato-Mitglied sind, kann ich mich schlecht dazu äußern, wer als Nächstes aufgenommen werden sollte. Aber wir sind EU-Mitglied und unterstützen die Aufnahme der Ukraine und der Moldau in die EU sehr. Das hat für mich Priorität.

Und Friedensgespräche?

Es gibt Stimmen, welche die Uno für nutzlos halten, weil Russland im Sicherheitsrat mit seinem Veto alles blockieren kann. Ich sage: Ein Land wurde in Verletzung der Uno-Charta attackiert. Es hat das Recht, sich zu verteidigen. Es hat das Recht, andere um Hilfe zu bitten, bis der Sicherheitsrat das Problem löst. Der Sicherheitsrat ist blockiert, aber die Uno-Generalversammlung hat reagiert, und auch viele Uno-Unterorganisationen spielen eine wichtige Rolle.

Es gibt etwas Licht am Ende des Tunnels, dass zumindest kommuniziert wird. Bei den von der Türkei vermittelten Verhandlungen im März war die Rückkehr auf die Grenzen vor dem 24. Februar ein Teil des Pakets. Doch dann wurden im April die traurigen und schweren Menschenrechtsverletzungen von Butscha entdeckt. Jetzt ist es schwierig, die Parteien wieder an den Verhandlungstisch zu bringen.

Finnland hatte spezielle Beziehungen zu Russland. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sahen viele die Finnen als diejenigen, die am besten mit den Russen umgehen konnten.

Ein Ukrainer fragte mich kürzlich: „Wie konntet ihr nach dem Zweiten Weltkrieg mit jemandem sprechen, zu dem ihr null Vertrauen hattet?“ Ich habe geantwortet, dass man nach dem Krieg miteinander sprechen muss. Und das, auch wenn man sich nicht mehr vertraut. Die Finnen hatten überhaupt kein Vertrauen und fürchteten, dass die Russen in Verletzung des Friedensvertrags erneut angreifen würden. Erst mit der Zeit konnte ein gewisses Vertrauen wieder aufgebaut werden. Unser Handlungsspielraum wurde natürlich viel größer, als die Sowjetunion kollabierte und wir der EU beitraten.

Russen investierten in Finnland und Finnen in Russland.

Ja, das war die Friedensdividende. Aber jetzt sind wir in einer ganz anderen Situation. Wir versuchen uns von Russland zu entkoppeln, von russischen Rohstoffen unabhängig zu werden. Ich denke, das wird für längere Zeit die neue Normalität sein. Denn das Vertrauen ist wieder zerstört.

Nun haben Sie die Beziehungen völlig eingefroren. Wieso diese Kehrtwendung?

Am Morgen des 24. Februar habe ich mir gedacht, Europa ist in einem Krieg. Wir wissen nicht, was passieren wird, ob das Regime in Kiew kollabieren wird, ob die Russen die ganze Ukraine besetzen werden und was der nächste Schritt sein wird. Vor diesem Hintergrund haben wir unsere eigene Situation analysiert und die historische Entscheidung getroffen, der Nato beitreten zu wollen. Zu unserer großen Freude machte Schweden auch mit. Wir waren uns einig, dass wir mit einer neuen Bedrohung unserer Sicherheit konfrontiert sind, die kaum so bald wieder verschwinden wird.

Russland will die Truppen in Karelien verstärken. Was hat das in Finnland ausgelöst?

Wir waren auf hybride Operationen, Cyberattacken oder Luftraumverletzungen vorbereitet. Es blieb bisher ziemlich ruhig.

Dennoch haben Sie die Grenze für Russen geschlossen.

Auch wenn wir an Russen keine Touristenvisa mehr vergeben, lassen wir doch Russen weiter herein, die bei uns arbeiten. Studenten und auch enge Familienmitglieder dürfen die Grenze passieren, und manchmal erlauben wir, dass sich Russen in finnischen Spitälern behandeln lassen.

Kann man denn alle Russen kollektiv für Putins Aggression bestrafen?

Das ist eine sehr philosophische Frage. Können Sie alle Deutschen für die Verbrechen des Nazi-Regimes verantwortlich machen? Es gibt sicher eine gewisse gemeinsame Verantwortung, die auch davon abhängt, wie sich die Opposition organisieren kann. Aber ich bewundere Leute wie Alla Pugatschowa, die alte Pop-Sängerin, die plötzlich ihre Meinung äußerte. Ich bewundere die von jungen Russen verehrten Rockband-Leader, die sich getrauen, ihre Meinung offen zu äußern. Sie haben es nicht einfach.

Wieso erlauben Sie dann kritischen Russen nicht, in Finnland Schutz zu suchen?

Nach der Teilmobilisierung in Russland haben wir Tausende über die Grenze gelassen. Wer flüchten wollte, konnte das tun.

Finnland hat als Konsequenz aus dem Krieg die Nato-Mitgliedschaft beantragt und die letzten Reste der Neutralität aufgegeben. Was bedeutet dies politisch für Finnland?

Wir haben die Neutralität eigentlich schon 1995 aufgegeben, als wir der EU beigetreten sind. Militärisch blieben wir aber bündnisfrei. Das Nato-Beitritts-Gesuch ändert nichts an unserer Außenpolitik: Auch als Nato-Land werden wir uns für Menschenrechte, Frieden und demokratische Prinzipien einsetzen. Wir halten auch an unserer eigenen Landesverteidigung fest. Wir haben weiterhin eine Armee mit einer großen Reserve, wir schaffen auch den obligatorischen Militärdienst nicht ab. Wir werden unser Land zuerst selber verteidigen – und erst, wenn wir auf Hilfe angewiesen sind, auf die Unterstützung der Nato zurückgreifen.

Wie sehen Sie in dem Zusammenhang die schweizerische Neutralität?

Natürlich will ich einem anderen Land keine Ratschläge erteilen und respektiere die unterschiedlichen historischen Sichtweisen, die beispielsweise auch EU-Länder wie Österreich oder Irland haben. Aber ich wünsche mir vor allem Solidarität mit der Ukraine. Die Neutralität sollte das nicht verhindern. Ich appelliere an alle, die Ukraine in dieser Lage nach Kräften zu unterstützen.

Sehen Sie noch einen Wert darin, dass es weiterhin bündnisfreie und neutrale Länder gibt?

Natürlich bringen unterschiedliche Positionen in einem solchen Konflikt auch gewisse Vorteile: Die Türkei, Saudi-Arabien oder auch Israel konnten Kanäle öffnen, als dies nötig war.

Kann Finnland nun seine traditionelle Rolle als Vermittler von Friedensprozessen überhaupt noch wahrnehmen?

Selbstverständlich. Wir vergleichen uns etwa mit Norwegen, das als Nato-Mitglied in Kolumbien, in Sri Lanka oder im Nahen Osten vermittelt hat. Auch wir werden uns weiterhin in der Friedensförderung profilieren.

Die Türkei blockiert die Aufnahme Finnlands in die Nato. Wie lange wird dieser Widerstand noch andauern?

Alle Länder außer der Türkei und Ungarn haben die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands in der Nato unmittelbar ratifiziert. Wir sind stolz auf diese Unterstützung, die wir von der Mehrheit der Nato-Länder erfahren haben. Ungarn will unsere Aufnahme bestätigen, sobald das Parlament im Februar aus den Winterferien zurückgekehrt ist. Bedingungen hat Budapest dafür keine erhoben. Mit der Türkei haben wir eine Arbeitsgruppe gebildet, die bis jetzt auf der operativen Ebene ordentlich arbeitet. Ankara hat zum Beispiel zur Kenntnis genommen, dass Schweden seine Terrorgesetzgebung geändert hat.

Wieweit müssen und wollen Sie da Konzessionen machen?

Wir konnten erklären, dass bei uns die Richter über Auslieferungen entscheiden, nicht die Politiker. Ich denke, dass unser Anti-Terror-Gesetz den gegenseitigen Bedürfnissen entspricht. Und auch das neueste Militärpaket der USA an die Türkei, das gegenwärtig geschnürt wird, dürfte für den Weg Finnlands und Schwedens in die Nato hilfreich sein.

Sie sind Mitglied der Grünen, nun plädieren Sie für Waffenlieferungen an die Ukraine, investieren in die Kernkraft, wollen in die Nato. Wie passt das zusammen?

Natürlich löst das eine Debatte aus, eine gute Debatte allerdings. Wir sind Werten verpflichtet. Wir sind den Menschenrechten genauso verpflichtet wie dem Grundsatz, dass die Grenzen von Staaten nicht verletzt werden dürfen. Wir wollen auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, und manchmal gibt es Fälle, in denen man sich verteidigen muss.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 19.1.2023 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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