Verhandlungen: Alles ist möglich, wenn…
Welche Chancen haben Verhandlungen im russisch-ukrainischen Kriegskonflikt? Und was sind die Voraussetzungen?
Im Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, spielen Verhandlungen bisher praktisch keine Rolle. Kann man sich vorstellen, dass es dabei bleibt? Wohl kaum, denn die Idee, den Konflikt ohne Verhandlung zu beenden, ist nicht tragfähig, da sie voraussetzt, dass eine der beiden Seiten kapituliert. Damit ist nicht zu rechnen.
Keine Verhandlungen führen, um auf die Kapitulation zu warten, ist mit extremen Wohlfahrtsverlusten verbunden, würde sehr vielen Menschen das Leben kosten und birgt die Gefahr einer gefährlichen Eskalation des Konflikts. Allerdings ist der Erfolg einer Verhandlung nicht garantiert. Verhandlungen können auch scheitern, und ein solches Scheitern ist umso wahrscheinlicher, je stärker der Interessenkonflikt zwischen den Verhandelnden ist.
Auf dem Basar kommt es fast immer zu Lösungen, weil sowohl der Verkäufer als auch der Käufer ein Interesse daran haben, dass es zu einer Einigung kommt – beide profitieren davon. Aber welche Chancen haben Verhandlungen im russisch-ukrainischen Kriegskonflikt? Ganz grundsätzlich gilt, dass Verhandlungen nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn es Lösungen gibt, die beide Seiten im Vergleich zum Scheitern besserstellen. Die Kunst einer klugen Verhandlung besteht darin, solche Lösungen zu identifizieren oder, wenn nötig, zu konstruieren.
Verhandeln heißt nicht, das Maximale herauszuschlagen
Entscheidend ist dabei, als was die Verhandlung wahrgenommen wird. Wird sie mit einem Kampf verwechselt, in dem es allein darum geht, durch geschicktes Vorgehen, durch Tricks und Täuschung den eigenen Vorteil zum Nachteil des anderen durchzusetzen, schränkt das die Erfolgsaussichten massiv ein. Tatsächlich laufen viele Verhandlungen nach diesem Muster ab, und die meisten davon führen nicht zu einer Einigung. Mögliche Lösungen werden nicht akzeptiert, weil die Verhandelnden glauben, noch mehr für sich herausschlagen zu können.
Erfolgversprechender ist eine Verhandlung dann, wenn sie als die gemeinsame Suche nach einer Alternative zum Scheitern begriffen wird, die es erlaubt, beide Seiten besserzustellen. Es gibt viele Beispiele für Verhandlungen, die als Kampf beginnen und als erfolgreiche Vorteilssuche enden.
Zwei Gründe können dafür verantwortlich sein. Entweder beziehen die Verhandlungspartner einen Mediator ein, also einen kundigen Ratgeber, der sie auf die Vorteile einer klugen Lösung geschickt aufmerksam macht, oder es ist die pure Verzweiflung, die dazu zwingt, die Konfrontation durch Koordination der Interessen zu ersetzen.
Verhandeln zwei Länder, die Krieg miteinander führen, ist das der Extremfall. Der Verhandlungskonflikt zwischen beiden könnte nicht größer, der Interessengegensatz nicht schärfer sein. Wie sollte die Ukraine mit Russland verhandeln können, wo doch russische Soldaten Ukrainer töten, das Land besetzen und auslöschen wollen?! Und warum sollte Russland mit einem Land verhandeln, dessen Existenzrecht es infrage stellt?!
Auf den ersten Blick ergeben Verhandlungen keinen Sinn, und es erscheint glaubwürdig, wenn beide Seiten immer wieder betonen, dass entweder sie oder die Gegenseite gar kein Interesse an Verhandlungen hat. Aber sinnlos sind Verhandlungen nur dann, wenn es keine Lösungen gibt, die für beide Seiten besser sind als das, was ohne Verhandlung geschieht. Grundsätzlich lassen sich konsensfähige Lösungen durch zwei Ansätze gestalten – das Hochtreiben der Kosten für die Gegenseite und das Einbringen von neuen Verhandlungsoptionen.
Gute Chancen, wenn Kosten des Kriegs steigen
Eine große Schwierigkeit bei Verhandlungen zwischen Kriegsparteien ist, dass nicht klar ist, was ohne Verhandlung passiert. Das Geschehen auf dem Schlachtfeld bestimmt die Position am Verhandlungstisch. Verhandlungen werden deshalb umso wahrscheinlicher und aussichtsreicher, je klarer sich der Ausgang des Krieges abzeichnet oder je festgefahrener die militärische Situation ist. Die Aussicht auf eine Verhandlungslösung wird letztlich von den Kosten bestimmt, die ein Verzicht auf Verhandlungen für beide Seiten hat.
Beide Seiten wissen das und versuchen deshalb die Kosten für die Gegenseite in die Höhe zu treiben. Hohe Kosten des Kriegs schaffen aber nicht nur die Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen, sie vergrößern auch den Raum für Lösungen, die beide Seiten akzeptieren können, weil der Status quo ihnen zu hohe Kosten abverlangt.
Der Lösungsraum lässt aber nicht nur durch das Hochtreiben der Kosten der Gegenseite gestalten. Alternativ lassen sich auch Techniken einsetzen, die die Wissenschaft entwickelt hat, um Verhandlungskonflikte selbst in den verfahrensten Situationen noch zu entschärfen.
Das Harvard-Verhandlungskonzept ist ein solches Verfahren, das weltweit erfolgreich von Mediatoren eingesetzt wird. Mit diesem Konzept wird der Versuch unternommen, zusätzliche Optionen anzubieten, die für eine Seite attraktiv sind und für die andere keine oder geringe Kosten erzeugen. Dadurch entstehen neue Lösungspakete, die für beide Seiten zustimmungsfähig sind.
Im Ukrainekonflikt ist dies vor allem dadurch denkbar, dass Länder wie die USA, Deutschland oder China zur Verhandlungspartei werden und lukrative Optionen in den Verhandlungsprozess einbringen, zu deren Realisierung sie im Falle einer Einigung beitragen. Hierbei sind Lockerungen und Garantien ebenso mögliche Optionen wie neue Verträge und Bündnisse.
Strenge Geheimhaltung Voraussetzung für Erfolg
Wie kann man sich eine erfolgreiche Verhandlung, die den Ukrainekrieg beendet, praktisch vorstellen? Es gibt dafür eine elementare Voraussetzung, ohne die ein Erfolg unwahrscheinlich ist. Die Verhandlung muss unter strengster Geheimhaltung stattfinden. Niemand darf wissen, dass verhandelt wird und worüber. Jede Form von Öffentlichkeit würde die Spielräume in der Verhandlung so weit verengen, dass kaum eine Lösung erreicht werden könnte.
Hätte man die ersten Verhandlungen, die 1993 zwischen Israelis und Palästinensern in Oslo stattfanden und die zum berühmten Oslo-Abkommen geführt haben, in aller Öffentlichkeit geführt, wären sie gescheitert. Das belegt die Tatsache, dass es sowohl in Israel als auch in Palästina Gegner des Abkommens gab, die sicher mit Macht versucht hätten, sein Zustandekommen schon im Keim zu ersticken.
Die Anbahnung des Oslo-Abkommens gibt einen weiteren wichtigen Hinweis darauf, wie man Verhandlungen zwischen Parteien herbeiführen kann, die zuvor glaubwürdig und nachhaltig versichert haben, niemals mit der anderen Seite an einem Tisch zu sitzen, geschweige denn zu verhandeln. Initiiert und vermittelt wurden die Gespräche in Oslo von Norwegern. Also von Menschen, die sehr weit weg vom Gegenstand der Verhandlung waren und die nicht nur deshalb von beiden Seiten als neutral angesehen wurden. Solche Vermittler spielen eine sehr wichtige, mitunter entscheidende Rolle im Verhandlungsprozess.
Rückzug Russlands ist möglich, wenn…
Es sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Verhandlungslösungen im Ukrainekrieg möglich. Wie sie konkret aussehen und ob sie erreicht werden können, lässt sich nicht sicher voraussagen. Sicher ist nur, dass es sie nur dann geben wird, wenn tatsächlich verhandelt wird. Zurzeit wird die Diskussion so geführt, als gäbe es nur die Wahl zwischen Waffenlieferungen, begleitet von Sanktionen, oder Verhandlungen.
Jede Aufforderung, doch endlich zu verhandeln, wird als Kritik an der Aufrüstung der Ukraine gedeutet. Dabei kann eine erfolgreiche Strategie der Ukraine und des Westens nur darin bestehen, beides zu tun. Russland muss militärisch, ökonomisch und politisch massiv unter Druck gesetzt werden. Aber zugleich muss der russischen Führung (nicht nur Putin) die Möglichkeit einer Verhandlungslösung aufgezeigt werden.
Heißt das, dass man der Ukraine zumuten muss, dass sie auf Gebiete verzichtet, um eine Verhandlungslösung zu ermöglichen? Vielleicht, aber nicht zwangsläufig. Auch der vollständige Rückzug Russlands aus der Ukraine (einschließlich der Krim) ist ein mögliches Verhandlungsergebnis. Es ist erreichbar, wenn man die Kosten eines weiteren Verbleibs der russischen Armee in die Höhe treibt.
Werden diese Kosten hinreichend spürbar und wird die Drohung, sie weiter in die Höhe zu treiben, hinreichend glaubwürdig, ist vieles denkbar. Erst recht dann, wenn der russischen Seite Alternativen aufgezeigt werden, die dem Land Sicherheit garantieren und langfristig eine Rückkehr in die internationale Gemeinschaft in Aussicht stellen. Dann ist auch ein Wechsel an der russischen Führungsspitze im Bereich des Möglichen.
Die Optimisten unter uns werden glauben, dass dies alles den verantwortlichen Politikern natürlich klar ist und dass es deshalb längst intensive Gemeinverhandlungen gibt, die von neutralen und kompetenten Moderatoren begleitet werden. Die Pessimisten glauben nur an das, was Politiker und Politikerinnen laut aussprechen. Wer richtig liegt, wird die Geschichte zeigen.
Christoph Starke promovierte an der Universität Magdeburg zum Thema "Verhandlungsanalyse". Joachim Weimann ist Verhaltensökonom mit einem Lehrstuhl an der Universität Magdeburg.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 10.1.2023 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.