Transnistriens Fußballwunder

Sheriff Tiraspol ärgert Europas Champions und bringt den Transnistrien-Konflikt wieder ins Gespräch

Zum Niederknien: Giorgos Athanasiadis und Dimitris Kolovos feiern am 28. September 2021 den Sieg von Transnistriens FC Sheriff gegen Real Madrid.

Das Fußballwunder vom Dnjestr hat Europas Fans und Kicker überrumpelt: Ein kleiner Club aus einer kleinen Stadt eines kleinen osteuropäischen Lands schafft es erstmals in die prestigeträchtige UEFA Champions League und ärgert prompt die Großen. Den inzwischen fest in Europas Königsklasse etablierten FC Schachtar Donezk 2:0 nach Hause geschickt und die Königlichen von Real Madrid im Bernabeu-Stadion in der Nachspielzeit mit 2:1 abgekocht. Gruppenerster.

Das macht Lust auf mehr. Augenreiben in Europa, ausgelassene Freude in Tiraspol und eine Mischung aus Stolz und Skepsis in der moldauischen Hauptstadt Chişinău. Erstmals tritt ein moldauischer Vertreter in Europas höchster Spielklasse auf. Der Dauermeister der Divizia Națională spielt sonst gegen namenhafte Vereine wie FC Zaria Bălți, FC Nistru Otaci oder den FC Milsami. Nun machen sich Toni Kroos, Karim Benzema und Eden Hazard auf nach Tiraspol. Ein Hexenkessel wird sie erwarten.

Der eingefrorene Konflikt um Transnistrien

Doch so einfach ist es nicht. Sheriff ist zwar moldauischer Meister, spielt aber in der Hauptstadt des abtrünnigen Gebiets Transnistrien. Dieses hält sich für einen Staat, wird aber von keinem anderen Staat der Welt anerkannt. Trotzdem gibt es eine eigene Währung, eine Hymne, Flagge, Streitkräfte und Polizei.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion stand die neu gegründete Republik Moldau vor einer ungewissen Zukunft. Unionistische Kräfte wollten die Vereinigung mit Rumänien, andere die staatliche Unabhängigkeit beibehalten und der von mehrheitlich russisch- und ukrainischstämmigen Bevölkerung belebte Teil östlich des Flusses Dnjestr wollte wiederum die eigene Unabhängigkeit. Es folgte ein Bürgerkrieg, bei dem Transnistrien tatkräftig von Russland unterstützt wurde, und ein Einfrieren des Konflikts, das bis heute anhält.

Wer von Chişinău nach Tiraspol will, muss zunächst an sogenannten russischen Friedenstruppen vorbei (deren Zahl auf 1300 bis 1400 geschätzt wird), ehe an der Quasi-Grenze die Pässe kontrolliert werden. Mit einem Fußballticket geht dies auch in Pandemiezeiten schnell und unkompliziert. Einen Stempel gibt es nicht, dafür ein Papierdokument, das man besser nicht verlegen sollte.

Viel Russisches in Transnistrien

In Transnistrien wird man überrascht von aufgeräumten Straßen, der Allgegenwärtigkeit der russischen Sprache, Restaurants und Geschäften, die nur „transnistrischen Rubel“ akzeptieren und weder gängige Währungen noch Kreditkarten. Im Vorfeld der Dumawahlen fielen Dutzende überdimensionale Wahlplakate von Russlands Regierungspartei „Einiges Russland“ auf. In 27 Wahllokalen nahmen die im Quasistaat lebenden Menschen an den Wahlen des russischen Parlaments teil – so viele wie nie zuvor.

Chişinăus Proteste verhallen. Andere russische Parteien waren nicht sichtbar.

Da ein transnistrischer Pass von keinem Land der Welt anerkannt wird, haben die Menschen neben dem moldauischen Pass meistens auch selbstverständlich einen russischen und/oder rumänischen, was sie sogar zu EU-Bürgern macht. Pragmatismus in einem Land, wo vieles nur auf den ersten Blick ausweglos erscheint. Etwa die Hälfte der Einwohner Transnistriens arbeitet Schätzungen zufolge dauerhaft im Ausland.

Sheriff und die Legionäre

Vor allem aber erstaunt den eingereisten Fußballfan der geschätzt 200 Millionen Euro teure Stadionkomplex des FC Sheriff. Mehrere moderne Plätze, Hallen, ein Luxushotel. Man könnte auch in Wolfsburg oder Sinsheim sein. Beste Trainingsbedingungen, ein gutes Gehalt und die Aussicht, international zu spielen ist auch ein Argument für die Spieler des FC Sheriff – fast ausschließlich Legionäre aus Afrika, Lateinamerika und Europa, die sich auf der internationalen Bühne für die ganz großen Clubs empfehlen. Moldauische Namen findet man kaum, obwohl die Nachwuchsakademie des FC Sheriff als vorbildlich gilt.

Der Name Sheriff jedoch ist im postsowjetischen Disneyland zwischen dem Dnjestr und der Ukraine allgegenwärtig: Tankstellen, Supermärkte, eine Baufirma, eine Medienholding, Werbung, eine Spirituosenfabrik, der lokale Mobilfunkanbieter – alles, was in Transnistrien als profitabel gilt, hängt irgendwie mit Sheriff zusammen. Es ist ein Megakonzern, gegründet in der chaotischen Zeit der 1990er-Jahre von zwei früheren KGB-Agenten, Viktor Guschan und Ilja Kasmalij.

Guschan ist zugleich Präsident des Clubs. Um ihn ranken sich Legenden – einmal soll er eine Übungshandgranate auf das Spielfeld geworfen haben, als ihm die Leistung seines Clubs missfiel. Nach dem 2:0 gegen Donezk sah man ihn stolz eine Zigarre in der Ehrenloge paffen.

Sheriff ist aber auch zugleich mit der transnistrischen Politik verbunden: Eine politische Partei in Transnistrien ist eng mit Sheriff verwoben, und auch auf die moldauischen Wahlen nimmt Sheriff laut unabhängigen Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachtern mit Stimmenkauf im transnistrischen Elektrorat zugunsten pro-russischer Kräfte Einfluss.

Auch Moldauer drücken die Daumen

Faktisch ist der FC Sheriff ein mit einem Oligarchen verbundener Fußballclub, wie es in Osteuropa inzwischen nahezu bei allen auf internationaler Ebene auftretenden Clubs ist. Die Verbindung zur Politik eines nicht anerkannten Staats in einem noch immer schwelenden Konflikt aber ist einmalig. Auch wenn der Marktwert des Clubs allein den halben Marktwert der ersten moldauischen Fußballliga ausmacht, sind viele Menschen auch diesseits der Quasi-Grenze des Dnjestr stolz auf den Verein des mit sportlichen Erfolgen eher selten auffallenden Lands.

Möglich wurde der Erfolg aber auch mit Sheriffs engen Verbindungen in die moldauische Politik. 23 der 30 Spieler haben keinen moldauischen Pass. Dass so viele Ausländer im Team sind, wurde erst möglich, nachdem der moldauische Fußballverband die Begrenzung für ausländische Kicker aufgehoben hatte. Profitiert hat davon nur ein Verein. Eine transnistrische Liga gibt es nicht. Auf der Ebene des Fußballs ist die Republik Moldau daher ein wiedervereintes Land, wenn auch mit einem klaren Dominator.

Darf man einem solchen Verein die Daumen drücken? Sicherlich geht diese Frage zuallererst an die Menschen in der Republik Moldau. Der Erfolg von Sheriff ist das Gesprächsthema in den Kneipen Chişinăus. Und da gehen beim Gruppengucken die Arme hoch, wenn Sheriff trifft.

Politik spielt dort nur eine untergeordnete Rolle. Auch im Stadion sah man in den Reihen nur eine transnistrische Fahne. Viele Menschen aus dem Westen des Lands hatten sich zudem auf den Weg gemacht, für manche Besucher war es das erste Mal überhaupt oder nach sehr langer Zeit, dass sie nach Transnistrien fuhren.

Über die verbindende Wirkung des Fußballs wird viel geschrieben und sicherlich gibt es auch einen zwischenmenschlichen Faktor (zumindest, wenn man sich für Fußball interessiert). Der Fußball bietet aber mindestens eine Chance, sich mit diesem neben der Ukraine und dem Südkaukasus anderen ungelösten Konflikt in Europa und Transnistrien kritisch, aber aufgeschlossen zu beschäftigen.

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