Moldova

Maia Sandu: Moldaus Hoffnung

Die neue Präsidentin Maia Sandu will ihr zwischen Ost und West zerrissenes Land einen

von Frank Nienhuysen
Dem Westen zugewandt: Moldovas Präsidentin Maia Sandu zu Gast bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 19. Mai 2021

Anna Kirilow braucht nur ein paar Sekunden, um ihre Armut zu offenbaren. Die Handykamera zeigt ein kleines Zimmer, in dem vier Menschen wohnen: Anna Kirilow, 63, ihre Tochter, zwei jugendliche Enkelkinder. Eine mit Töpfen vollgestopfte Spüle ist zu sehen, die elektrische Kochplatte hat Kirilow aus Platznot in einer Schublade untergebracht. Für einen gemeinsamen Tisch ist kein Platz, alles muss rein in dieses Zimmer. Toilette? Im nahen Wald gibt es eine Grube. Wasser holt die Familie mit einem Eimer.

So lebt Anna Kirilow in Stăuceni, einem Dorf nahe der moldauischen Hauptstadt Chișinău. Kirilows Rente als ehemalige Bauarbeiterin: 1700 Leu, knapp 80 Euro. Sie sagt, das Geld reiche nicht mal fürs Essen. Aber nun hat die Rentnerin Hoffnung. „Maia“, sagt Kirilow nur, „Maia muss Ordnung schaffen.“

Maia: Das ist Maia Sandu, 48, seit Dezember Moldaus Präsidentin, die erste Frau an der Spitze des Staates. Und für viele Menschen ein Versprechen.

Maia Sandus zweiter Anlauf

Die Republik Moldau gilt als das ärmste Land Europas. Die Menschen hier leben von einem Bruchteil dessen, was den Bürgern der Europäischen Union zur Verfügung steht. Sandu ist angetreten, das zu ändern. Als sie vereidigt wurde, versprach sie, das Land zur Blüte bringen zu wollen. „Ich habe große Pläne“, sagte sie, „aber ich kann sie nicht allein umsetzen.“

In Moldau glauben viele, Politiker wollten sich vor allem selber bereichern. Sandu traut die Mehrheit der Bevölkerung aber zu, tatsächlich eine Wende einzuleiten. Nach all den Enttäuschungen der vergangenen Jahrzehnte in dem von Seilschaften und Korruption geschundenen Staat.

Maia Sandu sieht gute Chancen, den Staat etwas ehrlicher zu machen. Jedenfalls sehr viel bessere als vor zwei Jahren. Damals war sie schon einmal Premierministerin, allerdings nur für fünf Monate. Sie führte mit ihrer Partei Acum (Jetzt) ein Zweckbündnis völlig gegensätzlicher Lager an, das nicht lange hielt: Schnell wurde sie von den prorussischen Sozialisten fallen gelassen.

Das ist jetzt anders. Sandu ist für mehrere Jahre direkt vom Volk gewählt. Das verschafft ihr Zeit, eine Perspektive. „Unser Land hat sich schon lange nicht mehr über eine solche Offenheit freuen können“, sagte sie mit Blick auf die Europäische Union, die ihr helfen will. „Wir müssen das an allen Fronten nutzen, auch im Kampf gegen die Pandemie.“

Moldau: Land zwischen Russland und EU

Es wird ein schwerer Kampf für die neue Präsidentin, denn die Widerstände sind groß. Die Republik Moldau, ohne Meereszugang zwischen Rumänien und der Ukraine gelegen, ist zerrissen: der russisch geprägte Teil der Bevölkerung, etwa im Gebiet Gagausien, hoffte bisher immer auf eine enge Anbindung an Moskau; der andere, der rumänisch sprechende, für den Sandu steht, setzt wiederum auf den Westen, auf Europa, die EU.

Moldau ist klein, aber es ist ein Land, in dem die Interessen Russlands und der EU wie in einem Brennglas aufeinandertreffen. Als sich kürzlich die USA und die EU in einem Verfassungsstreit über Neuwahlen auf Sandus Seite stellten, warnte Moskau, sie sollten sich aus Moldaus inneren Angelegenheiten heraushalten.

Sandu wiederum stellte sich gegen das Parlament, das sich gegen Neuwahlen wehrte. Sie rief ihre Anhänger zum Protest auf. „Mehr als 70 Prozent der Menschen wollen diese Neuwahlen“, sagt sie.

Lange hatte sich in Moldau der Europakurs durchgesetzt, offiziell. Mit der EU schloss das Land 2014 ein Assoziierungsabkommen, der große europäische Markt öffnete sich, Geld floss aus Brüssel – bis Brüssel merkte, dass die proeuropäische Führung in Chișinău Etikettenschwindel betrieb, dass Rechtsstaat und Demokratie längst unterwandert waren von reichen Oligarchen und einer korrupten Elite, die das Vertrauen in die Politik und den Westkurs zerstörten. Deprimiert sagte Sandu der Süddeutschen Zeitung vor zwei Jahren, als sie noch Oppositionspolitikerin war: „Der Weg in die EU ist jetzt weiter als noch vor einigen Jahren.“

Merkel versprach Sandu Unterstützung

Mit Sandu schöpft nun nicht nur die moldauische Bevölkerung neue Hoffnung, sondern auch der Westen. Ihr Vorgänger Igor Dodon war in seiner Amtszeit mehr als ein Dutzend Mal nach Russland gereist, doch nie zum Nachbarn Ukraine, nie zum Nachbarn Rumänien, mit dem Moldau so vieles verbindet: Geschichte, Kultur, die Sprache. Sandu dagegen traf sich schon mit beiden Präsidenten, sie würde auch gern mit Wladimir Putin reden, falls der denn will. Am Mittwoch war sie aber erst mal in Berlin, wo Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr Unterstützung für den pro-europäischen Kurs versprach, Hilfe bei den geplanten Reformen in der Justiz, beim Zoll, im Kampf gegen die Pandemie. Sandu hat den Rückhalt des Westens, der USA, der EU, denn sie ist skandalfrei, kämpft für Transparenz, Demokratie, für neues Vertrauen in einen Rechtsstaat.

Sandu hat an der amerikanischen Elite-Uni Harvard einen Master in öffentlicher Verwaltung gemacht, hat viele Jahre bei der Weltbank gearbeitet, in Washington, daheim in Chișinău. Sie kann sich kaum retten vor Unterstützungsbezeugungen. „Madam President, Europa ist auf Ihrer Seite“, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel bei einem Besuch in Chișinău.

Am Kampf gegen die Pandemie ist aber ablesbar, wie groß die Rivalität um Einfluss in diesem Land ist. Der EU-Nachbar Rumänien schenkte Moldau zu Beginn der Impfkampagne mehrere Zehntausend Dosen Astra Zeneca. Dodon wiederum war nach Moskau gereist und kam mit Sputnik V zurück. Sandu war klug genug, sich über die Vakzine aller Seiten zu freuen.

Sandu fühlt sich zum Westen hingezogen

Es ist schwer zu übersehen, dass sich Sandu mehr zum Westen und dessen Werten hingezogen fühlt. Die meisten moldauischen Exporte gehen ohnehin bereits in die EU.

Russland wiederum alimentiert zu Sandus Ärger das abtrünnige Gebiet Transnistrien, auch militärisch. Aber sie legt Wert auf gute wirtschaftliche Beziehungen auch zu Moskau. Einen Teil ihrer Inaugurationsrede hielt Sandu auf Russisch, allein das Gebiet von Gagausien ist vollkommen russisch geprägt, viele Menschen im Land schauen russisches Fernsehen.

Die Präsidentin lässt deshalb gerade eine neue Abteilung aufbauen, die sich vor allem um das Verhältnis zu Russland kümmern soll. „Es ist wichtig, den Moldauern zu helfen, die auf die Beziehungen zu Russland angewiesen sind, viele von ihnen arbeiten dort“, sagt Sandus außenpolitische Beraterin Cristina Gherasimowa. „Bei uns ist bisher immer alles geopolitisiert worden: pro-westlich, pro-russisch. Sandu ist vermutlich die erste Präsidentin, die sich im Wahlkampf davon befreit hat.“

Vielversprechende Wahlen am 11. Juli

Einen ersten Schritt, das Land zu verändern, hat sie gerade gemacht. Sie hat beim Verfassungsgericht eine Neuwahl des Parlaments durchgesetzt. Dort säßen zu viele Abgeordnete, die alte Korruptionsnetze aufrechterhalten und ihre Reformen sabotieren würden, sagte Sandu bei ihrer Antrittsrede. Die bisherige Mehrheit fand dagegen, dass eine Neuwahl in einer Pandemie falsch sei. Aber diese Neuwahl wird es nun geben. Umfragen sprechen dafür, dass sich am 11. Juli dann auch die Machtverhältnisse bei den Parteien zu Sandus Gunsten ändern werden.

Dann, so die Hoffnung, würden vielleicht auch einige Moldauer in ihre Heimat zurückkehren. 3,5 Millionen Moldauer leben im eigenen Land, aber fast eine Million im Ausland. Maia Sandu kennt das Problem der Abwanderung gut. Vor zwei Jahren fuhr sie einmal im Wahlkampf stundenlang mit dem Auto über löchrige Straßen in ihren Heimatort Risipeni im Nordwesten des Landes, wo sie in einem heruntergekommenen, ungeheizten Kulturhaus auftrat, für Demokratie warb und für Rechtsstaatlichkeit.

Etwa hundert Menschen saßen da vor ihr auf Klappstühlen: ältere Frauen mit Strickmützen und Kopftüchern, ältere Männer mit Schiebermützen. Junge Menschen waren nicht da. Es gibt sie kaum noch in Risipeni.

Sandu will die Wende schaffen. Dafür muss sie Moldau schnell attraktiver machen, um Ausgewanderte zurückzuholen. So wie ihre Beraterin Cristina Gherasimowa, die sagt: „Nie hatte ich für mich einen Platz in einer öffentlichen Institution gesehen. Ich bin ihretwegen zurückgegangen. Sie braucht Leute, die jetzt mitziehen.“

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 20.5.2021 in der Süddeutschen Zeitung erschienen. / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH

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