Auch der Irrwitz hat Witz

Alexei Salnikows Gripperoman „Petrow hat Fieber“ erzählt vom Elend der postsowjetischen Zeit

Irrwitzig witzig: Alexei Salnikow

Welcher Literaturkritiker schreibt schon im ersten Satz, dass es sich bei einem bestimmten Roman um ein großartiges Buch handelt. Er hat mit solch begeisterter Zustimmung alle Instrumente aufgegeben, mit denen er üblicherweise Literatur prüft, um ihre Qualität festzustellen. Aber über Alexei Salnikows Roman „Petrow hat Fieber“ muss ich es sagen: Es handelt sich um einen großartigen Roman.

Der russische Theater- und Filmregisseur Kirill Serebrennikov – der wegen kritischer Positionen von russischen Behörden kriminalisiert wurde – hat ihn sich geschnappt und einen Film daraus gemacht. Er lief 2021 in Cannes im Wettbewerb und wird demnächst in deutsche Kinos kommen. In Cannes lief er unter dem Titel „Petrov's Flu“.

Der Roman, 2017 in Russland erschienen, spielt in der Gegenwart. Schauplatz ist Jekaterinburg, über das es im Roman heißt: Der Name war „...ganz frisch gegen den aus der vorrevolutionären Zeit eingetauscht, und Jekaterinburg zu sagen, war ein wenig ungewohnt, noch sagten alle Swerdlowsk“.

Swerdlow gilt als roter Revolutionär, der mit Gegnern nicht viel Federlesens machte. Wahrscheinlich war er derjenige, der 1918 die Ermordung der Zarenfamilie anordnete. Swerdlowsk ist also noch der Name aus sowjetischer Zeit. Genau in diese fühlt man sich versetzt und nimmt mit Genugtuung zur Kenntnis, dass der Roman, der alles andere als ein glanzvolles Russland zeigt, ohne Zensur erscheinen konnte und Furore machte.

Das Erzählen führt vor, wie zäh das Alte am Neuen klebt, dass man sich als Leser fragt, ob es überhaupt Neues gibt. Aus diesem Riss in der Zeit zieht der Autor seinen absurden Humor. Er geht tief in die russische Seele und Kultur hinein. Im Gespräch zweier Studenten wird polemisch festgestellt: „Der Westen habe die römische Kultur übernommen, Russland hingegen die griechische, mit all ihrer Faulheit und Schlamperei.“

Das Fieber in postsowjetischer Zeit

Der Autor taucht ein in den Alltag einer russischen Stadt in postsowjetischer Zeit. Wenn Salnikow sie Jekaterinburg nennt, dann weil er dort lebt. Trotzdem handelt es sich um einen fiktiven Ort, an dem sich die absonderlichsten Geschichten ereignen. Zum Beispiel die von Petrows Freund Igor, der einen haarsträubend schlechten Roman verfasst hat und damit krachend durchfällt. Dem Lektor gefiel lediglich die Stelle, „...wo die Mutter des Helden nicht zuließ, dass der Vater des Helden den Müll herunterbrachte, aus Argwohn, er könne, sobald er auf die Straße ging, erst einmal verschwinden und betrunken wiederkommen“.

Alexei Salnikow

Petrow hat Fieber

Suhrkamp
300 Seiten
Hardcover
25 Euro
ISBN 978-3-518-43086-6
Zum Verlag

Der Roman besitzt keine Handlung, die hier wiederzugeben wäre. Es sei denn diese: Die drei Hauptfiguren, der 28-jährige Automechaniker Petrow, seine drei Jahre ältere Frau Petrowa, eine Bibliothekarin, und ihr neunjähriger Sohn Petrow junior, infizieren sich nacheinander mit dem Grippevirus. In der Stadt geht kurz vor dem Neujahrsfest die Grippe um, weshalb das Buch den Untertitel „Gripperoman“ trägt.

Das, was da im Fieber und infolge heikler Tablettencocktails entsteht, erhöht das Level des Wahns um einige Grad. Frau Petrowa besteht auf Scheidung, nicht weil sie mit ihrem Mann nicht auskommt, sondern weil sie sich nicht sicher ist, ihn eines Tages umzubringen oder wenigstens zu verletzten. Sie fühlt sich von kleinen bösen Männchen im Kopf regiert. Weshalb sie auch den vermutlich gewalttätigen Mann einer Kollegin umbringen will.

Sie kann ihre Mordlust gerade noch bezähmen, da wird dieser von einem Fremden im Park neben seinem Haus erstochen. Milizauto und Krankenwagen kommen sofort. Sie waren buchstäblich auf der anderen Straßenseite gewesen, weil man sie zwanzig Minuten zuvor wegen angeblicher Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung gerufen hatte. Der Autor steigert die Absurdität der Szene, wenn er erklärt, dass es sich in Wahrheit um einen Familienkrach handelte, der auch handgreiflich war, aber in Versöhnung endete.

Zum Schluss wendet Salnikow das Geschehen ins Groteske: Die Frau verzichtet auf die Anzeige, „sobald sich herausstellte, dass dem Mann für das, was ihm die Frau vorwarf, an die sechs Jahre drohen würden, und so lange konnte sie es nicht aushalten ohne den Zoff speziell mit ihm“. – Weitere Beispiele für Salnikows absurden Humor zum Besten geben, hieße den Roman nacherzählen.

Schon im Auftaktkapitel verschenkt der Autor keine Seite und eröffnet mit einem Feuerwerk. Petrow wird von seinem Schulfreund Igor aus dem Bus heraus erkannt und in einen Leichenwagen mit Sarg und Leiche gelotst. Der Alkohol übernimmt die Regie. Beide suchen einen Dritten auf, um das Trinken fortzusetzen. Der Dritte ist ein Philosophiedozent, der den Saufbrüdern eine Lektion über Zerfall, Grundlagen, Staatswesen und Boden gibt und voller Überzeugung verkündet, dass „die Zivilisation im Nahen Osten geboren wurde und dort auch geblieben sei“. Wahlen, schlägt er vor, wären von einer Lotterie abzulösen, weil Politiker ihre Versprechungen nicht einlösen, weshalb man sie auch nicht wählen sollte. Als die Mutter mit Petrow junior zum Jolkafest ins Kulturhaus geht, geben verrutschte Vorhänge die rote Fahne und ein Leninmosaik frei.

Der Autor begnügt sich nicht mit Absurditäten im Leben der Grippekranken. Im Hintergrund steht eine fiebernde Welt. Sie hat den abstoßenden Geruch eines von Urin verschmutzten Treppenhauses, in dessen Aufgang das Schild prangt: „Haus mit mustergültiger Wartung“. Trotz der grotesken Überzeichnung ist die Familie Petrow mit all ihren Flecken durchaus ein Sympathieträger. In dieser Balance steckt die Tragikomik, die der Grundton von Salnikows Erzählen ist. Auch der Irrwitz hat Witz.

„Petrow hat Fieber“ ist ein Roman, der seit mindestens zweihundert Jahren für eine Richtung in der russischen Literatur steht. Ist es der aufmüpfige Geist gegen die Obrigkeit, herrührend aus der Zarenzeit, fortgesetzt in der Zeit von Stalin, Breschnew und Putin?

Statt einer langen Liste russischer Literatur der satirisch-grotesken Erzählweise nur wenige Beispiele: 1847 veröffentlichte Iwan Gontscharow seinen Klassiker „Oblomow“, knapp hundert Jahre später das legendäre Autorenpaar Ilf Petrow die Klassiker „Zwölf Stühle“ und „Das goldene Kalb“. In diese Zeit fallen auch die in der Sowjetunion verhinderten Bücher von Daniil Charms und Alexej Platonow, die erst in der Perestroika veröffentlicht werden konnten. Die Macht nicht ernst zu nehmen, ihre Absurdität als Groteske oder Satire vorzuführen, das gilt jeder Macht als das Gefährlichste. Den Lesern bereitet es Vergnügen. Der Gripperoman „Petrow hat Fieber“ von Alexei Salnikow garantiert genau dieses Lachen, das der Groteske eigen ist: Man spürt, wie es im Halse stecken bleibt. Große Empfehlung.

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