Win-win-Situation

Die USA und Russland verlängern den New-Start-Vertrag, müssen aber strategische Stabilität neu definieren

Old Start: Atomwaffen abschaffen, dafür demonstrierten vor 40 Jahren 300 000 Menschen in Bonn.

Am 26. Januar 2021 haben die USA und Russland vereinbart, den New-Start-Vertrag um fünf Jahre zu verlängern – ohne Vorbedingungen. Da der Vertragstext diese Option zulässt, muss der US-Kongress dies nicht erneut ratifizieren. Für die formelle Zustimmung der USA reicht ein Dekret des Präsidenten.

In Russland hingegen muss die Verlängerung von der Duma und dem Föderationsrat ratifiziert werden. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass dies in Kürze geschehen wird.

Präsident Putin wollte schon die Trump-Regierung zu diesem Schritt drängen, da es im beiderseitigen Interesse liege, die strategische Stabilität zu wahren. Doch Trump zögerte, stellte Bedingungen wie die Einbeziehung Chinas und die Erweiterung des Vertragsgegenstands. Zuletzt erwog er eine Verlängerung um ein Jahr.

Dagegen hatte Präsident Biden schon im Wahlkampf angekündigt, dass er den New-Start-Vertrag unmittelbar nach seiner Amtsübernahme verlängern wird. Er hat nun demonstriert, dass er der nuklearen Rüstungskontrolle hohes Gewicht beimisst.

Nukleares Wettrüsten bleibt eingehegt

Die Absichtsbekundung der beiden größten Atommächte der Welt verhindert, dass der Vertrag am 5. Februar 2021 außer Kraft tritt. Nach dem Ende des Vertrags über nukleare Mittelstreckenwaffen (INF) im August 2019 hätte es ohne die Verlängerung von New Start keine völkerrechtliche Barriere mehr gegen ein quantitatives nukleares Wettrüsten gegeben.

Gemeinsam verfügen die beiden Staaten über mehr als 90 Prozent aller Kernwaffen weltweit. Etwa zwei Drittel ihrer rund 12 000 Atomsprengköpfe sind in Dienst gestellt.

Der New-Start-Vertrag war unter den Präsidenten Barack Obama und Dmitri Medvedev am 8. April 2010 in Prag unterzeichnet worden und trat am 5. Februar 2011 für eine Laufzeit von zehn Jahren in Kraft. Er begrenzt die Zahl der strategischen Trägersysteme mit interkontinentaler Reichweite auf jeweils 700 stationierte Systeme – landgestützte ballistische Interkontinentalraketen (ICBM), U-Bootgestützte ballistische Raketen (SLBM) und schwere Bomber. Insgesamt dürfen sie nicht mehr als 1550 Atomsprengköpfe tragen.

Allerdings zählen schwe­re Bomber nur als eine Kernwaffe, selbst wenn sie bis zu 20 Bomben oder Marsch­flugkörper mitführen können. Für stationierte und nicht-stationierte strategische Trägersysteme gilt eine Obergrenze von 800. Die Vertragsregeln unterliegen der reziproken Verifikation.

Beide Seiten halten Abschreckung für gewährleistet

Beide Seiten halten dieses Arsenal für hinlänglich, um vor einem strategischen nuklearen Erstschlag der anderen Seite gegen das eigene Hoheitsgebiet abzuschrecken. Denn auch nach einem Erstschlag verbliebe ein überlebensfähiges und ausreichendes Potenzial, um einen vernichtenden Gegenschlag zu führen.

Die gesicherte gegenseitige Vernichtungsfähigkeit ist seit den 1960er-Jahren die „Geschäftsgrundlage“ für die Wahrung der strategischen Stabilität. Die nukleare Rüstungskontrolle soll sie – trotz der kontinuierlichen Senkung der strategischen Arsenale – absichern und gegen Ausbruchsversuche abschirmen.

Allerdings lässt der New-Start-Vertrag die nicht dislozierten Lagerbestände und Atomwaffen, die für Trägersysteme mittlerer oder geringerer Reichweite vorgesehen sind, ungeregelt. „Substrategische“ oder „taktische“ Kernwaffen sind von wesentlicher Bedeutung für die „erweiterte Abschreckung“ der USA zugunsten verbündeter Nicht-Kernwaffenstaaten der NATO und im ostasiatisch-pazifischen Raum.

In Europa sind im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ bis zu 200 nukleare Schwerkraftbomben in fünf NATO-Staaten einschließlich Deutschland stationiert. Sie könnten in einem bewaffneten Konflikt durch Kampfflugzeuge der Verbündeten eingesetzt werden.

Auch Russland schließt einen regionalen atomaren Ersteinsatz nicht aus. Es verfügt über etwa 1800 „taktische“ Kernwaffen, die nicht bei Einsatzverbänden disloziert, sondern zentral in Europa und Asien gelagert sind. Sie sind für die Raketenabwehr, maritime Systeme, Marsch­flugkörper und Schwerkraftbomben vorgesehen.

China hat nachgeholt

Die Entwicklung moderner Technologien für Trägerwaffen und die Raketenabwehr sowie für präzise konventionelle Angriffsoptionen zwingt dazu, den Begriff „strategische Stabilität“ zu überprüfen. So haben Russland und die USA neue land-, luft- und seegestützte Marschflugkörper mittlerer Reichweite, Hyperschallwaffen, Raketenabwehrsysteme und Wiedereintrittskörper mit unsteter Flugbahn sowie Antisatellitenwaffen entwickelt, um vermutete Vorteile der anderen Seite auszugleichen.

China hat mit eigenen Entwicklungen nachgezogen. Sein Kernwaffenarsenal wird derzeit auf etwa 320 Sprengköpfe geschätzt. Doch während die Zahl seiner Interkontinentalraketen begrenzt ist, hat es ein umfangreiches Arsenal an Kurz- und Mittelstreckenraketen aufgebaut. Im Konfliktfall soll es – überwiegend im konventionellen Einsatz – das Süd- und Ostchinesische Meer abriegeln, um Interventionen von US-Flotten zu Gunsten Taiwans und der US-Verbündeten in Ostasien abzuhalten.

Die Trump-Regierung hat vergeblich versucht, die Verlängerung des New-Start-Vertrags an den Beitritt Chinas und die Einbeziehung neuer Waffensysteme zu knüpfen. Doch war sie schon bei dem Versuch gescheitert, China zur Teilnahme am INF-Vertrag zu bewegen.

Peking verwies auf die ungleichen Umfänge der amerikanischen und russischen Kernwaffen und forderte, sie zunächst auf das Niveau der kleineren Atommächte abzurüsten. Russland hingegen möchte auch Frankreich und Großbritannien mit zusammen knapp 500 Kernwaffen in ein multilaterales Rüstungskontrollregime einbeziehen. Doch beeinflussen auch weitere Akteure wie Pakistan (160 Kernwaffen), Indien (150), Israel (90) und Nordkorea (35) die jeweilige regionale Stabilität.

Was bedeutet künftig „strategische Stabilität“?

Fragen der Multilateralisierung und Einbeziehung moderner Systeme werden die nukleare Rüstungskontrolle erschweren; denn die Definition künftiger „strategische Stabilität“ wird globale und regionale Gleichgewichte und Abschreckungskonzepte bedenken müssen. Ein Nachfolgevertrag, der nicht nur strategische Nuklearwaffen weiter reduzieren, sondern auch den Regelungsumfang erweitern soll, müsste die flexible Komposition der Systeme unterhalb von vereinbarten Obergrenzen zulassen.

Mit der Verlängerung von New Start haben die USA und Russland nun fünf Jahre gewonnen, um dies zu verhandeln. Ein neuer konzeptioneller Ansatz wird Folgen für die „erweiterte Abschreckung“ haben. Die NATO kann diesen Prozess unterstützen, indem sie die Rolle von Kernwaffen für die Bündnisverteidigung weiter reduziert und die konventionelle Abschreckung stärkt. Berlin sollte dies konzeptionell vorantreiben.

Moskau sollte ebenfalls die Rolle seiner „taktischen Nuklearwaffen“ überdenken, ihre Transparenz erhöhen und sie in den künftigen Verhandlungsrahmen einführen. Künftige Obergrenzen könnten die flexible Zusammensetzung interkontinentaler und regionaler Systeme erlauben, um geostrategische Disparitäten zu kompensieren. Denkbar wäre ein zweistufiges Begrenzungssystem, das die strategische Zweitschlagfähigkeit auf niedrigerem Niveau absichert und zudem alle stationierten Kernwaffen und ihre nichtdislozierten Lagerbestände begrenzt.

Ein ähnlicher Beitrag wird auch bei SWP aktuell der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin erscheinen.

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