Russland, Ukraine, Nato: Sicherheit für alle

Die Münchner Sicherheitskonferenz und der ratlose Westen in der Sackgasse

Münchner Sicherheitskonferenz 2022 Kommentar
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Jenseits des Mittagessens der Wirtschaftsbosse zeigte die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) 2022 ein weibliches Gesicht. Es gab nicht nur einen Gesprächskreis zur Rolle von Frauen bei Friedensverhandlungen, den Ministerin Svenja Schulze lobte. Viel wichtiger: Noch nie zuvor sprachen so viele mächtige Frauen auf der Hauptbühne im Bayerischen Hof.

Aber auch wenn Außenministerin Annalena Baerbock mit Blick auf die Bedrohung der Ukraine durch den russischen Truppenaufmarsch sagte, erst wenn die Frauen in der Ukraine sicher sind, sind alle sicher – eine feministische Außenpolitik war nicht zu erkennen. Eher mehr vom gleichen.

Dabei wollte die MSC „Hilflosigkeit verlernen“, einen „Gezeitenwechsel“. Aber die Veranstaltung geriet – unvermeidbar? – zum Ort eines transatlantischen Schulterschlusses, zu einer Selbstvergewisserung des Westens, zu einem Bekenntnis zu seinen Werten und unverrückbaren Standpunkten. Den Part des Watschenmanns wollte Russland nicht spielen und blieb der Münchner Anklagebank fern.

Und so zeigte die MSC schonungslos die Ratlosigkeit der liberalen, demokratischen Welt, die sich in einer Sackgasse befindet. Keine Fantasie, keine Lösungsansätze, kein Statement ging über das längst Gehörte hinaus. Nur Beharren und dabei Erstarren.

Das Ziel Russlands (und Chinas) sei es, wiederholte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die aktuelle Sicherheitsordnung zu beseitigen, eine „neue Ära“ einzuleiten, die bestehenden internationalen Regeln zu ersetzen, die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren zu tauschen. Auch das Wort Dialog fällt, pflichtschuldig. Dann folgt die Strafandrohung, falls Russland die Ukraine überfalle: Vorbereitet sei ein Sanktionspaket mit „einem hohen Preis und schweren Konsequenzen für die wirtschaftlichen Interessen Moskaus“.

Die liberale Demokratie müsse verteidigt werden, „notfalls auch militärisch“, sagte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht reichlich unscharf. Notfalls, falls Russland wirklich angreift. Das kann aber nur für Nato-Gebiet gelten. Wer könnte dem nicht zustimmen?

Wer könnte Baerbock widersprechen, wenn sie sagt: „Hundertdreißig (tausend) Soldaten an der Grenze – das ist schwer nicht als Bedrohung zu verstehen.“ Und sie bekommt zurecht Beifall, wenn sie sagt, dass „Sicherheit nicht auf Kosten anderer gehen darf“. Jeder im Westen weiß, wer wen übervorteilt.

Ukraines Präsident Wolodymyr Selensky verweist darauf, dass die Welt sage, sie wolle keinen Krieg. Russland behaupte, es möchte nicht angreifen. „Irgendjemand lügt“, urteilt er. Wer das ist, ist allen im Saal und an den Bildschirmen klar. Obwohl Russland (noch?) nicht einmarschiert ist.

„Die Nato stellt ja keine Gefahr da“

Auch an diesem Wochenende gab es neue Termine für ein Invasion, war der drohende Krieg in allen Köpfen derer, die davon ausgehen, dass Russland demnächst die Ukraine überfällt. Das alles ist kein Wunder angesichts des russischen Aufmarschs und der Bilder abreisender Kinder und Frauen aus den sogenannten Volksrepubliken. Aber ist es realistisch?

Natürlich sind wir alle beeindruckt von den Bildern. Aber eine Beurteilung der Lage muss den Blick weiten, das ganze Bild sehen. Dazu gehören Fragen an die Vergangenheit, um der Zukunft eine Chance zu geben: Verdrängen wir nicht weitgehend die westliche Politik, insbesondere die der USA, gegenüber Russland nach dem Zerfall der UdSSR? Vielleicht wäre die Geschichte anders verlaufen, wäre Sicherheit für alle vor 15 Jahren auch auf Russland bezogen worden, wäre Putins Brandrede in München als Hilferuf verstanden oder als Warnung interpretiert worden, als Angebot zum friedlichen Ausgleich der Interessen und Sicherheitsbedürfnisse? Denn solche hat auch Russland, auch wenn westliche Politikerinnen sagen: „Die Nato stellt ja keine Gefahr dar.“

Wenn aber jemand in Russland sich vor der Nato fürchtet, zerstreut Missachtung der Sorgen einer „Regionalmacht“ diese subjektive Sicht nicht. Wo war, wo ist die vielbeschworene Achtsamkeit?

US-Vizepräsidentin Kamala Harris versicherte dem Publikum in München, das „Drehbuch der russischen Aggression“ zu kennen. Sie versprach, die USA stehe „ironclad“, eisern oder gar gepanzert, zu Artikel 5, werde „jedes Zoll Nato-Gebiet“ verteidigen. Was die Ukraine anbelangt: Sollte Russland die Ukraine überfallen, werde das mit raschen, harten und gemeinsamen Sanktionen vergolten.

Andere sprachen von „massiven Konsequenzen für Russland, finanziell, politisch und wirtschaftlich“ (Baerbock). Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, so der britische Premierminister Boris Johnson, „dass Aggression sich lohnt und das Recht des Stärkeren gilt“. Alles richtig. Heute.

Als Boris Johnson der Gemeinde versicherte, dass Großbritannien immer für „freedom and democracy“ eintreten werde, sprach eine Übersetzerin von „Frieden und Demokratie“. Unbeabsichtigt wies sie auf einen Konflikt hin: Müsste die Freiheit wirklich militärisch verteidigt werden, ist der Frieden schon verloren. Aber, darauf wies auch Harris hin, das wird in der Ukraine nicht geschehen. Die Nato würde dort nicht kämpfen. (Und die Ukraine wird absehbar nicht Mitglied der Nato werden, aber vielleicht wären Sicherheitsgarantien die Lösung.)

Dass Russland dieses Wissen bisher nicht ausnutzt, sprich: bisher nicht einmarschiert ist, könnte Anlass für Hoffnung sein, wäre die Fantasie dafür bei den meisten Verantwortlichen in der Politik nicht längst gänzlich verschüttet.

Hoffnung aber könnte Mut machen zu „weiteren Verhandlungen“, die einer einforderte, der immun zu scheint gegen die allgegenwärtige Hysterie: Bundeskanzler Olaf Scholz bekannte sich ebenfalls zu Sanktionen (inklusive Nord Stream 2), aber er mahnte auch, aus „hausgemachter Ohnmacht zu erwachen“ und miteinander zu reden über „Sicherheitsfragen, die für beide Seiten wichtig sind“. Etwa effektive Rüstungskontrolle. Klare Richtschnur Scholz‘: „So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein, das ist der Anspruch.“

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