Alle Russen sind unsere Feinde?
Über die zunehmende Ablehnung von allem, was „russisch“ ist. Ein Beispiel aus der Rotary-Welt
Am Anfang jeder Einlassung zum Russland-Ukraine-Konflikt steht die Feststellung, dass es sich bei dem Angriffskrieg des russischen Regimes um einen uneingeschränkt zu verurteilenden völkerrechtswidrigen Angriff auf den souveränen Staat der Ukraine handelt. Was bedeutet dies für die rotarische Gemeinschaft in Deutschland und ihr Verhältnis zu Rotary in Russland?
Die komplette Informationsasymmetrie erschwert einen differenzierten und transparenten Blick auf das, was dort passiert. In Russland wird die Zivilbevölkerung durch die gleichgeschalteten Medien in einer beispiellosen Weise desinformiert. Im Westen wird hingegen allein schon die Diskussion und Betrachtung einer differenzierten Meinung schnell gleichgestellt mit Putin-Freundschaft.
Was auffällt, ist, dass plötzlich die deutsch-russische Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg als „unzeitgemäße Anschauung“ diskreditiert wird. So thematisierte Gabor Steingart am 7. April in seinem „Morning Briefing“ in The Pioneer: „Einen Helmut Kohl, der ein großer Versöhnungspolitiker war, schützt sein Jahrhunderterfolg einer friedlichen deutsch-deutschen Vereinigung, notariell beurkundet von Michail Gorbatschow.“
Auch an Willy Brandt, den Vater aller Entspannungspolitiker, traue man sich nicht heran. „Aber alle anderen finden sich im Fadenkreuz der Scharfmacher wieder: Schröder, Steinmeier, Merkel. Seit den Gräueltaten von Butscha wird mit einer Grundkonstante der deutschen Außenpolitik seit 1945 abgerechnet.“ Das politische Konzept vom Wandel durch Annäherung, gedacht auch als Neuanfang nach einer mörderischen Beziehung, werde nun „von vielen im Ordner der gescheiterten Ideen abgeheftet“.
Unterscheiden: Regime vs. Zivilbevölkerung
Ich kann es nicht beurteilen. Ich möchte aber warnen vor einer Entwicklung, an deren Ende nicht mehr zwischen der Verantwortung des Regimes und jener der Zivilbevölkerung unterschieden wird. Einer Eskalation und einem Strudel, der am Schluss alles mit sich reißt, was russisch ist – Literatur, Musik, Kultur und jeden einzelnen russischen Menschen.
Es werden der Polizei zunehmend Gewalttaten auch in unserem Land gegen Unbeteiligte gemeldet, die tatsächlich oder vermeintlich russischer Herkunft sind. Ähnliche Beispiele gibt es auf der ganzen Welt. Und dies reicht auch bis in unsere rotarische Welt hinein.
Ich möchte ein Beispiel aus den letzten Wochen vor Augen führen, das mitten unter unseren rotarischen Freundinnen und Freunden in einem der Distrikte in Deutschland spielt: Eine engagierte rotarische Freundin, Präsidentin eines Clubs, vor zehn Jahren aus Russland nach Deutschland eingewandert, aus einem technisch-akademischen Beruf, wurde vor Kurzem aus der Mitte ihrer rotarischen Freunde aufgefordert, sich politisch im Sinne einer Verurteilung Russlands zu positionieren.
Auf den Hinweis, dass sie mit Politik nichts zu tun habe, Rotary eine humanitäre Organisation sei und darüber hinaus ihr kranker Vater in Moskau lebe, nahm der Druck auf sie so zu, dass sie schließlich das Amt zur Verfügung stellte und wenig später sogar die rotarische Gemeinde verließ. Das ist aus meiner Sicht der falsche Weg.
Aufgeheizt wird das Klima bei uns durch Äußerungen wie zum Beispiel durch Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine, indem er sagt: „Alle Russen sind gerade unsere Feinde.“ Er habe keinerlei russische Freunde und wolle auch keine haben. Russland sei für ihn ein „Feindstaat“ und werde wahrscheinlich auch nach dem Krieg ein Feindstaat bleiben, so Melnyk in der FAZ. Sogar die Behandlung russischer Patienten an der einen oder anderen Stelle wird abgelehnt oder ein deutsches Unternehmen im Dialysebereich aufgefordert, seine Leistungen in Russland einzustellen – mit der eventuellen Folge des Todes von dialysepflichtigen Patienten.
Was ist Rotary? Rotary ist eine humanitäre Organisation, eine NGO, die weltweit mit humanitären Projekten versucht, die Welt ein Stückchen besser zu machen. Wenn sich Rotary generell und immer auch politisch äußern würde, hätten wir nicht in Afghanistan, Äthiopien, Somalia, im Irak, im Iran, in Saudi-Arabien und vielen anderen Ländern der Welt aktiv sein können.
Wir müssen uns auf das konzentrieren, wofür Rotary steht. Das vierte Ziel von Rotary – „Völkerverständigung und Frieden durch eine im Ideal des Dienens vereinte Weltgemeinschaft“ – und die hohen ethischen Grundsätze und Pflichten sollten uns Rotarier leiten, sodass wir uns stets für Völkerfreundschaft und Frieden bei gleichzeitiger Umsetzung unserer humanitären Projekte einsetzen. Diese dürfen wir, getriggert auch durch eine Informationsasymmetrie, nicht durch politische Statements gefährden, sosehr sie uns auf der Zunge brennen mögen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich im Rotary Magazin erschienen.
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