Ukraine: Polarisierer und Scharfmacher

Nach Amnesty-Bericht: Wir müssen über den Ukraine-Krieg ohne Schaum vor dem Mund sprechen

von Rüdiger Lüdeking
Ukraine: Scharfmacher dominieren
Dominieren in der Ukraine-Debatte: Zeigefinger von Moralisierern, Polarisierern, Rechthabern, Scharfmachern

Auch nach mehr als fünf Monaten Krieg in der Ukraine bestimmt moralische Empörung die Reaktionen auf den verwerflichen und völkerrechtswidrigen militärischen Angriff Russlands. Bemerkenswert – und darin unterscheidet sich die deutsche Debatte von derjenigen in einigen anderen westlichen Ländern – ist die starke Polarisierung und Unversöhnlichkeit der Standpunkte. Man könnte zu dem Schluss kommen, als ginge es bei dem Krieg um den Kampf gegen das Böse an sich in Gestalt Russlands und von dessen Präsidenten Putin.

Auch die jüngsten hitzigen Diskussionen um den Amnesty-International-Bericht über ukrainische Kriegsverbrechen belegen dies. Es stimmt: Jeder Krieg ist schmutzig; Kriegsverbrechen sind auf allen Seiten zu erwarten. Und sicher sind die berichteten ukrainischen Verbrechen weder mit den schweren, von russischen Streitkräften beispielsweise in Butscha begangenen gleichzusetzen noch sind sie geeignet, letztere zu relativieren.

Dennoch überrascht die weitverbreitete Empörung über den Amnesty-Bericht. Die ukrainischen Kriegsverbrechen – dies ist besonders bemerkenswert – werden gar von einer Reihe von Beobachtern ohne nähere Begründungen oder Erkenntnisse schlicht zurückgewiesen und geleugnet. Selbst die Bundesregierung hat bisher auf eine Reaktion verzichtet. Der Bericht bietet jedoch zumindest den Anlass für die Forderung, den Vorwürfen rasch nachzugehen und diese aufzuklären.

Auch das Interview von Gerhard Schröder in der jüngsten Ausgabe des Stern mit der Kernfrage „Warum soll ich mich entschuldigen?“ hat massive Kritik ausgelöst. So bezeichnet der Münchner Merkur in seiner Kommentierung Schröder als „politischen Hochstapler“ und „lupenreinen Agenten Putins“, der ein „wölfisches Regime“ verteidige. Man mag die Äußerungen Schröders und seine Männerfreundschaft mit Putin falsch finden und verurteilen, für ausfällige Anwürfe bietet das Interview jedoch keine Anhaltspunkte, enthält es doch beispielsweise keine Rechtfertigung oder explizite Apologetik für den russischen Krieg.

Vielmehr sollte sich die Frage stellen, ob Schröder mit seinem Zugang zu Putin nicht doch „noch mal nützlich“ sein könnte. Und wenn Schröder überzeugt ist, dass der Kreml eine Verhandlungslösung anstrebe, so sollte man dies nicht einfach als Parteinahme oder Falschmeldung abtun, vielmehr böte sich an, das einmal auszuloten.

Für nüchternen und sachlichen Dialog

Ich bin mir sicher, dass die vorstehenden Zeilen nicht nur Widerspruch, sondern auch Widerwillen und Ablehnung auslösen. Dennoch, so meine ich, ist es im Interesse einer von allen gewünschten raschen Beendigung des Kriegs zu annehmbaren Bedingungen an der Zeit, in Deutschland einen nüchtern-sachlichen Dialog zu führen, der nicht einfach die Auslotung von realpolitischen Kompromissen, differenzierte Meinungen und Argumente als Liebedienerei oder Laufburschenschaft für Putins russisches Regime diffamiert.

Hierzu ist es zunächst notwendig, sich dieses einen Dilemmas bewusst zu werden: zwischen einer moralisch politischen Argumentation, die wesentlich von der berechtigten Entrüstung über den russischen Angriffskrieg getrieben ist, und realpolitischen Ansätzen, die gerade auch die aus dem Kalten Krieg zu ziehenden Lehren berücksichtigen. Dieses Dilemma wird heute in Deutschland jedoch unbewusst oder bei einem einseitigen Setzen auf eine gewissensethische Argumentation bewusst ignoriert.

Verantwortungsethische Argumente haben ihre Berechtigung und dürfen nicht heruntergespielt werden. So können beispielsweise die bestehenden Eskalationsrisiken nicht negiert, darf das Risiko eines Einsatzes von Nuklearwaffen durch Russland nicht völlig ausgeschlossen werden. Gleichzeitig wird aber die Bedrohungslage von Scharfmachern durch Postulierung russischer Absichten zur Ausweitung des Kriegs auf ostmitteleuropäische Nato-Länder überhöht.

Letzteres ist angesichts der russischen militärischen Schwäche mehr als unwahrscheinlich. Zudem hat die Nato in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine richtigerweise ihre Entschlossenheit zur Verteidigung des Bündnisgebiets schon dokumentiert und konkrete Maßnahmen zur Verstärkung der militärischen Kräfte in den ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten beschlossen.

Allerdings – auch dies gehört zu einer ehrlichen Analyse der Lage – müssen die europäischen Nato-Staaten dem grundlegenden Erfordernis des Bündnisses gerecht werden, eine gesicherte Verteidigungsfähigkeit zu gewährleisten, um wirksam und nachhaltig auch konventionell von russischen Übergriffen auf Nato-Gebiet abzuschrecken. Für Deutschland bedeutet das in erster Linie, die bestehenden eklatanten Fähigkeits- und Ausrüstungsmängel der Bundeswehr zu beseitigen.

Das 100-Milliarden-Sondervermögen der Bundeswehr war als Befreiungsschlag gedacht, dürfte jedoch nicht ausreichen. Auch dürfen nach der Zeitenwende Fragen wie die nach der Wiedereinführung der seit 2010 ausgesetzten Wehrpflicht nicht länger tabuisiert werden.

Scharfmacher ohne Augenmaß

Die gängigen Argumentationsmuster in Deutschland untermauern jedoch einen auf Konfrontation und Ausgrenzung Russlands wie eine weitgehend vorbehaltlose Unterstützung der Ukraine ausgerichteten politischen Kurs. Bundestagsabgeordnete wie Michael Roth, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Norbert Röttgen und Anton Hofreiter bestimmen mit scharf-kategorischen Forderungen nach Forcierung von Waffenlieferungen an die Ukraine und Diskreditierung anderslautender und auf die Erreichung eines schnellen Kriegsendes drängender Meinungen die öffentliche Debatte.

Den Gipfel der Unverantwortlichkeit markieren nicht völlig verstummende Plädoyers für den Einsatz von Nato-Bodentruppen in der Ukraine. Damit würde die Nato endgültig in den Krieg hineingezogen, was vermutlich die Eskalation zu einem Dritten Weltkrieg mit dem Einsatz von Atomwaffen bedeuten würde.

Den Scharfmachern gemein ist, dass sie in ihrem moralisch-emotionalen Überschwang das notwendige realpolitische Augenmaß und kühles Interessenkalkül vermissen lassen. Man will nicht wahrhaben oder eingestehen, dass schon jetzt mit zunehmenden westlichen Waffenlieferungen das Risiko einer großen militärischen Konfrontation mit Moskau wächst. Auch bei allem Verständnis, dass eine Niederlage der Ukraine im Krieg einen fatalen und deshalb unbedingt zu vermeidenden Präzedenzfall darstellen würde, müsste es die Einsicht geben, dass ein Siegfrieden mit Rückeroberung aller von Russland besetzter ukrainischer Gebiete realistischerweise zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht erreichbar ist.

Zudem wird eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld, die noch Jahre dauern könnte, viele Zehn- oder gar Hunderttausende Opfer nicht nur in der Ukraine kosten. Dies muss gerade denjenigen entgegengehalten werden, die sich für ihre Haltung auf die Wahrung westlicher Werte berufen.

Zählt nicht die Bewahrung und der Schutz von Menschenleben zu den zentralen Werten? Ist es deshalb nicht auch gewissensethisch geboten, alles zu tun, um auf einen raschen Waffenstillstand und eine diplomatische Lösung des Konflikts hinzuwirken?

Die Diskreditierung der Ostpolitik

Weiterhin charakteristisch für die Debatte in Deutschland ist die Frage, ob der Westen, aber insbesondere die vorangegangenen Bundesregierungen die aggressiven Absichten Russlands in der Vergangenheit nicht richtig eingeschätzt haben. Bemerkenswert ist dabei die formelhafte-wohlfeile Umdeutung der Geschichte der Ost-West-Beziehungen, die auch zentrale Lehren des Kalten Kriegs außer Acht lässt.

Ein Beispiel hierfür bietet ein kürzlich in der Welt am Sonntag erschienener ausführlicher Gastbeitrag von Michael Roth, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags. Roth übergeht völlig, dass zu Zeiten des Kalten Kriegs – und besonders nach der Kuba-Krise – im Westen unumstritten war, dass im Interesse der Bewahrung des Friedens die Berücksichtigung von der Sowjetunion als vital erachteter Interessen und die Nichtüberschreitung auch unausgesprochener roter Linien unumgänglich waren.

So war auch Willy Brandt, den Roth von seiner Kritik an der Annäherungspolitik des Westens an die Sowjetunion auszunehmen sucht, als Außenminister der Bundesrepublik Deutschland bereit, die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Paktes 1968 hinzunehmen, obgleich Alexander Dubcek und die neue tschechoslowakische Regierung sich für die Verfolgung grundlegender westlicher Werte entschieden hatten und ein hohes Maß an Unterstützung in der westlichen Bevölkerung genossen. Brandt erklärte nach dem Einmarsch in Prag gar: „Das beste, was wir für die Tschechoslowakei tun, ist nichts zu tun.“ Er forderte zudem, den Dialog mit den Staaten des Warschauer Pakts nach dem Einmarsch schnellstmöglich wieder aufzunehmen.

Die Ostpolitik wird diskreditiert, wobei leider häufig unterschlagen wird, dass gerade der Westen insbesondere seit dem Amtsantritt von Präsident George W. Bush 2001 zentrale Grundlagen dieser Politik beseitigt hat. Erklärte russische Interessen wurden missachtet und rüstungskontrollpolitische Grundlagen für die strategische Stabilität zwischen den USA und Russland wie auch für die europäische Sicherheit „abgeräumt“.

Sicherheit durch militärische Überlegenheit

Künftig – so das neue amerikanische Dogma – sollte Sicherheit nicht durch Gleichgewicht, sondern durch militärische Überlegenheit gewährleistet werden. Dies musste ebenso wie die jetzt ohne militärische Zurückhaltungsverpflichtungen vorgenommenen Erweiterungen der Nato Russland provozieren. Die Proteste Putins wurden jedoch schlicht ignoriert. Daran änderte sich auch nichts, nachdem 2008 und 2014 Putin durch militärisches Eingreifen in Georgien und Ukraine rote Linien markiert und verdeutlicht hatte, dass er einer aus seiner Sicht nicht akzeptablen Erweiterung des westlichen Einflussbereichs nicht tatenlos zusehen würde.

Die damit gegebene politische Verantwortung des Westens wird einfach ausgeblendet. Stattdessen wird plakativ-naiv auf einen nicht näher definierten Sieg der Ukraine und eine europäische Sicherheit ohne Russland gesetzt. Eine solche eindimensionale Haltung negiert nicht nur die nicht zu unterschätzenden Eskalationsgefahren des Kriegs, sondern auch die kluge Gleichgewichtspolitik, die das Nato-Bündnis ab den 1960er-Jahren betrieben und die zur Überwindung des Kalten Kriegs einen entscheidenden Beitrag geleistet hat.

Die Tatsache, dass Putin einen durch nichts zu rechtfertigenden, völkerrechtswidrigen und eindeutig zu verurteilenden Angriffskrieg angezettelt hat, sollte uns nicht daran hindern, eine ehrliche, die bestehenden Dilemmata und daraus sich ergebende Argumentationsunterschiede respektierende Debatte ohne sofortige Diffamierung Andersdenkender zu führen. Es gilt, ohne Schaum vor dem Mund den Tatsachen ins Auge zu sehen.

Eigene Verantwortlichkeiten dürfen nicht aus einem unangebrachten Gefühl der Überheblichkeit negiert werden. Und schließlich sollte man sich statt markiger Einlassungen und Urteile an eine Maxime Roosevelts erinnern, die während des Kalten Kriegs im Bewusstsein bestehender Risiken und im Interesse einer Eskalationsvermeidung beherzigt wurde: „Speak softly and carry a big stick“, oder: „Sprich sanft und trage einen großen Knüppel.“ In einer Zeit, die zunehmend durch eine Rivalität unter den Großmächten geprägt ist und die Demokratien zunehmend unter Druck geraten, scheint dies mehr denn je geboten.

Rüdiger Lüdeking war Ständiger Vertreter Deutschlands bei der OSZE (2012 – 2015) und deutscher Botschafter in Belgien (2015 – 2018). Sein Beitrag ist ursprünglich am 11.8.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und der Berliner Zeitung für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.

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