Der lange Marsch in den Krieg

Wie der Krieg enden könnte: Die Ukraine zwischen Neutralität und westlicher Allianz

von August Pradetto
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Ein Soldat auf dem Weg zur Front in Donezk, Januar 2020

Nach der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeit des Lands verfolgten die Regierungen in Kiew in den 1990er-Jahren eine neutrale, „multivektorale Außenpolitik“. Nach allen Seiten sollten gute Beziehungen zum Vorteil des eigenen ökonomischen, politischen und sicherheitspolitischen Status entwickelt werden. Angesichts der Unzufriedenheit Moskaus mit der ersten Erweiterungsrunde der Nato um Polen, Tschechien und Ungarn 1999 wurde die eigene Position der Neutralität und der Ablehnung eines Beitritts zu Militärbündnissen eher noch stärker hervorgehoben.

Offiziell war die Ukraine bis 2014 neutral. Dieser außenpolitische Konsens bröckelte allerdings schon in der ersten Hälfte der 2000er-Jahre. 2002 erklärte Washington eine umfassende Erweiterung der Allianz in Europa zu einer außenpolitischen Priorität. Einige Parteien in der Ukraine griffen dieses Thema auf und versuchten mit einer dezidierten „Westorientierung“ ihr Profil zu schärfen. Die „Orange Revolution“ 2004 und der damit verbundenen Wechsel in der Präsidentschaft verstärkte die Debatte über einen möglichen Nato-Beitritt.

Der Antrag auf Nato-Mitgliedschaft

Zusammen mit den USA brachte die Kiewer Führung (wie auch Georgien) auf dem Nato-Gipfel in Bukarest 2008 einen Antrag ein, der auf eine Mitgliedschaft zielte. Für eine solche Neuorientierung gab es zu diesem Zeitpunkt weder eine Mehrheit in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, noch in der Bevölkerung. Auch Frankreich und Deutschland lehnten das Projekt mit Blick auf die absehbare Vertiefung des politischen Grabens zu Russland ab.

Die Abschlusserklärung von Bukarest stellte einen Kompromiss dar. Es wurde keine Aufnahmeprozedur eingeleitet. Aber beiden Ländern wurde eine „Beitrittsperspektive“ zugesichert.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in:

WeltTrends
"Neutralität und Ukraine"
Mai 2022, Nr. 187

Potsdamer Wissenschaftsverlag
72 Seiten
Zeitschrift
5,80 Euro
ISBN 978-3-947802-661
Zum Verlag

Mit dem neuerlichen Wechsel der Präsidentschaft in Kiew nach den Wahlen 2010 kehrte man dezidiert wieder zur Position der Neutralität und Multivektoralität zurück. Viktor Janukowitsch betonte simultan mit der Absage an eine denkbare Nato-Mitgliedschaft eine Annäherung an die EU.

Nach der rechtlich umstrittenen Machtübernahme durch die Opposition im Februar 2014 vor dem Hintergrund massiver, teilweise gewaltsamer Proteste polarisierten und radikalisierten sich indes nicht nur die innen-, sondern auch die außen- und sicherheitspolitischen Ansichten der beteiligten Akteure. Während die einen mit Unterstützung vor allem aus Washington und Warschau die Hinwendung zur Nato forderten, begannen andere mit Schützenhilfe aus Russland, sich im Süden und Osten des Lands von der Ukraine zu separieren. Das Ergebnis war der Beginn einer engen politischen und militärischen Kooperation der neuen Kiewer Führung mit den USA auf der einen und die russische Annexion der Krim sowie die Gründung zweier „Volksrepubliken“ im Osten des Lands auf der anderen Seite.

Zunehmende Einmischung von außen

Von diesem Zeitpunkt an wurde innen- wie außenpolitisch die Verständigung zwischen den beteiligten Parteien und die Kompromissfindung immer schwieriger. Beide Lager in der Ukraine versuchten nur umso intensiver, auswärtige Unterstützung für ihren Kampf gegen den Gegner zu generieren, und die auswärtigen interessierten Parteien mischten sich mehr und mehr mit ihren eigenen Motiven ein.

Letztlich standen sich in einem Dreieck Kiew-Moskau-Washington unversöhnliche Positionen gegenüber, die in ihrer identitären und geopolitischen Verschränkung zu einem immer explosiveren Gemisch wurden: Innenpolitisch stand das Konzept einer Ukrainisierung der Verteidigung ukrainisch-russischer Multiethnizität und -sprachlichkeit gegenüber. Außenpolitisch ging es um den Anspruch auf Nato-Integration versus Beibehaltung des Status quo bzw. Wahrung des Einflusses Moskaus. Die Stellung, die die Ukraine, das größte Land Europas (außer Russland) als historischer und kultureller Raum wie als geopolitischer Raum zwischen Nato und Russland innehat, ist der Hintergrund für die Explosivität, die dieser Konflikt entfaltete.

Marksteine der Zuspitzung waren nach der Annexion der Krim die Streichung des 2010 eingeführten Gesetzes über Regionalsprachen im Jahre 2018, die Festschreibung der Nato-Mitgliedschaft in der Verfassung im Jahre 2019, der immer schneller voranschreitende Aufbau militärischer Strukturen, die auf eine „Wiedervereinigung“ und eine Abwehr möglicher russischer Gegenmaßnahmen gerichtet waren, mit Hilfe der USA, und die Annäherung der „Volksrepubliken“ an und ihre Absicherung durch Moskau.

Schließlich zeigten immer massivere russische Militärmanöver und militärische Drohungen sowie im Dezember 2021 Ultimaten, auf jegliche Nato-Osterweiterung zu verzichten und eine „Entnazifizierung“ in die Wege zu leiten, dass die Lage zunehmend eskalierte. Moskau setzte Ukrainisierung mit der rassistischen Politik der Nazis gegen Russland und den vorhandenen, aber inzwischen marginalisierten Nationalistenparteien und -milizen gleich.

Identitätssuche und geopolitische Positionierung

Sowohl in der Ukraine als auch in Russland wurden nach dem Ende des Kalten Kriegs eine nationalistische Identitätssuche und eine zunehmend polarisierende Außenpolitik zu einem Ersatz für eine erfolgreiche interne Entwicklung. Russland blieb in seiner ökonomischen und infrastrukturellen Entwicklung hinter den westlichen Staaten und China zurück. Die Frustration über das verlorene Imperium und die Nostalgie wurden in dem Maße stärker, wie diese Diskrepanz zu anderen Akteuren und damit der weltpolitische Abstieg deutlich wurde.

Der Aufstieg des Nationalismus war die falsche Antwort auf diese innere und äußere Entwicklung. Die nationalistische Identitätssuche bediente sich völlig überholter und extremer Ideen von einer besonderen Stellung des Russischen, von der Sammlung russischer Erde und von der Größe Russlands, die der Westen zu zerstören suche. Ein ethnisch-kulturelles Superioritätsdenken verband sich mit irredentistischen Ideen und einem Großraumdenken à la Karl Haushofer.

In der damit verbundenen Geschichtskonstruktion spielte die Ukraine als vermeintlicher Ursprung des Russischen eine immer stärkere Rolle. Von höchster Stelle autorisiert wurde diese ideologische Fokussierung durch den berüchtigten Aufsatz Putins vom Juli 2021 über drei Völker in Russland, Belarus und der Ukraine, die eine Einheit darstellten.

Auch in der Ukraine fand nach dem Kollaps der Sowjetunion ein Nation-building-Prozess statt, der nicht nur die Autonomie historischer Wurzeln und Entwicklungen und die sprachliche Besonderheit in Abgrenzung von der Zentralmacht betonte, der man noch vor Kurzem unterstanden hatte. Sondern in dem Maße, wie die Ukraine von einer der reichsten Republiken der Sowjetunion auf ein in Europa präzedenzloses Niveau heruntergewirtschaftet wurde, machte ein Teil des politischen Spektrums Identitätspolitik zu einem Mittel des Kampfs um die Macht und zu einem Ersatz für die Suche nach adäquaten Mitteln der Problemlösung im Innern. Im Human Development Index 2019 war die Ukraine auf Platz 74 zurückgefallen; zum Vergleich: Türkei 54, Albanien 69. Im Jahr 2021 rutschte die Ukraine im Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 122 und nahm damit (außer Russland und Aserbaidschan) den mit Abstand letzten Platz in Europa ein (Türkei 96, Albanien 110).

Diese Identitätssuche hatte eine umso polarisierendere Wirkung, als sie sich nicht gegen eine Minderheit richtete, sondern in hohem Maße mit der Realität der ukrainisch-russischen Gesellschaft im Land kollidierte. In der Ukraine spricht der überwiegende Teil der Bevölkerung beide Sprachen, im Ostteil und im Süden des Landes ist Russisch vorherrschend. Die Identitätspolitik knüpfte von Seiten einiger extremer Parteien und diverser paramilitärischer Formationen an frühere Formen, Organisationen und Personen des ukrainischen Nationalismus an, die sich im Krieg des nationalsozialistischen Deutschlands gegen die Sowjetunion durch Kollaboration ausgezeichnet hatten.

Teils von den gleichen, teils von konkurrierenden politischen Kräften wurde die Auseinandersetzung um die innenpolitische Macht mit dem Anspruch zu führen versucht, dem Land zu einer europäischen Identität verhelfen zu wollen. Allerdings erschöpfte sich die Behauptung einer Westorientierung vielfach in der Proklamation, in die EU und in die Nato aufgenommen werden zu wollen. Wenn sie wie nach 2005 und nach 2014 an der Macht waren, setzten die „Proeuropäer“ kaum europäische Werte um. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit blieben vielfach Worthülsen, deren Gebrauch helfen sollte, sich gegen die als „prorussisch“ qualifizierte Konkurrenz durchzusetzen und Unterstützung im Westen zu generieren.

Politikversagen bei der Transformation

Sowohl im Fall der Ukraine als auch Russlands wurden Identitätspolitik und außenpolitische Selbstzuschreibung zum Ersatz für wirkliche Politik, wenn man diese als Mittel erachtet, vorrangig die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme eines Landes zu lösen. In der Ukraine übernahmen 2014 jene Kräfte die Macht, die das Ukrainische auf Kosten des Russischen überhöhten und die mit der Nato-Zugehörigkeit eine neue internationale Statusbestimmung vornehmen wollten, ohne dass notwendige und lange geforderte Veränderungen im Innern erfolgten. Im Gegenteil, nach 2014 wurde die Ukraine immer abhängiger von westlicher finanzieller Unterstützung, ohne die der Staatsbankrott drohte.

Die politischen Eliten beider Länder, der Ukraine wie Russlands, versagten bei der Transformation nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, wenngleich Russland vor dem Krieg gegen die Ukraine ökonomisch erheblich besser dastand als das Nachbarland (HDI Plätze 52 bzw. 74). In beiden Ländern wurden Identitäts- und internationale Statuspolitik zu einem Surrogat für eine problem- und lösungsorientierte Innenpolitik. Sowohl für die interne als auch für die externe Entwicklung war die Entscheidung Kiews, militärisch keine neutrale Position zwischen einem Russland einzunehmen, das immer aggressiver auf die fortgesetzte Nato-Erweiterung reagierte, und einem westlichen Militärbündnis, das Washington folgte und auf seinem Erweiterungsrecht bestand, wenig hilfreich. Denn die immer engere militärische Zusammenarbeit vor allem mit den USA, die Waffenlieferungen und der Aufbau von Nato-Trainingslagern erhöhten die Spannungen zwischen Kiew und Moskau, ohne dass damit ein wirklicher Zugewinn an Sicherheit für die Ukraine im Falle einer militärischen Eskalation einherging.

Es gab keine symmetrische Absicherung dieser ukrainischen Westorientierung im militärischen Bereich. Eine Ausdehnung des Beistandsartikels 5 des Nato-Vertrags auf die Ukraine kam nicht in Frage: eben wegen der Moskauer Haltung, eine Aufnahme der Ukraine in die Allianz nicht zu akzeptieren, wegen der ungelösten Territorialprobleme in der Ukraine, die die Nato sofort zur Konfliktpartei gemacht hätten, und damit zusammenhängend wegen des fehlenden Konsenses unter den Allianzmitgliedern.

Wie auch immer der Krieg ausgeht: Für Russland bleibt dieser Angriffskrieg und Völkerrechtsbruch ein dauerhaftes ökonomisches und politisches Desaster, das simultan den geopolitischen Statusverlust beschleunigt. Für die Ukraine könnte das Ergebnis eine Art militärische Neutralität sein. Allerdings wäre dies eine oktroyierte Neutralität, keine aufgrund rationaler Überlegungen und vom Gedanken einer gemeinsamen Sicherheit und eines produktiven Miteinanders getragene Entscheidung. Dazu kommen ungelöste territoriale Probleme, die sich mit diesem Krieg und der erzwungenen Neutralität nur vertiefen.

Dies ist indes die optimistische Variante eines möglichen Ausgangs. Die pessimistische bestünde darin, dass der Krieg weitergeht, weil beide Seiten glauben, den Krieg gewinnen zu können oder zu müssen. Letztlich würden die militärischen Auseinandersetzungen infolge Erschöpfung in einen Waffenstillstand oder eine Art Friedensabkommen münden – mit noch mehr Opfern, noch weitgehenderer Zerstörung der Ukraine, Abermillionen Vertriebener und der noch gesteigerten Selbsteliminierung Russlands als Staat, der als zu Europa gehörig betrachtet wird. Beide Varianten bedeuten alles andere als gute Aussichten für eine Friedensordnung in Europa.

August Pradetto ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft, er lehrte insbesondere auswärtige und internationale Politik osteuropäischer Staaten an der Universität der Bundeswehr Hamburg.

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