Russland: Die Rückkehr der Stereotype

Zur EMMA-Debatte: Russland steht unter Verdacht, selbst seine Kultur wird plötzlich schuldig gesprochen

Vergangenheit und Zukunft Russlands
Russische Literatur als Ausweis für das Böse? Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko will sie einer überfälligen Revision unterziehen. Auch Tolstoi gilt ihr als typischer Vertreter eines negativen russischen Humanismus, für den es keine Schuldigen auf der Welt gibt.

Die Erklärungen machen es auch nicht mehr besser. Der offene Brief von Alice Schwarzer und ihren sogenannten Erstunterzeichnern und Erstunterzeichnerinnen an Olaf Scholz, in dem sie den Kanzler zu Besonnenheit mahnen und vor einem 3. Weltkrieg warnen, hat spontanen Zuspruch erfahren, aber auch vehemente Kritik. Das ist so, wenn man sich in den politischen Wind stellt, und der kluge Satz, den wir schon als Kinder gelernt haben, besagt: Wer austeilt, muss auch einstecken können.

Aber so einfach ist das in diesem Fall nicht. Der Krieg in der Ukraine stürzt uns in einen abgrundtiefen Gewissenskonflikt, und egal auf welcher Seite wir stehen: Es verbietet sich eigentlich von selbst, dem anderen unlautere Motive zu unterstellen.

Die Gefahr, in einen Atomkrieg hineinzuschlittern, lässt sich nicht abweisen und kaum ein anderes Buch ist in den letzten Wochen so häufig bemüht worden, wie die „Schlafwandler“ von Christopher Clark. Darin zeichnet der renommierte australische Historiker minutiös nach, wie sich am Vorabend des ersten Weltkriegs aus einem eher lokalen Konflikt ein Weltenbrand entwickelte. Aber damit endet auch schon die Ähnlichkeit. Wir wissen nur zu genau, wie wenig solche historischen Vergleiche zur Erkenntnis beitragen und wie viel zum rhetorischen Arsenal.

Niemand kann die Gefahr einer atomaren Eskalation wirklich abschätzen. Aber das kann nicht das Ende von Politik und entschlossenem Handeln bedeuten. Wer das in aller Offenheit und sehr anrührend ausspricht, ist Außenministerin Annalena Baerbock. Ich kann nicht erkennen, dass man sie eigens noch darauf aufmerksam machen müsste, über welch dünnes Eis diese Bundesregierung gerade geht.

Diesen Kredit möchte ich auch dem Kanzler einräumen, auch wenn seine Politik, seine politische Performance, wie man das heute nennt, in den letzten Wochen nicht überzeugte. Das Bild eines Mannes, der schwer an seiner ausgebeulten Aktentasche trägt und die Öffentlichkeit rätseln lässt, was sie wohl enthält, hat sich tief in unser visuelles Gedächtnis eingeprägt. Viele zweifeln, ob das der Kanzler der Stunde ist.  Aber eines sollte man ihm nicht unterstellen, dass er nicht wisse, was seine Verantwortung ist. Vielleicht weiß er es viel zu viel.

Zu glauben, ihn jetzt mit offenen Briefen ermahnen zu müssen, spricht für eine Wahrnehmung seiner Politik, die anmaßend ist. Ja, es ist ein ungeheuerlicher Vorwurf, denen, die sich jetzt nach langem Zögern durchgerungen haben, die Ukrainer in ihrem Existenzkampf zu unterstützen, vorzuwerfen, sie kennten das Risiko nicht, oder würden es mutwillig ignorieren.

Nein, das ist den meisten sehr wohl bewusst; und ich kenne eigentlich niemanden, dem es in diesen Tagen nach Triumphalismus zumute wäre. Das politische Atmen fällt doch von Tag zu Tag schwerer.

Der bellizistische Ton in der Debatte

Sicher, es gibt einen bellizistischen Ton in der deutschen Debatte, der unangenehm ist und die Dinge verschärft. Aber warum soll dieser freidrehende Kommentatorenzirkus, den wir seit Jahren erleben, sich von jetzt auf gleich wesentlich ändern. Er wird jetzt nur besonders krass sichtbar, und offene Briefe waren schon immer ein Teil davon.

Was neben der militärischen Eskalation aber tatsächlich erschreckt, ist die Rückkehr der alten Denkmuster und Stereotype. Die zielen schon längst nicht mehr nur auf Putins Angriffskrieg und die mörderische Clique im Kreml. Ein ganzes Land gerät unter Verdacht und selbst seine Kultur wird plötzlich noch schuldig gesprochen.

Man müsse nur die russische Literatur aufmerksam lesen, um zu verstehen, wie tief das Böse in der russischen Seele sitzt, hat die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko jüngst geschrieben; der Weg zum Massaker von Butscha führe über die russischen Dichter; sie folgten dem russischen Irrglauben, dass es, wie Tolstoi sagt, „keine Schuldigen auf der Welt gibt“.

Auch von dem bekannten ukrainischen Autor Juri Andruchowytsch war ein solcher Aufschrei zu hören: „Alles, was wir sehen ist böse“, war einer seiner Artikel jüngst überschrieben. Nur, das stammt gar nicht von ihm und die verantwortliche Zeitung hat die Überschrift schnell korrigiert: „Alles, was wir sehen, zeugt von Entmenschlichung“, heißt das dort jetzt. Und Andruchowytsch hat das auch so gemeint.

Doch dieser Eingriff verrät, an welchem Punkt wir jetzt stehen. Man hat seinen Text als „Aufruf zum Hass“ verstanden; nicht nur auf die „Tyrannei Putins“, sondern „auf das ganze russische Volk“.

Aber bei aller Bitterkeit versucht Andruchowytsch doch zu differenzieren. Was ihn verstört, ist der methodische Charakter dieser Vernichtung. Butscha war in seinen Augen kein Einzelfall, sondern Ausdruck des systematischen Mordens.  Welche Verantwortung trifft den Einzelnen in diesem System? Welche Gesichter stehen hinter den Taten?

Es gehört zu den verstörenden Neuerungen des Kriegs in der Ukraine, dass die Öffentlichkeit unmittelbar teilhaben kann bis in die grausamsten Details des Geschehens. Die Schuldfrage verschwimmt nicht im Meer statistischer Zahlen, sie heftet sich an die konkrete Person. Man kann die Opfer und Täter fast namentlich identifizieren.

Der berühmte Mantel des kollektiven Verschweigens ist aufgeschlagen und der Einzelne wird dabei sichtbar. Es scheint allen Propagandabildern zum Trotz eine leise Ahnung in Russland zu entstehen, dass dieser Krieg als eine Vergangenheit auf der künftigen russischen Gesellschaft lasten wird, die in Generationen nicht mehr vergeht.

Kopfschütteln über EMMAs offenen Brief

Hätte der offene Brief, den Alice Schwarzer und ihre Mitunterzeichner an den Kanzler geschrieben haben, versucht, dieser heillosen Situation wenigstens intellektuell Rechnung zu tragen, wären ihre Warnungen vielleicht auf offenere Ohren gestoßen. So aber steht man kopfschüttelnd vor dem Dokument einer Entrüstung, die sich der Ängste bedient, die wir doch alle haben; und die eine zweite Grenze zieht, die nicht ehrlich ist. Wer legt denn fest, wann der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor in einem „unerträglichen Missverhältnis“ stünde – wie es die Briefschreiber formulieren – zum menschlichen Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“?

Was heißt das denn anderes, als dass man die Kiewer Regierung dafür mitverantwortlich macht, ihre Zivilbevölkerung in einem sinnlosen Krieg und Widerstand zu verheizen. Moralisch verbindliche Normen – so die Belehrung – seien aber keine ukrainische Sache, sondern von universaler Natur. Das klingt nur scheinbar feiner als jener rotzige Ratschlag, den sich die Ukrainer gleich zu Beginn des Überfalls anhören mussten: Ergebt Euch doch lieber gleich, es hat keinen Zweck sich zu wehren.

Ja, das ist dieselbe Haltung, die dem Kanzler auf der Maikundgebung in Düsseldorf entgegenschlug und ihn selbst für seine Temperamentslage aus der Fassung brachte. Aber es ist eben nicht der „aus der Zeit gefallene Pazifismus“, für den man sogar noch Verständnis aufbringen könnte; es ist das völlige Unverständnis in unserer Gesellschaft dafür, dass sich ein anderes Volk nicht einfach ergibt.

Da debattieren wir seit Jahren über unser koloniales Erbe und bejubeln, dass der globale Süden seine Geschichte jetzt endlich selbst zu schreiben beginnt. Doch wenn ein solcher Befreiungskampf vor unserer eigenen Haustür geschieht, dann verweisen wir auf die Normen. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied, Karl Schlögel hat ihn benannt: Die einen eilten im spanischen Bürgerkrieg zu den Internationalen Brigaden, die anderen schauten lieber von Weitem zu.

Natürlich ist das politische Romantik und einem Atomkriegszeitalter nicht adäquat. Aber es geht nicht um unverantwortliches Waffenabenteuer, sondern um eine Grundhaltung auch zu uns selbst. Würden wir uns denn noch wehren wollen, wenn es um unsere Familien geht und unsere Nation? Postheroisch heißt die Verlegenheitsformel einer Gesellschaft, die um ihre Existenz, ihre Werte, ihr Fortbestehen nicht kämpfen musste. Den Ukrainern war dieses Glück nicht beschieden.

Ich würde gerne all jene fragen, die da jetzt bei Alice Schwarzer unterschrieben haben, was es denn bedeuten soll, wenn die Ukraine jetzt die Waffen streckt. Dass wir diesen kleinen Kollateralschaden universaler Normen zuliebe in Kauf nehmen sollten? Oder dass wir nicht selbst auch Verlierer sind?

Lesen Sie zur Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine auch:

Peter Köpf: Ukraine: Das Dilemma des Westens Keine Waffen für die Ukraine aus Angst vor Atomkrieg? Deutsche Intellektuelle auf Irrwegen
Interview mit Hauptmann Marcus Grotian: Panzer-Ringtausch ist ‚eine richtig gute Idee‘ Ein Panzergrenadier spricht Klartext über Waffenlieferungen an die Ukraine
DOKUMENTATION: Der EMMA-Brief an Olaf Scholz Der Offene Brief der Intellektuellen und Künstler an Kanzler Olaf Scholz, EMMA, 29.4.2022

 

 

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