Schlafwandelnd in den Krieg
General Harald Kujat über Russlands Drohkulisse, Defensivwaffen und mediale Kriegstrommeln
Seit Wochen verschärft sich die Lage an der ukrainisch-russischen Grenze. Auf russische Truppenkonzentrationen im Grenzgebiet antwortete der Westen mit Waffenlieferungen an die Ukraine. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach gar von der Gefahr eines Kriegs. Anfang voriger Woche begannen die USA mit der Evakuierung ihres diplomatischen Personals aus Kiew. Zugleich kündigte die NATO an, zusätzliche Kampfflugzeuge und Marineschiffe in die Krisenregion zu entsenden.
Wie kam es zu dieser Situation? Und wie können die Beteiligten den Konflikt wieder beilegen? Fragen an einen der höchstrangigen deutschen Soldaten der letzten Jahre, dessen Stimme noch immer gleichermaßen in Ost und West geschätzt ist.
Herr Kujat, für wie gefährlich halten Sie die Lage an der ukrainisch-russischen Grenze? Sehen Sie eine reale Kriegsgefahr?
Viele Stimmen leiten aus der russischen Truppenkonzentration in der Nähe der Grenze zur Ukraine Angriffsabsichten ab. Richtig ist, dass Russland die Fähigkeit zu einem Angriff hätte. Dafür, dass Russland auch die Absicht hat, die Ukraine anzugreifen, gibt es bisher jedoch keine hinreichenden Belege.
Ich glaube vielmehr, dass Russland mit dieser Drohkulisse Stärke demonstrieren will, um Verhandlungen mit den USA und der NATO auf Augenhöhe zu erzwingen. Hätte Moskau von Anfang an beabsichtigt, die Ukraine anzugreifen, dann hätte es den Faktor Überraschung genutzt und diese Absicht in die Tat umgesetzt.
In letzter Zeit sind die Spannungen aber deutlich gestiegen. Ist damit nicht auch die Gefahr eines Kriegs größer geworden?
Ja, leider haben die Spannungen durch demonstrative Seemanöver beider Seiten, die Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstung durch die USA und andere westliche Staaten an die Ukraine, die Rückführung von Botschaftspersonal aus Kiew und die verbale Aufrüstung durch Politiker und Medien zugenommen. Auch in Deutschland wird gefordert, die Abschreckungsfähigkeit der Ukraine durch die Lieferung von Waffen, manche sagen auch von Defensivwaffen, zu stärken.
Dabei wird allerdings übersehen, dass nicht die Technik bestimmt, ob eine Waffe als defensiv oder offensiv bezeichnet werden kann, sondern die Strategie. Es hängt also davon ab, wie eine Waffe eingesetzt wird. Die Abschreckung würde zudem nur funktionieren, wenn die Ukraine in der Lage wäre, sich erfolgreich gegen einen Angriff zu verteidigen oder zumindest das Risiko eines Scheiterns für Russland größer als die Aussicht auf einen Erfolg wäre.
Die russischen Streitkräfte sind jedoch so weit überlegen, dass auch eine massive Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferungen für den Ausgang eines Kriegs irrelevant ist. Allerdings steigt dadurch das Risiko erheblich, dass durch ein menschliches oder technisches Versagen ein Krieg entsteht, den eigentlich keine Seite beabsichtigt hatte.
Der bisherige Inspekteur der Deutschen Marine, Admiral Kay-Achim Schönbach, hatte geäußert, dass Putin lediglich Respekt und Gespräche auf Augenhöhe will. Das sorgte für diplomatischen Ärger mit der Ukraine und führte zum Rücktritt des Marine-Chefs.
Der Kern dessen, was Admiral Schönbach geäußert hat, entspricht weitgehend der Position unseres wichtigsten Verbündeten, der USA. Er hat erklärt, dass die Krim für die Ukraine verloren ist, ohne jedoch die Position der Bundesregierung infrage zu stellen, dass die Annexion der Krim völkerrechtswidrig ist. Damit hat er nur das Offensichtliche ausgesprochen.
Fakt ist doch, dass die Krim nur dann zur Ukraine zurückkehren wird, wenn die USA oder die NATO – die Ukraine allein ist zu schwach dafür – bereit sind, für dieses Ziel einen Krieg gegen Russland zu führen. Und das wird nicht geschehen. Präsident Biden hat sogar für den Fall eines russischen Angriffs auf die Ukraine ausgeschlossen, dass Washington zu Hilfe eilt.
Seine Forderung, Putin zu respektieren, indem man mit ihm auf Augenhöhe verhandelt, wird durch die amerikanisch-russischen Gespräche bestätigt. Insofern hat sich Admiral Schönbach mit seinen Äußerungen keines Dienstvergehens schuldig gemacht, weshalb ich auch keinen Grund sehe, dass er aus dem Dienst ausscheidet.
Im Vorfeld des 100. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs beschrieb Christopher Clark in seinem Buch „Die Schlafwandler“, wie die europäischen Nationen durch das zunehmende Misstrauen ihrer Regierungen in die Katastrophe rutschten. Sehen Sie heute Parallelen zu damals?
Durchaus. Die europäischen Mächte wollten 1914 eigentlich keinen Krieg, wurden aber durch die von Clark beschriebene Dynamik in eine Abfolge von Mobilisierungen gezogen, bis der politische Konflikt so weit eskaliert war, dass niemand mehr ohne Gesichtsverlust zurückweichen konnte.
Eine ähnliche Situation haben wir heute auch. Anders als vor dem Ersten Weltkrieg, als es insbesondere die Politiker waren, die verbal aufrüsteten und dann nicht mehr hinter dem zurückkonnten, was sie gesagt hatten, sind es heute auch die Medien, die in geradezu unverantwortlicher Weise die Kriegstrommel rühren, die zur Härte aufrufen, ohne zu bedenken, was das für Konsequenzen haben könnte. So riskieren wir, in eine Situation hineinzugeraten, in der eine Entwicklung entsteht, die dann nicht mehr umkehrbar ist.
Wie konnte es überhaupt zu dieser Situation kommen? Gemeinhin gilt als Auslöser das Jahr 2014, als Russland die Krim annektierte. Aber auch die damalige Situation war ja bereits das Ergebnis eines langen Entfremdungsprozesses.
Das ist eine interessante Frage, für deren Beantwortung ich etwas ausholen möchte. Im Mai 1989 kam US-Präsident George Bush senior nach Mainz. Mit großem Weitblick beschrieb er das nahende Ende des Kommunismus und den Transformationsprozess, der kurz darauf zur deutschen Einheit, zur Auflösung des Warschauer Pakts und zum Auseinanderbrechen der Sowjetunion führen sollte.
Dabei sprach Bush auch davon, dass es nicht das Ziel sei, die legitimen Sicherheitsinteressen der Sowjetunion zu untergraben. Zugleich machte er weitreichende Vorschläge für die Abrüstung konventioneller Streitkräfte, für vertrauensbildende militärische Maßnahmen und für unbewaffnete Aufklärungsflüge, eine Politik des offenen Himmels, und sogar für die Zusammenarbeit bei Umweltproblemen.
Jahre später, 1997, unterzeichneten die vormals verfeindeten Seiten in der NATO-Russland-Grundakte sogar eine strategische Partnerschaft mit dem „gemeinsamen Ziel, die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen und das gegenseitige Vertrauen und die Zusammenarbeit zu stärken“. In der Folge kam es dann auch zu einer engen politischen Abstimmung und zu einer militärischen Zusammenarbeit zwischen den vormaligen Gegnern, etwa bei der Kosovo-Mission der NATO.
Daneben gab es unzählige Begegnungen, in denen sich die Experten von NATO und Russland über strategische Fragen, die militärische Infrastruktur und ähnliches mehr austauschten. Das alles führte zu größerer Transparenz, gegenseitigem Verständnis und Vertrauen.
Parallel dazu erklärten jedoch einige ehemalige Staaten des Warschauer Vertrags, Mitglied der NATO werden zu wollen.
Richtig. Es hatte sich ein Fenster nach Westen geöffnet und niemand wusste, wie lange dieser Zustand anhalten würde. Deshalb bemühten sich die Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts um eine schnelle Aufnahme in die NATO. Es wird oft behauptet, die US-Amerikaner hätten die Erweiterung vorangetrieben. Das ist nicht richtig. Die Amerikaner waren am Anfang überhaupt nicht an einer NATO-Erweiterung interessiert, weil damit weitere Verpflichtungen und Kosten verbunden waren, die nach dem glücklichen Ende des Kalten Kriegs niemand übernehmen wollte.
Vor allem Deutschland hat das Streben dieser Länder nach einem NATO-Beitritt unterstützt, nicht zuletzt wegen der historischen und kulturellen Nähe zu den Ländern im östlichen Mitteleuropa. Man nahm damals an, dass das Verhältnis inzwischen so vertrauensvoll war, dass die Russen die Erweiterung nicht als Bedrohung ansehen würden. Und in der Tat waren die Beziehungen auch noch nach dem NATO-Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns 1999 sowie der baltischen Staaten und anderer ehemaliger Ostblock-Länder 2004 immer noch gut.
Das Problem ist, dass sich aus der Moskauer Perspektive bereits mit dem Beitritt Polens das strategische Gleichgewicht zu seinen Ungunsten verändert hatte. Und eine künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO würde dieses Ungleichgewicht um ein Mehrfaches zu Ungunsten Russlands verschärfen. Es könnten dann – aus russischer Sicht – vor der eigenen Haustür permanent westliche Truppen und moderne Waffensysteme stationiert werden, die Russland in wenigen Minuten erreichen und geeignet wären, sogar das nuklearstrategische Gleichgewicht mit den USA zu gefährden.
Wie sollte der Westen in der aktuellen Situation agieren?
Zunächst sollten alle Beteiligten verbal abrüsten. Beide Seiten sollten sich darum bemühen, nicht weiter an der Eskalationsschraube zu drehen. Der Westen sollte seine Maßnahmen darauf überprüfen, welche Gegenmaßnahmen Russland treffen könnte und welche Auswirkungen diese hätten.
Mit der Ukraine sollte offen und ehrlich darüber gesprochen werden, welche Maßnahmen zur Beseitigung der inneren Spannungen und für eine stabile innere Ordnung notwendig sind und welchen Platz die Ukraine in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur einnehmen könnte. US-Präsident Biden hat bereits ausdrücklich erklärt, dass die Ukraine im Fall eines militärischen Konflikts nicht mit der Unterstützung der USA und damit auch der NATO rechnen kann.
Nun sollte auch der zweite Schritt gemacht werden. Die NATO sollte erklären, dass sie nicht die Absicht hat, die Ukraine einzuladen, Mitglied der Allianz zu werden.
Eine Einladung müssten alle Mitgliedstaaten beschließen. Das ist jedoch für die absehbare Zukunft ausgeschlossen, weil die Ukraine die dafür erforderlichen Voraussetzungen des NATO-Vertrags nicht erfüllt und die NATO nicht in der Lage ist, eine Verpflichtung gegenüber der Ukraine zur kollektiven Verteidigung zu erfüllen. Eine solche Erklärung würde bereits zu einer deutlichen Entspannung der jetzigen Situation führen. Auf dieser Grundlage könnten konstruktive Verhandlungen über die sicherheitspolitische und strategische Lage sowie über stabilisierende Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge geführt werden.
Die Frage ist ja auch, ob die NATO überhaupt in der Lage ist für einen großen Konflikt. Immerhin haben die europäischen Mitglieder in den letzten Jahren überall ihre Truppen verkleinert, die Wehrpflicht abgeschafft sowie die Ausrüstung der Soldaten veralten lassen.
Auch das ist eine wichtige Frage. Während die russischen Streitkräfte zuletzt enorm modernisiert wurden und äußerst leistungsfähig sind, ist zum Beispiel Deutschland durch die sogenannte Neuausrichtung der Bundeswehr 2011 als traditionelle Landmacht ausgefallen. Personalumfang, Streitkräftestruktur sowie Ausrüstung und Bewaffnung wurden auf die Fähigkeit zu Friedens- und Stabilisierungsmissionen ausgerichtet. Im Ergebnis sind wir heute nicht mehr in der Lage, einen substanziellen Beitrag zur klassischen Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten.
Ganz anders sieht es bei der Großmacht USA aus. Diese verfügt über äußerst leistungsfähige, moderne, weltweit einsetzbare Streitkräfte. Aber die Vereinigten Staaten haben sich in den vergangenen Jahren stark aus Europa zurückgezogen und konzentrieren ihre militärischen Kräfte auf den für sie wichtigsten Rivalen – China.
Entscheidend für Europa ist jedoch das nuklearstrategische Gleichgewicht der beiden Supermächte Russland und USA. Dieses Gleichgewicht sorgt für eine Stabilität auf allen Ebenen, sodass es zu keiner heißen Auseinandersetzung zwischen Ost und West kommt, jedenfalls nicht mit Vorsatz. Natürlich ist es immer möglich, dass es durch menschliches oder technisches Versagen zu einer Eskalation kommt.
Unsere Sicherheit basiert also lediglich auf dem amerikanischen Beistandsversprechen und auf der allgemeinen Annahme, dass dieses im Ernstfall auch gilt?
Richtig. Die europäischen Nationen wären gegenwärtig ohne die Vereinigten Staaten nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Deshalb wird ja seit Längerem gefordert, unter anderem von Präsident Macron, dass die Europäer sich stärker darum bemühen, strategische Souveränität zu erlangen. Ich würde es als die Fähigkeit zur politischen, wirtschaftlichen und militärischen Selbstbehauptung bezeichnen.
Was soll dann das ganze Getöse von einem Krieg, wenn man gar nicht in der Lage ist, diesen zu führen?
Das ist ein zentraler Punkt. Da sprechen Verantwortliche von einem Krieg, vor dem sie glauben, im Ernstfall sicher zu sein, weil man ihn auf Russland und die Ukraine beschränken könnte.
Klar ist jedenfalls, dass wir gegenüber unseren Verbündeten Polen und die baltischen Staaten eine Beistandspflicht haben, die jederzeit und uneingeschränkt gilt. Diese Verbündeten im Stich zu lassen, würde das Ende der NATO bedeuten. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass niemand – auch in Russland – daran denkt, einen NATO-Staat anzugreifen.
Wie kann der Konflikt beigelegt werden? Und zwar so, dass es kurzfristig nicht zu einem Krieg kommt – und langfristig wieder ein Vertrauensverhältnis entsteht?
Russland will einen NATO-Beitritt der Ukraine und eine dauerhafte Stationierung von NATO-Kräften an seinen Grenzen verhindern. Zugleich will es die Ukraine-Krise als Katalysator für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur nutzen, die russischen Sicherheitsinteressen entspricht.
Zur Entspannung der Ukraine-Krise habe ich schon etwas gesagt. Nach der Beruhigung der akuten Lage muss unter anderem der NATO-Russland-Rat in allen Formaten reaktiviert werden. Das würde dazu beitragen, dass militärische Fragen und Konflikte zunächst auf der Fachebene, etwa der Generalstabschefs, geklärt würden, bevor sie die politische Ebene der Außen- und Verteidigungsminister oder gar der Staats- und Regierungschefs erreichen.
Der dritte Baustein wäre die Reaktivierung all jener Abrüstungs- und Kontrollvereinbarungen, die wir in den achtziger und neunziger Jahren mit der Sowjetunion geschlossen haben und die in den letzten Jahren von den USA aufgekündigt wurden. Das sind erstens der ABM-Vertrag, der wesentlich zum nuklearstrategischen Gleichgewicht beiträgt, zweitens der Vertrag über den offenen Himmel, der 27 Staaten Aufklärungsflüge über einem anderen Staat gestattete und so zu gegenseitiger Transparenz und Vertrauensbildung beitrug, sowie drittens der INF-Vertrag über die Vernichtung der nuklearen Mittelstreckenraketen.
Der letzte Punkt ist der KSE-Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa. Hier könnte man neue, angepasste Regelungen finden für Obergrenzen von Waffen und Truppen, für Manöver sowie für Regionen, in denen keine Truppenkonzentrationen erlaubt sind.
Wir haben also ein ganzes Spektrum von möglichen Maßnahmen, die die Interessen aller Seiten berücksichtigen und einen enormen Zuwachs an Stabilität bringen würden. Und wir haben auch die Gesprächsformate, in denen wir uns miteinander verständigen können. Jetzt liegt es an den Politikern, klug zu handeln, damit es zu einem Interessenausgleich kommt und eine sichere und stabile europäische Friedensordnung entsteht.
General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 26.1.2022 in der Preußischen Allgemeinen erschienen.