Ukraine: Das Dilemma des Westens
Keine Waffen für die Ukraine aus Angst vor Atomkrieg? Deutsche Intellektuelle auf Irrwegen
Wer gibt uns Orientierung für den Umgang mit einem aggressiven Imperialisten wie Wladimir Putin? Wo sind sie geblieben, die Intellektuellen? So fragten Woche für Woche Menschen, die Putin-Russlands Krieg in der Ukraine unerträglich finden, sich aber gleichzeitig vor einem noch größeren fürchten. Nun haben sie sich zu Wort gemeldet, die deutschen Dichter und Denker, zumindest einige von ihnen. Doch ihre zentrale Aussage verstört viele: Denn sie loben den vielgescholtenen Bundeskanzler Olaf Scholz für seine Besonnenheit bezüglich der Unterstützung der Ukraine.
In einem Offenen Brief, der in der Zeitschrift EMMA veröffentlicht wurde, stützen 28 „Intellektuelle und KünstlerInnen“ – darunter die Filmemacher Andreas Dresen und Alexander Kluge, der Kabarettist Dieter Nuhr, der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar und die Schriftstellerin Julie Zeh – den Kanzler.
Dass die russische Aggression als „Bruch der Grundnorm des Völkerrechts“ anzusehen ist, auch dass vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen sei, räumen sie pflichtschuldigst ein. Aber die Grenze dieser „prinzipiellen politisch-moralischen Pflicht“ sei erreicht, wo es ein „manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt“ gebe und die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen zu einem Weltkrieg führen könnte.
„In Anbetracht unserer historischen Verantwortung – und in der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft“ wünschen sie mit inzwischen mehr als hunderttausend Unterzeichnern (dem Augenschein nach mehr Frauen als Männer), dass Scholz keine schweren Waffen liefere, sondern für einen Waffenstillstand und einen Kompromiss eintrete, „den beide Seiten akzeptieren können“.
Der Skandal des Briefs liegt in der Aussage, dass eine eventuelle Eskalation nicht allein in der Verantwortung des Aggressors liege, sondern auch bei denen, „die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern“.
Damit schlagen sich die Unterzeichner auf impertinente Weise auf die Seite des Aggressors, und zwar für das bisher Geschehene wie das zukünftig zu befürchtende. Sie exkulpieren Bombardierer, Mörder und Vergewaltiger. Auch Alice Schwarzer, die Feministin, hat unterzeichnet!
Und um es klar zu sagen: Eine eventuelle Eskalation wegen Waffenlieferungen kann dem Westen genausowenig angelastet werden wie der Ukraine. Alles, was dort seit Beginn des Kriegs, des Einmarschs der Armee in der Ukraine geschieht, geht auf das Konto Putin-Russlands. Über die möglicherweise verfehlte Russlandpolitik nach dem Zerfall der Sowjetunion, aus der Putin seine Rechtfertigung für seinen Angriffskrieg zieht, werden Historiker ein Urteil fällen.
Habermas: Die Umkehr der Pazifisten
Schwergewichtiger und gedankentiefer argumentiert Jürgen Habermas. Für ihn tobt in Deutschland „ein schriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine“. In einem Essay, der in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist, schrieb er, im Westen wachse „die Beunruhigung mit jedem Toten, die Erschütterung mit jedem Ermordeten, die Empörung mit jedem Kriegsverbrechen – und der Wunsch, auch etwas dagegen zu tun“. Er empört sich darüber, dass „die Umkehr unserer ehemaligen Pazifisten“, deren Empörung, Entsetzen und Mitgefühl „den motivationalen Hintergrund ihrer kurzschlüssigen Forderungen“ bildeten.
Dass Putin und die russische Regierung „einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen“ haben, stellt Habermas nicht in Abrede, auch nicht dass die Aggressoren „mit ihrer systematisch menschenverachtenden Kriegführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen“. Damit ist klar gesagt, wer Verantwortung trägt. Aber was ist zu tun? Das ist doch die Frage. Wie weit wollen wir gehen – mit der Ukraine und gegen Putin?
Kielmannseck: Das Dilemma des Westens
Der Entschluss des Westens, nicht als Kriegspartei in den Krieg einzugreifen, sowie die russische Drohung mit Atomwaffen beschränkten allerdings die Optionen. Habermas sieht darin ein „Dilemma“ des Westens. Zumal niemand sagen kann, wann der Westen die Schwelle überschreitet, die für Putin dessen Kriegseintritt bedeutet.
Auf dieses Dilemma des Westens hatte Peter Graf Kielmannsegg, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim, bereits vor einigen Tagen in der Frankfurter Allgemeine hingewiesen. Einerseits: Putins nukleare Drohung stets ernst zu nehmen hieße, Putin die Grenzen des politischen Handlungsspielraums des Westens festlegen zu lassen. Andererseits: „Die nukleare Drohung grundsätzlich nicht ernst zu nehmen, weil es immer möglich ist, dass Putin nur blufft, hieße, das Risiko der Apokalypse in Kauf zu nehmen.“ Allerdings, so Kielmannsegg, könne es hinauslaufen „auf eine Kapitulation, die schleichend fortschreitet, weil jeder Droherfolg die nächste Drohung zur Folge hat“.
Darf man die Welt aber Erpressern überlassen, die mit der nuklearen Drohung Politik machen? „Diese suggestive Frage“, so Kielmannsegg, „trifft freilich immer auf die Gegenfrage: Wie nahe darf man sich der Gefahr einer apokalyptischen Katastrophe annähern?“
Habermas: Nicht pokern, sorgfältig abwägen
Was also tun? Offenbar scheint es in dieser Frage um den Beistand für die Ukraine nur zwei Handlungsoptionen zu geben. Pest oder Cholera. Die Welt zwischen Skylla oder Charybdis. Und so stehen sich zwei Parteien gegenüber in einer Debatte, in der, so Habermas, die Emotionen aufwallen.
Habermas‘ Schluss lautet: Wenn das Risiko eines Weltkriegs vermieden werden soll, gebe es „keinen Spielraum für riskantes Pokern“. Vielmehr müsse „sorgfältig abgewogen werden“.
Ihn irritiere, schreibt Habermas weiter, „die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten“. Habermas akzeptiert offenbar die Politik einer „sachlich umfassend informierten Abwägung“ des Bundeskanzlers, der im Interview mit dem Spiegel als Maxime genannt hat: „Wir treten dem Leid, das Russland in der Ukraine anrichtet, mit allen Mitteln entgegen, ohne dass eine unkontrollierbare Eskalation entsteht, die unermessliches Leid auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar in der ganzen Welt auslöst.“
Fücks: Kein Verhandlungsfrieden
Ralf Fücks kann dagegen mit Scholz‘ Politik gar nichts anfangen. Die deutsche Politik lasse sich durch „Furcht“ und „Zögerlichkeit“ bremsen, beklagte er vor einigen Tagen – ebenfalls in der SZ. Dass sie sich „vor einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Nato mit dem Potenzial eines finalen nuklearen Infernos“ fürchte und „von der Drohung einer nuklearen Eskalation einschüchtern“ lasse, obwohl es „eine besondere deutsche Verpflichtung gegenüber der Ukraine gibt, aus historischen Gründen wie als Kompensation für die Politik der jüngeren Vergangenheit“. Fücks verlangt Sanktionen (bei Energie und Banken) und die Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine (was inzwischen angekündigt ist).
Wer seine Politik von Furcht treiben lasse, gewähre der Gegenpartei „freie Hand für die Eskalation der Gewalt“. Wenn wir Putin nachgeben, so Fücks, wenn ein „Arrangement mit dem Kreml“ gesucht werde, „das eine erneute territoriale Amputation der Ukraine in Kauf nimmt“, wenn „wir signalisieren, dass wir offen für eine solche ‚diplomatische Lösung‘ sind, dann sei „die Büchse der Pandora weit offen“.
Putin wolle mehr, schreibt Fücks, und deshalb meint er: „Ein Verhandlungsfrieden, der nicht auf einen Ausverkauf der Ukraine hinausläuft, wird erst möglich, wenn Russland am Rande einer militärischen Niederlage steht.“ Ein klares Plädoyer für mehr Druck auf Russland. Aber durch wen?
Habermas wendet dagegen Folgendes ein: „Aber ist es nicht ein frommer Selbstbetrug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen? Die kriegstreiberische Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt. Denn sie entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte setzen könnte.“
Habermas weist – wie auch andere Stimmen zuvor – auf eine „erstaunliche Konversion friedensbewegter Geister“ und deren Abkehr von einem „historischen Wandel der von rechts immer wieder denunzierten, tatsächlich schwer genug errungenen Nachkriegsmentalität der Deutschen“ hin zu einem „Ende eines auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der deutschen Politik“.
Den Kern des Konflikts sieht Habermas „zwischen denen, die empathisch, aber unvermittelt die Perspektive einer um ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Leben kämpfenden Nation einnehmen, und denen, die aus den Erfahrungen des Kalten Krieges eine andere Lehre gezogen und – wie doch die auf unseren Straßen Protestierenden auch – eine andere Mentalität ausgebildet haben. Die einen können sich einen Krieg nur unter der Alternative von Sieg oder Niederlage vorstellen, die anderen wissen, dass Kriege gegen eine Atommacht nicht mehr im herkömmlichen Sinne ‚gewonnen‘ werden können.“
Zu Letzteren gehört auch Alexander Kluge, den Habermas zitiert: „Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen.“ Das heiße freilich nicht Frieden um jeden Preis.
Wie raus aus dem Dilemma?
Dass Habermas sich an Olaf Scholz‘ Seite stellt, scheint Kurt Kister nicht zu gefallen. „Kann einem Politiker in Deutschland, gar einem Bundeskanzler, etwas Besseres passieren, als von Jürgen Habermas verteidigt zu werden?“, fragt er in seiner Antwort auf Habermas in der SZ.
Kister beklagt Scholz‘ „intransparent sprachlosen Kern der politischen Erfahrung“. Was besonders misslich sei, da doch in dieser digitalen Zeit „das ins Mikrofon gesprochene Wort, der inszenierte Auftritt, das nächtliche Video eigentlich zu den schweren Waffen zählen“. Als käme es darauf an. Als müsste der Kanzler in jedes Mikrofon sprechen, das ihm jemand vor die Nase hält. Es ist ja nicht so, dass Scholz ich nicht geäußert hätte, er hat nur über schwere Waffen nicht jedem das gesagt, was ihm oder ihr gefallen hätte.
Kurt Kister räsonniert nach einer mehr oder weniger kritisch begleiteten Würdigung der Habermasschen Gedanken über die verschiedenen Stufen der Kriegsbeteiligung. Sein Ausatz endet mit den Worten: „Nach dem vorletzten Schritt gibt es nur noch einen letzten Schritt. Der besteht entweder im Einlenken Russlands und einem vollständigen Rückzug (solange Putin an der Macht ist, ist das nicht so wahrscheinlich). Oder im dritten Weltkrieg.“
Welch ein Fatalismus!
Bernd Ulrich von der Wochenzeitung Die Zeit tweetet: „Wer für die Freiheit der #Ukraine auf keinen Fall das Risiko eines Atomkriegs eingehen will, kann später auch nicht erwarten, dass die Amerikaner für die Freiheit Europas das Risiko eines Atomkriegs eingehen.“
Welch eine Leichtfertigkeit!
Sollen, wollen, dürfen wir es also darauf ankommen lassen? Gibt es nur das Entweder-oder?
Kielmannsegg hat nicht nur das Dilemma beklagt, sondern auch eine Handlungsanleitung gegeben: Die EU werde „nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen kann“. Ob aber, stellt Kielmannsegg fest, „Europa irgendwann willens und fähig sein wird, seine Sicherheit selbst zu gewährleisten, steht in den Sternen“. Bis dahin liegt für ihn nahe, „dass Verantwortungsethik im Schatten der ungeheuren Zerstörungsmacht von Nuklearwaffen im Zweifel immer äußerste Vorsicht und Zurückhaltung gebiete“.
Wir wissen nicht, was Putin uns, der Ukraine, auch seinem Volk noch zuzumuten will. Aber das können wir schon jetzt sagen: Sollte es zum Schlimmsten kommen, will hinterher wieder niemand – weder hüben noch drüben – dafür verantwortlich sein.
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