Russlandpolitik: Gegen ein Weiter-so

Trotz Drohgebärden und Imponiergehabe: Weshalb der Westen Russland eine Brücke bauen sollte

von Johannes Varwick
Russland: Bär verteidigt Jungtiere.
In mehrfacher Hinsicht ein klares Klischee. Russischer Braunbär verteidigt seine Jungtiere.

Genf, Brüssel, Wien – das waren die diplomatischen Schauplätze, auf denen jüngst über die vor dem Abgrund stehende europäische Sicherheitsordnung beraten wurde. Washington, Moskau und vielleicht Berlin sind aber die Orte, auf die es tatsächlich ankommen wird.

Die Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine und das Imponiergehabe gegenüber Nato-Staaten sind inakzeptabel. Dennoch führen Empörung und formelhafte Verurteilungen nicht weiter. Vielmehr ist jetzt Realpolitik angezeigt. Eine vorwiegend auf Abschreckung setzende Politik war nicht erfolgreich und wirtschaftlicher Druck und die Verschärfung von Sanktionen haben Russland nicht zur Umkehr bewegen können.

Sollten also „russische Einflusszonen“ akzeptiert und der Ukraine eine Nato-Beitrittsperspektive abgesprochen werden, weil Russland dadurch einen Einflussverlust befürchtet und seine roten Linien überschritten sieht, oder muss nicht für alle Staaten das Prinzip der freien Bündniswahl gelten?

Realistische Theoretiker warnten früh, dass die Nato mehr Rücksicht auf russische Befindlichkeiten zu nehmen hätte und brachten Verständnis für vermeintliche „Einkreisungsängste“ durch eine Ausdehnung des Westens unter der Führung der USA auf. Die Realisten haben da einen guten Punkt, und Russland hat jahrelang deutlich gemacht, dass es die westliche Politik als massive Verletzung seiner Interessen versteht. Mit den kurz vor Weihnachten vorgelegten Vorschlägen für einen neuen Sicherheitsvertrag ist die russische Sicht klar artikuliert.

Russische Vorschläge nicht blind zurückweisen

Darauf blind einzugehen, würde bedeuten, das mit militärischer Gewalt geschaffene Denken in Einflusszonen zu akzeptieren und auf die Prinzipien der „Charta von Paris“ aus dem Jahr 1990 zu verzichten. Das kann kein nachhaltiger Weg sein. Denn insbesondere das Prinzip der territorialen Integrität ist von strategischer Bedeutung für die Stabilität in Europa. Und es bleibt auch richtig, dass Russland seine selbst definierten Einflusszonen nicht mit Drohungen und Gewalt erfolgreich an sich binden sollte, sondern besser mit „soft power“, also Attraktivität seines eigenen Politik- und Wirtschaftsmodells agieren sollte.

Die russischen Vorschläge aber blind zurückzuweisen wäre genauso falsch. Russland an diesem zentralen Punkt entgegenzukommen und die Beitrittsperspektive der Ukraine zur Nato vorerst bewusst auf Eis zu legen – und damit die eigenen Nato-Beschlüsse aus dem Jahr 2008 zu revidieren –, würde insofern zwar Prinzipien verletzten, aber wenn die Alternative eine Eskalationsspirale ist, aus der wir nicht herauskommen, dann sollten wir das machen, was Diplomatie machen muss: schmerzhafte Kompromisse schmieden, Interessensausgleich vornehmen und versuchen, das Schlimmste zu verhindern.

Das hieße im Übrigen nicht, die Ukraine (für die niemand im Westen militärisch kämpfen würde) hängen zu lassen, sondern es hieße, dass wir mit der Ukraine, mit Russland, mit den USA und den europäischen Staaten darüber reden, welchen Platz die Ukraine und Russland in der europäischen Sicherheitslandschaft haben können. Da liegen Ideen auf dem Tisch, etwa eine ‚Finnlandisierung‘ der Ukraine, also eine wie auch immer ausbuchstabierte Neutralität.

Ist Realpolitik schmutzig? Oder Gebot politischer Klugheit?

All dies klingt heute und angesichts des russischen Säbelrasselns nach allzu schmutziger Realpolitik. Doch dies gefühlig zu beklagen, bringt nicht die notwendige politische Dynamik, um aus der gefährlichen Eskalationsspirale rauszukommen. Deshalb sind radikalere Schritte und die Infragestellung der bisher gültigen Prinzipien und Strategien notwendig, zumal der Westen und die Nato auf Basis der eigenen Stärke bzw. gesicherter Abschreckungsfähigkeit ihres eigenen Bündnisgebiets handeln und verhandeln können.

Im Anschluss an die noch sehr unverbindlichen Gespräche und der Wiederaufnahme des Dialogs sollte über eine hochrangige Konferenz nachgedacht werden, die ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten und Ebenen über das Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur berät. Solang diese Konferenz tagt – und dafür wäre realistischerweise ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren anzusetzen –, sollte zumindest bei Militärmanövern vollständige beiderseitige Transparenz vereinbart und die Sanktionen schrittweise reduziert werden. Für die Dauer der Verhandlungen sollte zudem ein „Freeze“ bei der Frage der Nato-Erweiterung vereinbart werden.

Voraussetzung ist also die Anerkennung der legitimen Sicherheitsinteressen beider Seiten. Es müssen mithin Win-win-Situationen geschaffen werden, welche die derzeitige Blockade überwinden. Der Schlüssel dafür liegt nicht allein – wie nahezu alle westlichen Kommentare unterstellen – in Moskau, sondern auch in Washington, Berlin und Brüssel. Russland eine tragfähige Brücke zu bauen, wäre weder unverantwortliches Appeasement noch würde es einen Verzicht auf die Einforderung grundlegender in der OSZE vereinbarter Standards bedeuten, sondern wäre ein Gebot politischer Klugheit.

Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Initiator des Appells „Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland“. / Dieser Beitrag ist auch erschienen in der Frankfurter Allgemeine (FAZ).

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