Krieg in der Ukraine

Ukraine-Krieg: Pessimistisch im Staats-TV

Der ehemalige Oberst Michail Chodarjonok nennt Kriegslage im russischen Staatsfernsehen ‚immer schlimmer‘

von Rowert Hoffer
Michail Chodarjonok Screenshot Twitter
Verteilt keine Informations-Beruhigungspillen: Michail Chodarjonok auf Sendung

Die russische Bevölkerung solle keine „Informations-Beruhigungspillen“ schlucken. So beginnt der ehemalige Oberst der Roten Armee, Michail Chodarjonok, seine vernichtende Analyse der gegenwärtigen Kriegslage im russischen Staatsfernsehen. „Die Situation wird für uns immer schlimmer“, sagt der Militärexperte mit Blick auf die massiven westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine.

Russland müsse damit rechnen, dass schon bald eine Million ukrainische Soldaten mit westlichen Waffen ausgerüstet sei. Zudem sei es ein in Russland verbreiteter Irrglaube, dass die Kampfmoral der ukrainischen Soldaten zurückgehe. Vielmehr seien die ukrainischen Soldaten hochmotiviert, ihr Heimatland gegen Russland zu verteidigen. Chodarjonok beklagt auch die „komplette geopolitische Isolation“ Russlands. Diese Position müsse überwunden werden.

Der Auftritt Chodarjonoks in der Talkshow des Staatsfernsehens ist erstaunlich. Zwar versucht die Moderatorin Olga Skabejewa, seine Aussagen teilweise zu entkräften, was allerdings erfolglos bleibt. Auch wird Chodarjonok nicht niedergeschrien oder konstant unterbrochen, wie es sonst bei unbotmäßigen Aussagen im russischen Fernsehen üblich ist.

Der Russland-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik geht davon aus, dass der Auftritt Chordarjonoks von oben gebilligt worden ist. Der Sender wird von seinen Aussagen nicht überrascht gewesen sein. Denn Chodarjonok hat sich bereits vor Kriegsbeginn kritisch zu einer möglichen Invasion in der Ukraine geäußert.

Präzise Prognose des Kriegsverlaufs

Chordajonok veröffentlichte drei Wochen vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine einen Aufsatz, in dem er den Kriegsverlauf erstaunlich genau vorhersagte. Er prognostizierte, dass eine Invasion der Ukraine nicht schnell erfolgreich beendet werden könne. Er merkte an, dass die ukrainische Armee in den letzten acht Jahren sehr viel schlagkräftiger geworden sei und dass ukrainische Soldaten nicht ähnlich schnell wie 2014 besiegt werden könnten.

Chordajonok prognostizierte auch den schwierigen Häuserkampf in den ukrainischen Großstädten und sagte sehr genau die Art der westlichen Unterstützung voraus. So sprach er explizit das amerikanische Lend-Lease-Gesetz aus dem Zweiten Weltkrieg an, das schnelle Waffenlieferungen an die Ukraine ermöglicht. Dieses wurde Ende April vom Kongress verabschiedet. Seinen Aufsatz schließt er mit einer klaren Aussage: „Ein bewaffneter Konflikt in der Ukraine liegt nicht im nationalen Interesse Russlands.“

Der skeptische Experte

Bereits zuvor spielte Chordajonok auch im Fernsehen die Rolle des skeptischen Experten, der die Kriegsbegeisterung dämpfte. Kurz vor der russischen Militärparade am 9. Mai sagte er, dass eine Generalmobilmachung nur wenig helfen werde. Chordajonok wies in aller Klarheit darauf hin, dass nur gut ausgebildete Soldaten und neuste Technik Russland einen Vorteil verschaffen würden. Zudem fehle es in Russland an den notwendigen Ressourcen, um den Krieg in der Ukraine schnell zu Russlands Gunsten zu wenden.

Die Ansichten Chordajonoks waren dem Fernsehsender also bekannt. Es ist anzunehmen, dass er nicht trotz, sondern wegen seiner Ansichten eingeladen wurde. Weshalb die russische Propaganda der eigenen Bevölkerung nun ein differenzierteres Bild des Ukraine-Kriegs präsentiert, bleibt noch unklar. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass der Auftritt Chordajonoks ungeplant gewesen ist.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 18.5.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung