Belarus: Das Erwachen der Frauen
Olga Shparaga beleuchtet „Das weibliche Gesicht der Revolution“ in Belarus
Die Wahrheit ist Hochverrat im Reich der Lügen. Wie Hochverrat in Belarus seit 2010 mit steigender Intensität konkret geahndet wird, hat bereits der in Deutschland lebende Dirigent und Dissident Vitali Alekseenok eindrucksvoll beschrieben: Verlust von sozialen Privilegien, Ausschluss aus der Gesellschaft, Gefängnis, Exil oder im schlimmsten Fall Tod.
Inzwischen hat auch die Philosophin und erklärte Feministin Olga Shparaga ihr Buch auf den Markt gebracht. Sie beginnt mit ein paar Zahlen. Gegen 2300 Menschen habe das Regime von Diktator Alexander Lukaschenko Strafverfahren eingeleitet, „nach internationalen Kriterien“ seien 300 politische Gefangene anerkannt. „Unter ihnen sind 38 Frauen“, so Shparaga. „Gegen weitere 141 Frauen laufen Strafverfahren.“
Es sind die ersten elf Zeilen, die verwirren, heißt das Buch über den „Fall Belarus“ doch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht“. Auch das Herz und die Seele des Aufstands, so liest sich das Buch, sind zweifelsohne weiblich. Was sind dann an diesem Revolutionskörper die Männer, die, so erfährt man später, auf den Demonstrationen mit 55 Prozent „etwas stärker vertreten“ waren als Frauen und andere.
Frauenbilder
Weglegen sollte man(n) das Buch deshalb noch lange nicht, sondern weiterlesen. Es lohnt sich. Shparaga beleuchtet viele Frauen, die auch bei Alekseenok vorkommen, aber eben nicht so dezidiert oder – wie soll man sagen – identitätsbasiert.
Es beginnt mit einem „Frauenbild“, nämlich das der „Eva“, das unter dem Hashtag #evalution Karriere machte. Es war Teil der Kunstsammlung der Belgazprombank, die am 14. Juni 2020 beschlagnahmt wurde. Die Aktion zielte gegen den Leiter der Bank, den Kulturmäzen Viktor Babariko, der bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 gegen Lukaschenko antreten wollte.
Beim Protest gegen die Beschlagnahme und schließlich das Regime wurde die „Eva“ von Chaim Sutines zur Ikone, vielfach variiert auf T-shirts, Taschen und Accessoires, mal im Gefangenenkittel und mit ausgestrecktem Mittelfinger, und in den sozialen Medien verbreitet. Dass „Eva“ so groß herauskam, begründet Shparaga so: „Soutines Werk zeigt kein Objekt, das ein fremder, männlicher Blick in Besitz nehmen soll“, sondern sie „schaut selbstbewusst aus dem Bild heraus“. Die Arme vor der Brust gekreuzt sei sie „ein weibliches Subjekt“.
Und das wurden auch die Frauen, die sich vor und nach den Wahlen an die Spitze des Protests setzten, nachdem ihre/die Männer entweder im Gefängnis schmorten oder ins Ausland hatten fliehen müssen: Maria Kolesnikowa, Veronika Zepkalo und Swetlana Tichanowskaja, die anstelle ihres ausgeschlossenen Mannes Präsidentschaftskandidatin wurde.
Befreiung aus dem Patriarchat
Shparaga, die Belarus im Oktober 2020 verließ und inzwischen auch in Berlin lebt, beschreibt diese Monate als Erwachen der belarusischen Frauen aus ihrer Rolle in einem patriarchalischen Staats- und Gesellschaftssystem, dessen Obermacho sagt, die Gesellschaft sei „nicht reif dazu, eine Frau zu wählen“. In den Worten der Leiterin der Zentralen Wahlkommission hieß das schon 2010, sie sollten zuhause bleiben und Borschtsch kochen.
Aber nun, 2020, traten die Frauen ins Licht, überwanden Angst und Kleinmut. In Shparagas Worten: „Viele Frauen gingen nun als Ehepartnerinnen, Lebensgefährtinnen und Mütter der geprügelten und gefolterten Männer auf die Straße – und zugleich als Anführerinnen einer Bewegung, als selbständige und solidarische Bürgerinnen.“ Zu ihnen gesellten sich auch die Biathletin Daria Domratschewa, die Skiweltmeisterin Alexandra Romanowskaja und die Europameisterin im Kugelstoßen Nadeschda Ostaptschuk, die sogar Mitglied im Koordinationsrat der Oppositionsbewegung wurde.
Dankenswerterweise verschweigt Shparaga nicht, dass das Patriarchat auch unter Frauen noch lebt und selbst Tichanowskaja klassisch dachte: Sie sagte auf einer Wahlveranstaltung, sie strebe nicht an die Macht: „Ich will mich um meine Kinder und meinen Mann kümmern und wie früher meine Frikadellen braten.“ Dass sie aber kandidierte und für Wandel und faire Wahlen eintrat, zeige, so Shparaga, „dass die 38-jährige Tichanowskaja nur zum Teil ein traditionelles, patriarchalisches Frauenbild bediene“.
Die Überwindung der Angst
Die Rede ist von der Überwindung der Angst, von Solidarität und Opferbereitschaft nach dem Wahltag 9. August 2020. Dass die Frauen so schnell an die Stelle der Männer treten konnten, erklärt die Autorin damit, „dass die Frauen längst, auch wenn ihnen das gar nicht bewusst gewesen sein mag, zu Staatsbürgerinnen mit einer eigenständigen politischen Position herangewachsen waren“.
Für Shparaga ist die „Gendergleichheit“ ein „Orientierungspunkt für die Entwicklung der Gesellschaft“, um Beteiligung von Frauen „auf allen Ebenen des politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens zu verwirklichen“. Das ist fast eine Binse, aber natürlich wahr, und es ist erfreulich, dass der Fortschritt sich auch in Belarus nicht aufhalten lässt. Es wäre allerdings zu wünschen, dass die gestrigen Frauen des alten Regimes mit diesem aus der Machtzone verschwinden.
Shparagas Buch ist der Versuch, die Bilder der Frauen, die um die Welt gingen, festzuhalten und zu verschriftlichen, vor allem die Bilder der drei Ikoninnen dieses Aufstands. Es geht aber auch darum, die Meriten zu verteilen, um ein Narrativ.
Zweifellos haben diese und andere Frauen bewiesen, dass sie auch in Belarus Führung übernehmen können, sie haben Kreativität, und Leidensbereitschaft gezeigt. Aber es ist wie immer: Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß, und es gibt keine ungeteilten Identitäten.
Lesen wir also den Titel als das, was er immer ist: ein Werbeplakat, das einen USP herausstellen und das Produkt von den anderen Neuerscheinungen über den Aufstand in Belarus unterscheiden soll.
Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus
Aus dem Russischen von Volker Weichsel