Der ewige Imperialismus
Eugen Ruge warnt zurecht, Russland zu dämonisieren, aber er übersieht langfristige und rekultivierte Kulturmuster
Die große russische Dichterin Anna Achmatova verlor ihren Sohn in den Jahren des stalinistischen Terrors im Gulag. In ihrem berühmten „Requiem“ klagte sie um das „schuldlose“ Russland, das „sich wand / unter Stiefeln, den blutig befleckten / Schwarzen Wagen, ‚Marussja‘ genannt“. Die Schreckensherrschaft Stalins hatte viele russische Opfer, und die Bolschewiki waren beileibe keine rein russische Partei, sondern zählten Mitglieder vieler Nationalitäten. Auf den polyethnischen Charakter des Bolschewismus verweist Eugen Ruge in seinem Essay „Gibt es einen nützlichen Völkerhass?“ (FAZ vom 3. November, unter der Überschrift „Völkerhass ist niemals nützlich“ auch auf KARENINA). Ruge hält es für einen Kategorienfehler, für die Verbrechen der Sowjetunion Russland und die Russen verantwortlich zu machen.
Das „schuldlose Russland“ Achmatovas wurde von einem Regime regiert, das seinen Terror nicht in erster Linie gegen Russen, sondern vor allem gegen Angehörige nationaler Minderheiten richtete. Polen waren am stärksten gefährdet. Die Bolschewiki erfanden eine „Polnische Militärorganisation“, die angeblich mit einer „Ukrainischen Militärorganisation“ in Verbindung stand und das Ziel verfolgte, die Sowjetmacht zu stürzen.
Die 600 000 Polen, die damals in der Sowjetunion lebten, wurden nach einem denkbar weiten Schema verfolgt: Jeder Pole, dem Beziehungen zu Polen, zur polnischen Kultur oder zum Katholizismus unterstellt werden konnten, geriet unter Verdacht – also de facto alle 600 000 Polen. Allein in der ukrainischen Sowjetrepublik wurden mehr als 55 000 Polen festgenommen und davon mehr als 47 000 erschossen. Timothy Snyder hat berechnet, dass in Achmatovas Heimatstadt Leningrad 1937/38 das Risiko einer Verhaftung für Polen 34 Mal höher war als für andere, überwiegend russische Sowjetbürger.
Es gab gezielten ethnischen Terror der stalinistischen Sowjetunion, der im Fall der Polen eine geopolitische Ratio hatte. Stalin nahm an, dass die Polen im Fall eines deutsch-sowjetischen Kriegs nicht auf Moskaus Seite stehen würden.
Zugleich waren die sowjetischen Mordaktionen wie auch später das Massaker von Katyń im Mai 1940 tief in russischen und sowjetischen Perzeptionsmustern von Polen verwurzelt. Diese gehen auf die Zeit des polnischen Freiheitskampfs gegen die russische Herrschaft zurück. 1830/31 und 1863 erhoben sich Polen mit dem Ziel, ihre in den Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts verlorene staatliche Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Die Aufstände wurden von Russland brutal niedergeschlagen.
Antieuropäisches Ressentiment
Im offiziellen Diskurs Russlands galten Polen in der Folge als „Aufrührer“ und „Verschwörer“. Es entstand, wie der russische Historiker Mikhail Dolbilov feststellt, die Vorstellung vom „polnischen Erbfeind“, und diese wurde nach dem Aufstand zur ideologischen Grundlage der Russifizierungspolitik in den westlichen Gouvernements des Zarenreichs.
Während des ersten Aufstands der Polen 1830/31 schrieb der russische Nationalpoet Alexander Puschkin das Gedicht „An die Verleumder Russlands“. Mit antipolnischen Stereotypen durchsetzt, warf sein Text der europäischen Öffentlichkeit vor, sich in die inneren Angelegenheiten eines „häuslichen Streits“ unter Slawen einzumischen. Das Gedicht formulierte eine existenzielle Alternative, die nur Gewinner und Verlierer kannte: „Ob die Slawenflüsse sich ins russische Meer ergießen, oder ob dieses austrocknet, das ist die Frage.“
Puschkin segnete, wie Sonja Margolina schreibt, antieuropäisches Ressentiment mit den höheren Weihen des Genius. „Es sollte fortan das Selbstverständnis der russischen Bildungsschicht als Kulturnation prägen.“
Damals entstand ein Narrativ, das politisch relevant und in der breiten russischen Öffentlichkeit populär wurde. Darin galt das aufständische, intrigante Polen als verlängerter Arm des Westens, der Russlands Macht unterminieren wollte. So dachte auch Stalin, und hierin liegen die tieferen Motive für den sowjetischen Terror gegen die Polen.
Anknüpfen an alte Stereotype
Heute, im Krieg gegen die Ukraine, knüpft die russische Politik an die alten Stereotype an: Am 1. November rezitierte Außenminister Sergej Lawrow Puschkins Gedicht in einem einminütigen Video, das auf Twitter offiziell verbreitet wurde. Die Aufnahme in einem Biedermeier-Kabinett wurde mit kurzen Filmsequenzen aus der Gegenwart unterlegt, etwa vom Auftritt der Führer der vier annektierten ukrainischen Provinzen in Moskau.
Das Video schlägt die Brücke vom polnischen Aufstand 1830/31 zum russisch-ukrainischen Krieg heute, von Puschkin zu Putin. Dabei richtet sich die Warnung an die „Verleumder Russlands“ in beiden Fällen an dieselbe Adresse: den Westen, der sich davor hüten soll, sich in slawische Familienangelegenheiten einzumischen.
Die Wahrnehmung und Verfolgung von Polen ist nur ein Beispiel für die Verbindungen zwischen der Politik des Zarenreichs, der Sowjetunion und dem Regime Putins. Eugen Ruge behauptet: „Nichts von dem, was Stalin tat, tat er als Russe, nicht im Auftrag des russischen Volkes, nicht zu dessen Vorteil.“
Gewiss agierte Stalin nicht zum russischen Vorteil, und er gelangte bekanntlich nicht in freien Wahlen an die Macht. Seine Nationalität war nicht russisch, sondern georgisch. Dennoch steht Stalin in einer russischen Tradition, das belegt etwa der Terror gegen die sowjetischen Polen. Diese darf man nicht als „ewig russisch“ essenzialisieren, aber man darf sie auch nicht verleugnen.
Sieben Millionen verhungerten
Der Stalinismus sei „die Diktatur eines Psychopathen“, stellt Ruge fest. Das stimmt; doch der personalisierende und pathologisierende Blick auf die sowjetische Terrorherrschaft birgt die Gefahr, langfristige Kulturmuster zu übersehen, die im Stalinismus besonders grausame Folgen zeitigten.
Eugen Ruge behauptet: „Der Stalinismus war keine Diktatur der Russen über Ukrainer und Balten.“ Das haben Ukrainer und Balten anders gesehen, wie zahlreiche autobiographische Zeugnisse belegen.
Es ist richtig, dass die Bolschewiki im Moskauer Herrschaftszentrum kommunistische Eliten aus den nichtrussischen Republiken integrierten, sodass auch Balten und Ukrainer in die Führungsetagen der Partei aufstiegen. Auch darin knüpfte die Sowjetunion an das Zarenreich an, das nichtrussische Eliten in den russischen Adel und in den Staatsdienst aufnahm. Solche Assimilation ist ein typisches Merkmal imperialer Herrschaft.
Ungeachtet dessen waren Zarenreich und Sowjetimperium nicht nur aus der Perspektive der Beherrschten an den nichtrussischen Peripherien Regime mit einem russischen Herrschaftszentrum und russischen Herrschaftstraditionen. Innerhalb der Sowjetunion gab es eine informelle Hierarchie der Nationalitäten, mit den Russen an der Spitze. Auf das „große russische Volk“ brachte Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg einen Trinkspruch aus und reklamierte damit den Sieg und die Opfer des Kriegs einseitig für die Russen, was nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland die Sicht auf den Krieg bis in die Gegenwart hinein verzerrt hat.
„Der nationale Blick geht an der Sache vorbei“, meint Eugen Ruge. Aber es war die Sowjetunion selbst, die diesen Blick kultivierte, nicht nur durch Stalins berüchtigten Toast.
Als Beispiel für nationale Geschichtsklitterung sieht Eugen Ruge den Holodomor, der inzwischen so aufgeladen sei, dass man sich kaum noch getraue, „an Tatsachen zu erinnern“. Meiner Erfahrung nach ist der Holodomor in Deutschland immer noch so unbekannt, dass man notgedrungen an Tatsachen erinnern muss, um überhaupt davon zu sprechen. Er bezeichnet eine Hungersnot, die durch Stalins forcierte Industrialisierung am Ende der Zwanzigerjahre ausgelöst und durch die Kampagne gegen die sogenannten Kulaken verschärft wurde. Die Sowjetmacht ließ sämtliches Getreide einschließlich des Saatguts beschlagnahmen; bis 1933 verhungerten in der Folge sieben Millionen Menschen.
Allein in der Ukraine waren es fast vier Millionen – nicht drei Millionen, wie Eugen Ruge schreibt. Auch in Kasachstan und in Südrussland gab es Millionen Opfer. Aus Sicht der russischen Historiographie handelt es sich deshalb um eine Katastrophe, die verschiedene Völker in der Sowjetunion verbindet.
Im Sinne dieser russischen Interpretation des Holodomors fragt Eugen Ruge: „Wie gelingt es einem Historiker, aus dieser Tragödie ein exklusives Opferanrecht zu schließen?“ Um ausschließliche Ansprüche des Erinnerns geht es nicht; denn wer wollte den Kasachen, den Russen oder auch den Nachfahren der in hohem Maße betroffenen deutschen Minderheit der Mennoniten verwehren, an ihr Leid zu erinnern?
Nur ist das Narrativ der allgemein sowjetischen Hungerkatastrophe aus ukrainischer Sicht nicht die ganze Geschichte. Denn der von Stalin ausgelöste Hunger wurde im Fall der Ukraine willentlich verschärft, um vermutetem Widerstand zuvorzukommen – eine konstruierte Geschichte, ähnlich der Rechtfertigung des Terrors gegen die sowjetischen Polen.
Gleichzeitig mit der Beschlagnahmung von Getreide auf dem Land verhaftete die Sowjetmacht in den Städten ukrainische Schriftsteller und Künstler, die in ihrer Sprache schrieben und ihre Nationalkultur pflegten. Auch hier setzte der Stalinismus russische Traditionen fort.
Nicht in erster Linie die hohe Zahl der Opfer, sondern der Zusammenhang von der Ermordung einer Opfergruppe mit dem gezielten Anschlag auf ihre Nationalkultur macht den Holodomor zu einem Verbrechen, das man mit guten Gründen als genozidal bezeichnen kann. Wenn die russische Kriegsführung heute in der Ukraine Zivilisten und zivile Infrastrukturen angreift und die Moskauer Regierung zugleich die politische und kulturelle Elite der Ukraine als „Faschisten“ entmenschlicht und Ukrainer in hoher Zahl durch „Filtrationslager“ nach Russland schleusen lässt, wird genau diese Verbindung von physischer und kultureller Vernichtung sichtbar.
Ähnliches zeigte sich, als russische Besatzer im völlig zerstörten Mariupol ein Holodomor-Denkmal demolierten. Wer eine Vorstellung davon hat, wie kollektives Gedächtnis funktioniert, wird sich nicht darüber wundern, dass in der Ukraine heute an den Holodomor emotional aufgeladen erinnert wird. Der nationale Blick geht im Falle der Ukraine nicht an der Sache vorbei. Er offenbart einen tatsächlich bestehenden Zusammenhang.
Keine tiefe Abneigung gegen Russen
Eugen Ruge prangert Hass und Abneigung gegen alles Russische an, und wer wollte ihm widersprechen? Aber wie repräsentativ sind seine Beobachtungen?
Gerd Koenen hat in seiner Erwiderung überzeugende Gegenargumente genannt. Auch ich mache in meinem Umfeld Erfahrungen, die dem Eindruck einer tiefen Abneigung gegen Russland und die Russen widersprechen. So ist Forschungsexpertise in russischer Geschichte bei Berufungen auf Lehrstühle für Osteuropäische Geschichte nach wie vor von primärer Bedeutung. Demgegenüber gibt es in Deutschland eine einzige 50-Prozent-Professur für ukrainische Geschichte.
Ruge bezieht sich vor allem auf die Kultur. Er spricht von einem Generalverdacht gegen die russische Literatur und greift speziell die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko für einen Essay in der Neuen Zürcher Zeitung an, in dem sie Zusammenhänge zwischen russischer Literatur und Gewaltkultur aufzeigt. Doch ist es nicht inzwischen weit verbreitet und wissenschaftlich anerkannt, mit dekolonialisierendem Blick Machtstrukturen in der Literatur zu analysieren?
Auch Nationalliteraturen aus Staaten, die keinen Vernichtungskrieg führen, sehen sich solcher Kritik ausgesetzt. Wie kann man erwarten, dass in der Ukraine, wo Russische Literatur jahrzehntelang ein Pflichtfach in der Schule war, keine Revision des russischen Klassiker-Kanons beginnt, zumal dann, wenn Russland einen Angriffskrieg gegen ebendieses Land führt?
Ruge hat recht, wenn er vor einer Dämonisierung Russlands als absolutem Bösen warnt. Aber es ist wichtig und nötig, genauer auf die strukturellen, langfristig wirksamen Problematiken der Geschichte Russlands zu schauen. Die russische Geschichte ist nicht unschuldig und die russische Literatur nicht heilig.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 15.11.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.