Putins Atomdrohung: Nur heiße Luft?

Timothy Snyder: Wie der Ukraine-Krieg ohne nukleare Eskalation enden könnte, Neue Zürcher Zeitung 16.10.2022

von KARENINA
Snyder über Putins Atomdrohung

Der Ukraine-Krieg wird „mit ziemlicher Sicherheit nicht mit einem atomaren Schlagabtausch enden“, prophezeit Timothy Snyder in der Neuen Zürcher Zeitung. Und Putin werde seine Streitkräfte aus der Ukraine zurückziehen.

Wie kommt der US-amerikanische Historiker und Professor an der Yale University darauf?

Folgende Gründe führt er an, weshalb die Atomraketen nicht starten werden: „Einige Staaten mit Atomwaffen haben seit 1945 Kriege geführt und verloren, ohne sie einzusetzen.“

Putin wolle mit seiner Drohung erreichen, dass die westlichen Demokratien keine Waffen an die Ukraine liefern. Außerdem wolle er damit Zeit gewinnen, um russische Reserven nachzurücken und so die ukrainische Offensive zu bremsen.

Der nuklearen Erpressung nachzugeben würde, so Snyder, „einen künftigen Atomkrieg sehr viel wahrscheinlicher machen. Wenn man einem nuklearen Erpresser Zugeständnisse macht, lernt dieser, dass er mit dieser Art Drohung bekommt, was er will, was für weitere Krisenszenarien in der Zukunft sorgt.“

Sollte es doch eine nukleare Bedrohung geben, so Snyder, „dann richtet sie sich gegen die Ukrainer. Diese widersetzen sich seit sieben Monaten der nuklearen Erpressung; und wenn die Ukrainer dies können, können wir es sicherlich auch.“

Aber Snyder glaubt nicht an eine nukleare Option Russlands. Denn: Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadyrow befürworte verbal den Einsatz von Atomwaffen. Gleichzeitig behaupte er, seine jungen Söhne zum Kampf in die Ukraine zu schicken. Snyders rhetorische Frage: „Damit sie von russischen Atomwaffen verstrahlt werden könnten?“

Gründe für Zweifel am Ernst von Putins Atomdrohung erkennt Snyder offenbar auch im Kreml: „Würde Putin wirklich das politische Risiko einer großangelegten Mobilisierung eingehen, die russischen Jungs in die Ukraine schicken und dann in der Nähe Atomwaffen zünden?“ Und würde Putin „Atomwaffen in Gebieten einsetzen, die es für russisch hält, und dabei die Menschen, die es für russische Bürger hält, töten oder verstrahlen?“ Snyder hält das für „sehr unwahrscheinlich“. Und wenn doch? Dann würde Russland „die Unterstützung der Welt verlieren“.

Ohnehin würde das Zünden einer kleinen Atombombe „keinen entscheidenden militärischen Unterschied ausmachen. … Wenn es zu einer Detonation käme, würden die Ukrainer weiterkämpfen.“

Noch ein Snyder-Argument: „Wenn Frustration über eine Niederlage ein Motiv für den Einsatz von Atomwaffen wäre, wäre dieser bereits geschehen.“

Putins Kampf um Machterhalt

Und weshalb wird Putin seine Streitkräfte aus der Ukraine zurückziehen? Um seine Macht in Moskau zu erhalten. „Sobald (und falls) Putin begreift, dass der Krieg verloren ist, wird er seine Position zu Hause neu überdenken.“ Denn wenn ein Krieg die eigene Position schwäche und nicht gewonnen werden kann, sei es besser, ihn zu beenden.

Die Mobilisierung habe die Bevölkerung von der Führung entfremdet, aber nichts an der Front bewegt. Es gibt Kritik am russischen Oberkommando, aber jeder in Russland wisse, „dass Putin das eigentliche Kommando führt“. Laute Kritik kam auch von Ramsan Kadyrow und Jewgeni Prigoschin, die beide eine Art private Streitmacht in die Ukraine entsandt hätten. Doch nun habe Kadyrow erklärt, in Tschetschenien werde nicht mobilisiert. Snyder: „Man könnte daraus schließen, dass er seine Männer für etwas anderes aufspart.“

Und Prigoschin, der Anführer der Söldnerorganisation Wagner? Auch er, mutmaßt oder spekuliert Snyder, scheine seine Ressourcen aufzusparen. Wofür? „Wenn die durch den Krieg in der Ukraine entstandene Instabilität sich auf Russland überträgt, werden die Führer, die von dieser Instabilität profitieren oder sich vor ihr schützen möchten, ihre Einflusszentren in der Nähe von Moskau haben wollen. Das wäre eine sehr gute Sache, für die Ukraine ebenso wie für die Welt.“

Denn in diesem Fall werde Putin sich „für sein eigenes politisches Überleben“ aus der Ukraine zurückziehen“. Alle Genannte werden, so Snyder, „Wichtigeres im Kopf haben als die Ukraine“.

Snyder hält seine „Logik der Entwicklung“ für viel wahrscheinlicher „als die von vielen befürchteten atomaren Untergangsszenarien“. Wir dürfen also aufatmen? Nun ja. Der Historiker Snyder beendet seinen Blick in die Zukunft mit einer Einschränkung: „Natürlich lässt sich all dies nur sehr schwer vorhersagen, vor allem nicht in den Details.“  PHK

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