Putin: Der unheilige Zar?
Ein mitreißendes Buch: Orlando Figes und die langen Linien der russischen Geschichte
Die Zunft der Osteuropahistoriker nimmt es ihrem englischen Kollegen Orlando Figes offenbar immer noch übel, dass er mit glänzend geschriebenen Büchern zur russischen Geschichte die Aufmerksamkeit einer breiteren Leserschaft auf sich zu ziehen vermag – und dieser Aufmerksamkeit sogar noch etwas nachgeholfen hat, wie er bei Gelegenheit einräumen musste.
Auch sein neuestes Werk zur Geschichte Russlands stößt auf geteilte Kritik. Während Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung davon schwärmt, dies sei ein Buch, „aus dem man unentwegt zitieren möchte“, urteilen die Fachkollegen nüchterner. Figes verhebe sich bei dem Versuch, „aus tausend Jahren russischer Geschichte die heutigen Verhältnisse zu erhellen“, monierte der Bochumer Osteuropahistoriker Stefan Plaggenborg, dem eine kurzsichtige hessische Hochschulpolitik einst den Marburger Lehrstuhl abgeräumt hatte.
Und sein Baseler Kollege Ulrich Schmid kritisierte die „verquere Nato-Kritik“, in der sich Figes am Ende seines Buchs verfängt. Durch die Provokation einer russischen Aggression, so liest man dort in der Tat, habe „die Nato erst das Problem geschaffen, dem sie eigentlich entgegentreten wollte“. Figes setzt sogar noch eins drauf: Man könne meinen, schreibt er, die Nato „brauche ein aggressives Russland, um die eigene Existenz zu rechtfertigen“.
Das ist so leichtfertig dahingeschrieben, wie man es von einem Historiker seines Ranges eigentlich nicht erwartet hätte. Und selbstverständlich kommen bei ihm auch sofort wieder die altbekannten Argumente auf den Tisch, wonach man der untergehenden Sowjetunion die Nichtausweitung der Nato Richtung Osten garantiert habe.
Diese Behauptung wird durch ständiges Wiederholen freilich nicht besser und ignoriert den tatsächlichen historischen Ablauf. Die mittel- und osteuropäischen Länder, wie die Polen oder die Balten, die jahrzehntelang der sowjetischen Hegemonie unterworfen waren, hatten schließlich selbst die Gunst der Stunde genutzt und sich dem westlichen Bündnis angeschlossen. Wer wollte ihnen das damals verweigern. Und dass die Ukraine nicht unter diesen Schutzschirm schlüpfen konnte, muss sie heute bitter bezahlen.
Tiefsitzende Angst vor dem Westen
Im moskauzentrierten Blick aus den Zeiten des Kalten Krieges kommt das Schicksal dieser zwischen den Machtblöcken eingekeilten Völker Mittelosteuropas ohnehin kaum vor. Doch wenn Orlando Figes wenigstens seinen mentalitätsgeschichtlichen Ansatz ernster genommen hätte, wären ihm vielleicht selbst Zweifel gekommen, ob es dieses Bedrohungsszenario in der behaupteten Form wirklich gab; oder ob es sich nicht auch um den Ausdruck jener tiefsitzenden Angst vor dem Westen handelte, die in Russland eine sehr lange Tradition besitzt.
Eine Geschichte Russlands
übersetzt von Norbert Juraschitz
Dass sich diese Angst nicht nur auf eine geostrategische Einkreisung Russlands bezog, sondern mindestens so sehr auf die Systemkonkurrenz mit dem liberalen Westen, wird man schwerlich in Abrede stellen können. Auch wenn man dem Westen und der Europäischen Union in der Tat vorwerfen muss, sich um eine gemeinsame, glaubwürdige Sicherheitspolitik viel zu wenig und zu unambitioniert gekümmert zu haben.
Doch so wenig überzeugend argumentiert der Autor zum Glück nur im letzten Kapitel seines Buchs, weshalb man der Versuchung widerstehen sollte, es vom aktuellen Ende her lesen zu wollen. Die wenigen Passagen, die sich direkt mit dem Krieg in der Ukraine befassen, sind leider diejenigen, die den geringsten Erkenntnisgewinn bringen. Und die von ihm behaupteten langen Linien der russischen Geschichte sollte man auch nicht ausgerechnet im desolaten Zustand der heutigen Invasionsarmee in der Ukraine enden lassen wollen, also in der üblichen Korruption und Schlamperei, wie sie sich seit jeher zu einem fatalen Bild Russlands verbacken hat.
Ein mitreißendes Buch
Zum aktuellen Krieg jedenfalls und dem Verständnis seiner vielfältigen Ursachen, trägt das nicht allzu viel bei. Was aber keineswegs für die gesamte Überblicksdarstellung dieser Geschichte Russlands gilt.
Figes hat ein kompaktes und in weiten Teilen mitreißendes Buch geschrieben, das dem interessierten Leser eine lebendige Anschauung davon gibt, was sich in diesem so hoffnungslos überdehnten, instabilen und zerklüfteten Riesenreich so alles ereignet hat; nach welchen Mustern diese russische Geschichte verlief und welche Herrschaftsmethoden sich immer wieder durchgesetzt haben.
Hier kommt Figes‘ unbestreitbares schriftstellerisches Talent wieder zum Tragen, und man legt das Buch am Ende mit dem Gefühl aus der Hand, doch etwas von diesem fremden und zugleich faszinierenden östlichen Nachbarland verstanden zu haben. Ob es dafür manch derber Anekdoten bedarf, wie der Erwähnung, dass Katharina die Große eben doch nicht beim Beischlaf mit einem Hengst verstorben sei, bleibt dahingestellt. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass Figes der alten Meistererzählung im Zweifelsfall den Vorzug gibt vor einer auf einzelne Probleme fokussierten Darstellung.
Wer sein Augenmerk weniger auf die Anekdoten als auf die Konstanten und Muster der russischen Geschichte richten will, der kommt an der entscheidenden Frage nicht vorbei, warum der Modernisierungsprozess in diesem Riesenreich immer wieder gescheitert ist und damit die Hoffnungen auf eine liberale, bürgerliche Gesellschaft, deren Ansätze unter Putins massiven Repressionen gerade wieder am Verkümmern sind. Entsprechende Versuche und Anläufe gab es in der russischen Geschichte ja immer wieder.
Doch wir erschrecken nicht nur über die totalitären Entwicklungen der letzten Jahre; was uns viel mehr noch entsetzt, ist die Rückkehr eines unverhohlen barbarischen Russlands und der Umstand, dass sich die heutigen Machteliten in Moskau nicht scheuen, ihr unzeitgemäßes Gesicht ganz unverblümt wieder zu zeigen.
Russlands kollektives Gedächtnis
Es ist noch gar nicht so lange her, da schien die alte, immer wiederkehrende Frage, ob Russland zu Europa gehört, wie selbstverständlich entschieden. Doch plötzlich sind die alten Gespenster wieder geweckt, regen sich die alten Ängste vor allem bei den unmittelbaren Anrainerstaaten der Polen oder der Balten.
Das ist der Tort, der Putin seinem eigenen Land angetan hat. Und der Umstand, dass wir heute von einer dritten russischen Emigration sprechen müssen, zeigt, wie viele derer, die heute das Land verlassen, das nicht anders sehen.
Ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch zur Erklärung solcher Entwicklungen ist sicher gewinnbringend; ganz unproblematisch ist er jedoch nicht. Denn er sieht sich der Herausforderung gegenüber, die Bilder der Fremdzuschreibung und der Selbstwahrnehmung voneinander zu trennen und dabei nicht der Suggestivkraft zu erliegen, die kollektiven Mythen so an sich haben.
Denn was lässt sich mit der tief ins kollektive Gedächtnis Russlands eingegrabenen Mongolenfurcht wirklich erklären? Welche Rolle spielt die inzwischen strittige Figur des heiligen Zaren für die russische Herrschaftsgeschichte? Oder die sagenhafte Welt des russischen Dorfs, die wohl mehr eine literarische Überhöhung der gesellschaftspolitischen Realitäten war, als dass sie einen besonderen Wesenszug in der russischen Seele offenbarten? Auch wenn ein solches Verständnis nicht ganz so abwegig ist, wie es die nüchterne Machtgeschichte heute insinuiert.
Aber da zeigt sich die Sollbruchstelle dieses Buches besonders deutlich. Der Basler Osteuropahistoriker Ulrich Schmid hat den Finger darauf gelegt, wenn er feststellt, dass „sich Figes über weite Strecken eben nicht wie angekündigt auf die Erzählung (story), sondern auf die Geschichte Russlands (history) konzentriert“ und im Grunde zu zeigen versucht, wie es wirklich gewesen ist. Diese Geschichte Russlands wäre womöglich plausibler geworden, wenn Figes sich konsequenter an den eigenen Vorsatz gehalten hätte, zu zeigen wie die russische Selbsterzählung den Gang der eigenen Geschichte beeinflusst hat, anstatt nach ursprünglichen Bindungen und Prägungen einer russischen Mentalität zu suchen, die sich am Ende doch nur als selbsterklärend erweisen. Und den Ukrainern zu attestieren, den alten Kampfesgeist der Kosaken noch immer im Blut zu haben, ist bestes Feuilleton; eine überzeugende Begründung für den ukrainischen Freiheitswillen ist es nicht.
Das Erbe der Kiewer Rus
Am Erbe der Kiewer Rus, das heute von der russischen wie der ukrainischen Seite gleichermaßen in Anspruch genommen wird, lässt sich der eminente Unterschied zwischen historischem Zusammenhang und erinnerungspolitischer Sinnstiftung besonders gut zeigen. Denn weder vereint die Kiewer Rus zum ersten Mal die späteren russischen Länder, noch stellt sie den Ausgangspunkt einer eigenen ukrainischen Nationalgeschichte dar. Heute stehen sich im russisch-ukrainischen Konflikt zwei Erinnerungsorte unversöhnlich gegenüber: das ältere Denkmal des Großfürsten Wladimir an den Ufern des Dnepr und das jüngere, das konkurrierende, das Putin 2016 in Moskau errichten ließ.
Mit dieser spektakulären Episode beginnt Figes übrigens seine Geschichte Russlands, und er beginnt sie bewusst mit dem russischen Narrativ. Wobei zur Pointe dazu gehört, dass auch das Kiewer Denkmal von 1851 eine ursprünglich russisch-imperiale Bedeutung besaß; die andere, die ukrainische Bedeutung, erlangt sie erst später. Aus ein und derselben Geschichte erwachsen zwei getrennte historische Narrative: Der Historiker Andreas Kappeler hat sie die ungleichen Brüder genannt. Es sind die nationalen Selbstbilder und Deutungsmuster, die gegeneinander in Stellung gebracht werden. Mit entsprechenden Konsequenzen. Das Denkmal für Katharina der Großen muss von seinem angestammten Platz in Odessa weichen und Wladimir wird zum Ahnherrn der Ukraine erklärt. Machtanspruch und Geschichtsbild sind auch dort kaum voneinander zu trennen.
Wobei auffällt, dass Putin die Begründung für seinen Angriffskrieg mehrfach gewechselt hat. Ging es ihm zu Anfang um die Gefahr der äußeren Einkreisung durch die Nato, so redet er heute ganz offen von der Notwendigkeit ethnischer Säuberungen und spricht der Ukraine inzwischen das Recht auf nationale Eigenständigkeit und Selbstbestimmung ab. Das ist insofern bemerkenswert, als es von neuem das alte Problem Russlands zeigt, sein nationales Selbstverständnis nur imperial denken zu können. Oder wie es der Osteuropahistoriker Manfred Hildermeier treffend formulierte: „Nationalbewusstsein war Reichsbewusstsein“.
Stolz und Identität Russlands
Dieser Spur, wie sich der Stolz und die Identität Russlands seiner imperialen Machtentfaltung verdankt, ist vor Jahren der Londoner Historiker Geoffrey Hosking gefolgt. Er sieht darin die eigentliche Ursache, warum das Entstehen einer modernen russischen Nation mit einer demokratischen bürgerlichen Gesellschaft bis heute gescheitert ist.
Womöglich wäre das auch eine Erklärung dafür, warum sich die Putinsche Aggressionspolitik mit einer derartigen Verbissenheit vor allem auf die Ukraine und damit den Süden des alten russischen Reichs richtet; jenen kolonialen Raum also, auf den sich früh schon die Expansion des Zarenreichs richtete und der in den Tagen Katharina II. und ihres Fürsten Potjomkin die Bezeichnung Neurussland bekam.
In dieser Region stehen sich – und das nicht erst seit heute – zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen von historischer Zusammengehörigkeit gegenüber: die russländisch imperiale und die ukrainische, die auf der Eigenständigkeit der ukrainischen Nation bestand. Es ist das alte Lied vom Reich und dem Freiheitswillen der kleineren Völker.
Das war nach dem Ende der Sowjetunion auch das besondere Handicap der verbliebenen russische Föderation. Sie konnte nicht auf ein vergleichbares nationales Selbstverständnis zurückgreifen wie die anderen abtrünnige Staaten. Sie war ein Restimperium, das sich plötzlich als Nationalstaat verstehen sollte.
Das ist wohl das tiefere Motiv dafür, warum Putin der Ukraine, aber letztlich auch Belarus den Charakter einer eigenständigen Nation abspricht und sie zum unverzichtbaren Teil der eigenen, der russländischen erklärt. Nicht die Wiederherstellung der alten Sowjetunion ist sein Bezugspunkt, sondern das russländische Zarenreich, dessen verlorenen Boden er wieder einsammeln möchte.
Die „Einsammler“ russischen Bodens
Aber dafür stand eben nicht die Erfahrung einer eigenen nationalen Identität, eines eigenen Prozesses der Nationswerdung zur Verfügung, sondern nur die Herrschaftsideologie des zaristischen Reichs, eines Vielvölkerstaats, der die Entwicklung zur Nation unterdrückte und der territorialen Ausdehnung den Vorrang gegenüber der nationalen Identität gab. Nationalbewusstsein war wie gesagt Reichsbewusstsein, oder wie Hildermeier es formuliert: „Rossija knebelte die Rus“. Das erklärt auch die Vorbildfunktion, die Herrscherfiguren wie Iwan IV., Peter der Große oder Katharina II. verkörpern. Sie waren die großen „Einsammler“ russischen Bodens.
Das macht auch die Schwierigkeiten aus, die langen Linien und überdauernden Muster der russischen Geschichte genauer zu bestimmen. Manches von dem, was Figes als Eigenart der russischen Geschichte beschreibt, sind viel mehr die tradierten Herrschaftsinstrumente der imperialen zaristischen Vergangenheit. Sehr viel präziser und überzeugender wird Figes deshalb immer dort, wo er über die realen Herrschaftsverhältnisse und tatsächlichen Machtstrukturen schreibt; wo er Ursachen findet, Gründe benennt und solides, unspektakuläres Geschichtshandwerk betreibt; was er über weite Strecken auch tut.
Doch dieser Autor liebt den ganz breiten Pinsel und mit ihm hat er unsere Ansichten von Russland seit langem schon wirkungsvoll koloriert. Ob es die Schilderung der von Terror und Angst überformten sowjetischen Gesellschaft war, wie in seinem sprichwörtlich gewordenen Buch „Die Flüsterer“; oder der imposante Versuch einer Kulturgeschichte Russlands („Nataschas Tanz“) oder die Beschreibung einer kosmopolitisch gewordenen russischen Gesellschaft, die durch die neue Eisenbahn mit der westlichen Welt plötzlich verbunden war („Die Europäer“) – viele dieser großen Panoramen Russlands, die heute in unseren populären Geschichtsgalerien hängen, hat Orlando Figes gemalt.
Putin, der unheilige Zar?
Mit seinem jüngsten Buch hat er im Grunde eine klassische Nationalgeschichte geschrieben, die von der Vorstellung eines einheitlichen historischen Raums und der entsprechenden kulturellen Kontinuität lebt. Er muss die Kritik seiner Fachkollegen keineswegs scheuen, wenn er nach der Wirkungsmacht kollektiver Mythen und ihrer erstaunlichen Dauerhaftigkeit im politischen Handeln fragt.
Ob man aber die russische Geschichte seit den Tagen des Kiewer Großfürsten Wladimir auf den Begriff autokratischer, um nicht zu sagen autoritärer Herrschaft verengen kann, die den Zaren überhöht und die Gesellschaft verkümmern lässt, ist strittig. Figes, so der Vorwurf von Stefan Plaggenborg bürste „die Geschichte Russlands in Richtung Autokratie“, was natürlich „Ausblendungen und Engführungen“ nach sich zöge, die dem Stand der Forschung nicht mehr entsprechen. Zum viel ernsteren Problem aber werde die „Fixierung auf eine politische Kultur der Macht“, die zwar die Heterogenität der Geschichte Russlands aufscheinen lasse, „sie aber nicht verstehend vermitteln kann“. Man könnte es auch deutlicher sagen: Putin in das Kontinuum einer bestimmten Machtausübung und Herrschaftsausübung zu stellen, würde ihn zum unheiligen Zaren machen, zum Fluchtpunkt einer heillosen Teleologie.
Doch auch hier gilt es zu unterscheiden, zwischen der historischen Erzählung, die Putin benutzt, und den historischen Ursachen für diesen Krieg. Die russische Geschichte darf nicht zur Vorgeschichte des Überfalls auf die Ukraine zusammenschrumpfen. Eine derartige Geschichtsklitterung hätte dieses Land gerade jetzt nicht verdient.