Zwangsehe mit dem großen Bruder

Die Ukraine und die Russen: Die Sowjetzeit vergiftet das Verhältnis bis heute

von Andreas Rüesch
Szenen einer Zwangsehe

„Eine freiwillige Vereinigung gleichberechtigter Völker“ – mit diesen ebenso pathetischen wie verlogenen Worten wurde am 30. Dezember 1922 die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) gegründet. Die im Moskauer Bolschoi-Theater versammelten Kommunistenführer bejubelten die „brüderliche Zusammenarbeit“ im sozialistischen Lager und sprachen von einem wichtigen Schritt hin zur Weltrevolution.

In Wirklichkeit konnte weder von Freiwilligkeit noch von Gleichberechtigung die Rede sein. Die Ukraine, um die es hier hauptsächlich geht, war gewaltsam in die neue Union geholt worden und erlebte die folgenden sieben Jahrzehnte bis zur Auflösung der Sowjetunion 1991 als Zeit unter der zentralstaatlichen Dominanz Moskaus.

Die Gründung der Sowjetunion markierte das Ende der kriegerischen Wirren nach dem Untergang des Zarenreichs und der Machtergreifung der kommunistischen Bolschewiki. In den Jahren seit 1917 hatte auch die Ukraine furchtbare Prüfungen durchlebt. In Kiew gab es in dieser Zeit nicht weniger als neun gewaltsame Machtwechsel. Viermal marschierte die Rote Armee in der Metropole am Dnipro ein, bis sich die Sowjetmacht durchsetzen konnte.

1920: Ende des ukrainischen Nationalstaats

Es bedeutete zugleich das Scheitern des ersten ukrainischen Nationalstaates, der Ukrainischen Volksrepublik, die nur von 1918 bis 1920 Bestand hatte. In der Sowjetzeit wurde dieser Staat totgeschwiegen, aber für die heutige Ukraine ist er ein wichtiger Bezugspunkt. So verwendet Kiew dieselbe Symbolik – die blau-gelbe Flagge und den Dreizack – wie jene kurzlebige Republik.

Doch was muss man sich überhaupt unter jenem Gebiet vorstellen, das vor hundert Jahren als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik der neuen Union „beitrat“?

Postkarten aus der Zeit um 1900 zeigen eindrückliche architektonische Zeugnisse aus Geschichte und damaliger Moderne: Die Sophienkathedrale in Kiew erinnerte an tausendjährige Wurzeln von Staatlichkeit und orthodox-christlicher Kultur. Die Hafenstadt Odessa wiederum strahlte mit der potemkinschen Treppe und ihrem neuen Opernhaus – konzipiert vom selben Wiener Architekturbüro wie die Zürcher Oper – westliche Urbanität aus.

Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die damalige Ukraine eine rückständige Region war. Laut der letzten Volkszählung der Zarenzeit lebten um die Jahrhundertwende 95 Prozent der Ukrainer auf dem Land und gingen agrarischen Tätigkeiten nach. Zeitgenössische Fotos dokumentieren die Armut der Dörfer.

Eine völlig andere Welt stellten die Städte dar. Sie wiesen keinen ukrainischen Charakter auf und hatten russisch geprägte Oberschichten. Die Bevölkerung Odessas beispielsweise setzte sich zur Hälfte aus Russen und zu einem Drittel aus Juden zusammen. Als Ukrainer bezeichneten sich nur neun Prozent der Einwohner.

Bemerkenswert war auch die Demografie in der Westukraine. Dabei handelt es sich um jenen Teil der Ukraine, der bis 1918 zum Habsburgerreich gehört hatte, danach mehrheitlich an Polen fiel und erst 1939 der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen wurde. Städte dieser Region, etwa Lemberg (Lwiw), besaßen vor hundert Jahren eine hauptsächlich polnische und jüdische Bevölkerung.

Blüte in der Sowjetzeit

Trotz dem Scheitern des ersten ukrainischen Nationalstaats und der Rückkehr unter die Oberhoheit Moskaus brachte die frühe Sowjetzeit in mancher Hinsicht eine Blüte hervor. Mit dem Ziel, einen neuen „Sowjetmenschen“ zu erschaffen, trieben die Kommunisten die Alphabetisierung der Bevölkerung voran. Der Anteil der schreibkundigen Ukrainer, der gegen Ende der Zarenzeit nur ein Fünftel betragen hatte, stieg bis 1926 auf das Doppelte.

Damit verbunden war eine energische Förderung der ukrainischen Sprache. Nachdem die zaristische Herrschaft deren Gebrauch noch verboten hatte, wurde Ukrainisch nun obligatorische Schulsprache. Ukrainische Bücher, vor der Revolution eine Seltenheit, dominierten plötzlich den Büchermarkt der Republik. Die Kommunisten reagierten so auf die Autonomiewünsche der Ukrainer. Allerdings war diese Politik nicht von Dauer; bereits in den dreißiger Jahren begann das Russische wieder zu dominieren.

Einschneidend war auch die neue Wirtschaftspolitik. Nachdem die Ukraine im 19. Jahrhundert von der Industrialisierung kaum erfasst worden war, förderte Moskau nun gigantische Industrieprojekte. Dazu zählte der 1927 begonnene Bau eines Wasserkraftwerks am Dnipro bei Saporischschja.

Der ostukrainische Donbass war landesweit mit Abstand der wichtigste Lieferant von Kohle. Der Bergarbeiter Alexei Stachanow, der in einer Mine in der heutigen Provinz Luhansk sein Plansoll angeblich um das 13-Fache übererfüllte, wurde zu einem Helden der Sowjetpropaganda und Vorbild für eine Kampagne zur Steigerung der industriellen Produktivität.

1929 beschloss die Sowjetführung unter Stalin die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Privatbesitz an Land, Geräten und Vieh wurde abgeschafft, Bauern hatten sich zu Kollektivbetrieben (Kolchosen) zusammenzuschliessen.

Dies ging einher mit einer Kampagne gegen die wohlhabenderen Bauern (Kulaken), die als Feinde der Revolution verunglimpft und erbarmungslos verfolgt wurden. Ein weiteres Opfer der Repression war die Kirche, die als Machtfaktor auf dem Land eliminiert wurde. Zugleich feierte die Sowjetpropaganda den Traktor als Symbol der neuen Ära in der Landwirtschaft. In der Realität allerdings blieb die Mechanisierung anfangs weit hinter den Zielen zurück.

Vielerorts kam es zu Revolten gegen die Verstaatlichung. Bauern gingen gegen Sowjetfunktionäre vor, schlachteten ihr Vieh oder flüchteten. Der Staat erstickte den Widerstand jedoch mit Gewalt und es kam nach der Missernte von 1931 zu Beschlagnahmungen. Die Folge war eine Hungersnot, der allein in der Ukraine rund vier Millionen Menschen zum Opfer fielen. Da die Regierung die Katastrophe bewusst verschärfte und einen eigentlichen Vernichtungsfeldzug führte, um ihre Macht auf dem Land durchzusetzen, sprechen die Ukrainer von Holodomor (Tötung durch Hunger) und sehen darin einen Genozid.

Unter der Okkupation der Nazis

Der Überfall Nazideutschlands 1941 brachte wenig später die nächste Heimsuchung. Nachdem Stalin zwei Jahre zuvor aufgrund seines Geheimpakts mit Hitler den Osten Polens und die heutige Westukraine an sich gerissen hatte, gelangte nun die gesamte Ukraine unter deutsche Okkupation. Sie war Brennpunkt zerstörerischer Kämpfe, bis die Wehrmacht 1944 abzog. Oft waren die militärischen Schauplätze dieselben wie 2022 im russisch-ukrainischen Krieg, darunter Kiew und die Übergänge an den Flüssen Donez und Dnipro.

Schätzungsweise sechs bis acht Millionen Einwohner der Sowjetukraine kamen ums Leben, bei einer Vorkriegsbevölkerung von rund 40 Millionen. Besonders grausame Verfolgungen durch die Nazis erlitten die Juden, zu erwähnen sind aber auch die vielen Todesopfer unter den Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern.

In der Darstellung der Sowjetpropaganda kämpften die Völker der UdSSR geeint gegen den äußeren Feind. Eine patriotische Welle war durchaus zu beobachten. Trotzdem blicken Russen und Ukrainer sehr unterschiedlich auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ zurück. Der Grund liegt darin, dass sich damals viele Ukrainer nicht mit einem, sondern gleich zwei tödlichen Feinden konfrontiert sahen – der Nazi- und der Sowjetdiktatur. Der Hass auf Letztere führte ukrainische Nationalisten zur Kollaboration mit den Besatzern, bis hin zur Teilnahme an der Judenverfolgung.

Dass Stalin ähnlich totalitär vorging wie Hitler, zeigte sich in der Deportation der gesamten krimtatarischen Bevölkerung und weiterer nichtslawischer Minderheiten. Besonders brutal waren die „Säuberungen“ in der Westukraine, wo nationalistische Partisanen noch bis in die Fünfzigerjahre Widerstand gegen die Sowjets leisteten. Die Einschätzungen über jene Rebellen gehen heute weit auseinander. In Moskau gelten sie als verräterische Faschisten, in Kiew werden sie trotz ihren Terrormethoden als Unabhängigkeitskämpfer gewürdigt.

Wiederaufbau nach dem Krieg

Die Nachkriegsjahre in der Sowjetukraine waren geprägt vom Wiederaufbau, von planwirtschaftlichen Großprojekten und dem Ausbau der Rüstungsindustrie im Zeichen des Kalten Kriegs. Die Entstalinisierung in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre brachte eine gewisse Liberalisierung, aber dem zentralistischen Diktat der Kommunistischen Partei blieb die Ukraine unterworfen.

Immerhin erhielt sie nun in Moskau mehr Gehör, da die ersten beiden Nachfolger Stalins an der Parteispitze beide aus der Ukraine stammten. Nikita Chruschtschow war zwar ein Russe, aber als Jugendlicher übersiedelte er in den Donbass, arbeitete dort anfangs als Bergarbeiter und war vor seinem Aufstieg in die Kremlführung Chef der ukrainischen Kommunisten. Sein Nachfolger Leonid Breschnew hatte russische und ukrainische Vorfahren und stammte aus der heutigen Provinz Dnipropetrowsk.

Die verbreitete Darstellung, dass die Übertragung der Halbinsel Krim von der russischen an die ukrainische Teilrepublik im Jahr 1954 ein Geschenk Chruschtschows an „seine“ Ukraine gewesen sei, ist jedoch stark simplifiziert. Der territoriale Transfer folgte primär einer administrativen Logik, da der gesamte Straßen- und Bahnverkehr mit der Krim über die Ukraine führte.

Propagandistisch wurde die Maßnahme eingebettet in das 300-Jahr-Jubiläum eines Abkommens von 1654: Damals hatten sich die Saporoger Kosaken dem Schutz des russischen Zaren unterstellt, was später zur „brüderlichen Vereinigung“ von Ukrainern und Russen stilisiert wurde.

Für die Bevölkerung der Krim war der Transfer im Alltag nicht spürbar. Die Bedeutung der Halbinsel als Sehnsuchtsort für Ferienreisende aus der UdSSR wuchs in den Nachkriegsjahrzehnten jedoch stetig.

Zwischen 1950 und 1980 nahm die Bevölkerung der Ukraine um gut ein Drittel zu, auf 50 Millionen Menschen. Die Sowjetrepublik war auch nicht mehr länger primär eine Agrarregion: Im Vergleich zur Vorkriegszeit stieg der Anteil der städtischen Bevölkerung bis 1980 fast auf das Doppelte, auf 60 Prozent. Die ukrainischen Städte wuchsen und erhielten durch die sowjetischen Planer ein völlig neues Gesicht.

Die Russifizierung der Ukraine

Aber nicht nur äußerlich wandelte sich das Land, auch die Zusammensetzung der Bevölkerung veränderte sich. Durch den Zustrom von Russen und die Russifizierung von Ukrainern dominierte die russische Sprache immer stärker. Die Ukrainer hatten sich als Teil des Sowjetblocks zudem den Weltmacht-Prioritäten Moskaus unterzuordnen. Konkret bedeutete dies die Vernachlässigung der Konsumgüterproduktion zugunsten von Investitionen in die Schwerindustrie, Rüstung und Prestigebereiche wie die Raumfahrt.

Auch nach Jahrzehnten des sozialistischen Aufbaus war der Alltag der Sowjetbürger von Mangel geprägt. Obwohl die Ukraine mit ihren fruchtbaren Schwarzerdeböden einst die Kornkammer des Zarenreiches gewesen war, musste die Sowjetunion wegen der Ineffizienz ihres Agrarsektors in den achtziger Jahren rekordhohe Getreidemengen importieren. Und obwohl die Plattenbauten der Großstädte in die Höhe schossen, mangelte es stets an Wohnraum. Die meisten Sowjetbürger mussten auch lange auf die Erfüllung ihres Traums von einem eigenen Kleinauto warten.

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden wirtschaftlichen Misere traf die Ukraine 1986 eine weitere von Menschen verursachte Katastrophe: Die Explosion eines Reaktors des Atomkraftwerks Tschernobyl führte zur Freisetzung von riesigen Mengen Radioaktivität. Weite Gebiete nördlich von Kiew und im benachbarten Weißrussland wurden verseucht. Zu den strahlenbedingten Todesfällen kamen gewaltige wirtschaftliche Schäden hinzu, da aufwendige Aufräumarbeiten nötig waren und größere Gebiete zu Sperrzonen erklärt werden mussten.

Die anfänglich von Desinformation und Schönfärberei geprägte Reaktion der Sowjetführung auf die Nuklearkatastrophe entlarvte ein weiteres Mal, welche Inkompetenz in der kommunistischen Führung herrschte und mit welcher Rücksichtslosigkeit Moskau der Bevölkerung in den Teilrepubliken begegnete. Dadurch erhielten auch in der Ukraine regimekritische Kräfte Auftrieb.

Anders als es der 1982 eingeweihte „Bogen der Völkerfreundschaft“ in Kiew symbolisieren sollte, war das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Russland und der Ukraine, somit keineswegs spannungsfrei. Das Bild von den untrennbaren „Brudervölkern“ sollte sich schon bald als Mythos erweisen.

Das Ende der Sowjetunion

Gegen Ende der achtziger Jahre häufte sich immer mehr Zündstoff an und brachte die Sowjetunion schließlich zum Einsturz. Schlecht durchdachte Reformen in der Ära Gorbatschow hatten das Gegenteil des Beabsichtigten zur Folge – die kriselnde Sowjetwirtschaft geriet in eine Abwärtsspirale. Selbst elementare Güter des täglichen Bedarfs verschwanden aus den Läden.

Inspiriert durch die Unabhängigkeitsbewegungen in den baltischen Teilrepubliken und ermutigt durch die von Gorbatschow ermöglichten politischen Freiräume, gewannen auch in der Ukraine die kritischen Debatten an Fahrt. Die 1989 von Intellektuellen gegründete prodemokratische Organisation Ruch wurde rasch zur Massenbewegung.

Als sie immer radikalere Forderungen erhob, darunter jene nach der Unabhängigkeit, sprangen Teile der kommunistischen Elite der Ukraine unter dem Parteifunktionär Leonid Krawtschuk auf den fahrenden Zug auf und emanzipierten sich von der Zentralregierung. Den gescheiterten Putsch reaktionärer KP-Führer in Moskau im August 1991 nahm Krawtschuk zum Anlass, die Unabhängigkeit auszurufen. Ein Referendum im Dezember bestätigte diesen Kurs, wobei alle Regionen zustimmten, selbst die Krim und der Donbass.

Die Ukraine hatte sich damit aus der erdrückenden Umarmung ihres großen Bruders gelöst. Dieser hat sich jedoch, wie die russische Militärintervention von 2014 und der Großangriff von 2022 zeigen, mit diesem Lauf der Geschichte noch nicht abgefunden.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 29.12.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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