Lukaschenko, Covid, Depressionen, Krieg

Alexandr Kornyshev, 48, Journalist, Witebsk: Wegen des Drucks der Silowiki aus Belarus geflüchtet

Flüchtete vor Lukaschenko: Alexander Kornyshev
"Die Leute mit anderen politischen Einstellungen haben Lukaschenko einfach satt." (Alexandr Kornyshev)

Ich bin Eigentümer und jetzt Chefredakteur der Website Witebski Kurier news. Das ist eine städtische lokale Website für die Bewohner von Witebsk. Ich habe Witebsk vor zwei Jahren wegen der zunehmenden Repressionen verlassen. Das war am 26. November, vor Neujahr. Ich bin wegen der Ereignisse von 2020 aus Belarus weggegangen, wegen der Revolution, die leider durch die staatliche Macht beendet wurde, die die Schrauben immer weiter anzog.

Ich arbeitete damals als Journalist, und ich nahm teil am gesellschaftlichen Leben. Die Organisation, bei der ich war, versuchte Menschen zu helfen, die in Minsk zu Schaden gekommen sind, wenn Meetings zerschlagen wurden. Es wurden Strafverfahren eingeleitet, der Leiter der Organisation wurde verhaftet, ich war sein Stellvertreter. Jeden Tag wartete ich darauf, dass ich auch verhaftet würde. Die Medien arbeiteten damals schon unter großen Schwierigkeiten, es bestand die Gefahr, dass der Zugang zu der Website und zum Hosting in falsche Hände geriet.

Ganz zu Anfang wollte ich nur für zwei Wochen fahren. Das sagt zuerst jeder. Dann nahm ein Untersuchungsführer über Telegram Kontakt zu mir auf, wo er mich gefunden hatte. Und mir wurde klar: Das ist jetzt nicht für zwei Wochen, auch nicht bis zum Jahresende, sondern für wesentlich länger.

Der Untersuchungsführer hatte mich kontaktiert zum Fall unserer Organisation, sie hieß „Die Alternative“. Er wollte mich vernehmen. Das war eine Vorladung nach Minsk vor das Untersuchungskomitee. Das Minsker Untersuchungskomitee, nicht das Witebsker. Ich erklärte mich einverstanden, mit ihm online zu sprechen. Sie überlegten sehr lange, wie man das machen kann, und wie lange das dauern würde. Sie fragten, wo ich mich konkret befand. Erst als sie verstanden, dass ich mich mit den Gesetzen ganz gut auskenne und ihnen nichts sagen würde, antworteten sie: „Kommen Sie nach Belarus, wir erwarten Sie.“ Sie warten immer noch. Vielen Dank, unsere belarussischen Bürgerrechtler haben mir in diesem Fall geholfen.

Das Coronavirus in Witebsk

Der Witebsker Kurier news ist, wie ich es sehe, eine Reinkarnation der Zeitung Witebsker Kurier, die ich als Kind gelesen habe, und die eine große Geschichte hat. Sie erschien seit 1906, dann wieder 1989. Sie hatte den Besitzer gewechselt. Nachdem die alte Website verkauft worden war, gründeten wir eine neue und fingen an zu arbeiten. Mit den alten Leuten und mit dem Material, das wir von der alten Website nahmen, denn die Autoren waren ja alle bei uns. Das gab Kontinuität. Wir starteten 2020 und waren sehr froh, denn zu der Zeit konnte nicht jeder so ein Projekt beginnen. Dann kam Covid. Alle Leute, die offline gearbeitet hatten, bekamen zusätzliche Möglichkeiten. Sie arbeiteten jetzt zuhause.

In Witebsk gibt es eine gute Schuhindustrie. Und die Besitzer einer Firma fuhren nach Mailand zu einer Schuhmesse, die aber in dem Jahr gar nicht stattfand. In Europa gab es schon Covid, und so brachten sie es zu uns. Das war die Schuhfirma „Marko“, eine private Schuhfabrik.

In Witebsk brach es zuerst aus. Es gab sogar Gerüchte, vielleicht sind es auch keine Gerüchte, dass man die Stadt absperren würde, damit die Leute nicht rauskonnten. Dabei war das Lukaschenko herzlich egal. Ihm lag nur daran, dass es keine Panik gab. Schwer zu sagen, was ihn umtrieb, als er beschloss, das alles auf die leichte Schulter zu nehmen, und die Ärzte, die die Menschen retteten, mit dem Problem allein zu lassen.

KARENINA-Serie
Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Dann wurde die Gesellschaft aktiv. Es gab eine enorme Hilfsbereitschaft, die sich auch später während der Revolution bewährte. Die Menschen begannen, Geld, Masken und irgendwas mit Sauerstoff zu sammeln, irgendwelche Medizintechnik. Die Gaststätten machten Essen für die Ärzte.

Covid nahm die Proteste von 2020 vorweg

Eines schönen Tages war die Stadt leer, weil die Menschen Angst hatten, aus dem Haus zu gehen. Denn es war beängstigend – viele Angehörige lagen schon in den Krankenhäusern. Dann zogen die Brigaden von Haus zu Haus, sie desinfizierten die Treppenhäuser, die Straßen wurden chemisch gereinigt.

Unsere Zeitung war sehr gefragt, wir gaben den Leuten Informationen. Einer unserer Journalisten war an Covid erkrankt, er berichtete direkt aus dem Krankenhaus, wie das alles ablief. Das war interessant. In gewissem Maße, obwohl es natürlich schrecklich war, freuten wir uns über diesen Informationsanlass.

Nach den Wahlen: Willkür der Miliz

Ich mag das Wort Revolution nicht. Das war die Reaktion der Menschen auf eine konkrete unverhohlene Lüge. Covid hatte die Lage vorab aufgeheizt. Die Menschen verstanden, dass die Staatsmacht sie nach dem Prinzip behandelt: „Dann werden halt neue geboren, und so haben wir wenigstens nicht so viele Rentner.“

Die Menschen lernten, einander zu helfen. Ich denke, dass die späteren Proteste in direktem Zusammenhang zu Covid stehen. Die horizontalen Verbindungen waren stark, und natürlich blieben sie aktiv. Zuerst hatten die Menschen Geld für Covid gesammelt, dann fingen sie an, für die Repressierten zu sammeln, und das tun sie immer noch. Damals schien uns, dass sogar die Regierung in Russland zurechnungsfähiger sei (jetzt klingt das ziemlich komisch), weil sie wenigsten etwas taten.

Lukaschenko redet schlecht über die Menschen

Im Ideal ist der Staat für sein Volk verantwortlich und muss gewählt werden. Aber weder in Belarus noch in Russland ist das so. Die kritische Masse der Menschen hat verstanden, dass man die Macht austauschen muss, dass sie uns nicht mehr passt. Lukaschenko redete schlecht über die Menschen.

Ein bekannter Schauspieler aus Witebsk, der schon in Rente war, war zu seinen Proben gegangen und starb dann an Covid. Das war ein Mann mit bedeutenden staatlichen Auszeichnungen. Zu seinem Tod sagte Lukaschenko: „Wieso ist er denn überhaupt da hingegangen? Er ist selbst schuld!“ Die Leute mit anderen politischen Einstellungen haben das alles einfach satt.

Wahltag: Die OMON prügelt die Leute

Am Tag der Wahl haben wir darüber berichtet, alles war in Ordnung. Ich fuhr zum Wahllokal, legte ein weißes Band an und faltete meinen Stimmzettel zu einer Ziehharmonika (Die Anhänger von Swetlana Tichanowskaja machten das so als Erkennungszeichen; Red.), und ich machte Fotos, alles wie es sich gehört. Anschließend brachte ich meine Eltern zum Wählen. Dann verschwand das Internet, man hat es gesperrt. Alle Beobachter und die Wahlkommission wurden in Polizeitransporter verfrachtet.

Es begann die Willkür. Auf den Straßen wütete die OMON. Wie sich später herausstellte, war es nicht einmal die aus Witebsk. Man hat sie ausgetauscht, fremde Leute zu verprügeln fällt leichter. Sie liefen einfach herum und verprügelten jeden, der ihnen begegnete. Bei uns wurden alle Medienressourcen blockiert.

Dann wurde das Internet wieder eingeschaltet, und es begannen die Märsche. Die Silowiki beruhigten sich ein wenig. Wir hatten einen großen Marsch, der ganze Platz war voller rot-weißer Flaggen. So etwas hatte es noch nie gegeben, nicht einmal am ersten Mai. Es wirkte sogar ein wenig feierlich. Aber es war klar, dass diese Schönheit trügerisch war, denn der Feind lag auf der Lauer und wartete. Dabei gab es wenig Miliz, und die, die da waren, waren nicht einmal bewaffnet. Vielleicht war das eine Art Spiel. Wir berichteten live über alles. Es gab sehr viele Protestierende, aber nicht die große Anzahl, die „das Rückgrat bricht“. Die Silowiki behielten ihre Stellen, denn dort gibt es Stabilität und gutes Geld.

„Bald ist keiner mehr da zum Verhaften“

Einmal wurde ich festgenommen. Ich unterschrieb ein Papier, in dem ich mich verpflichtete, nicht an verbotenen Meetings teilzunehmen. Eine unserer Journalistinnen wurde festgenommen. Wir versuchten zu agieren, so gut wir konnten. Es kam zu ein wenig Selbstzensur. Das Möglichkeitsfenster ging immer weiter zu, einige „saßen“ schon, anderen fuhren weg, manche hatten was „über die Rübe“ bekommen. Allmählich ging es aufs Ende zu. Uns rührten sie nicht an, weil wir zu klein waren, und wir waren nicht die einzigen. Es gab noch die föderalen Medien, die ein größeres Publikum hatten.

Er gab die ersten vereinzelten Verhaftungen. Das ist eine schlaue Taktik. Es gibt viele, die immer noch dagegen sind. Aber die, die dort geblieben sind, denke ich, haben jetzt das „Stockholmer Syndrom“ und einfach Angst. Wenn man nichts machen kann.

Es sind jetzt mehr als zwei Jahre vergangen, aber die Repressionen gehen weiter. Bald ist keiner mehr da, den man verhaften kann.

Flucht in die Ukraine

Ich bin weggegangen, weil die Gefahr bestand, dass sie kommen und alle verhaften. Dass sie mich demnächst wegen anderer Sachen verhaften.

Ich habe alles detailliert geplant. Ich fuhr am Freitag, und am Montag wurde ich zum Untersuchungsführer bestellt. Ich hatte kein Schengenvisum, die einzige Möglichkeit war, in die Ukraine auszureisen, ich habe Freunde in Kiew. Ich dachte, ich bleibe für ein paar Wochen bei ihnen, über Sylvester. Ich wusste, dass es in Kiew schön ist, dort gibt es einen Tannenbaum, und man kann seinen Freunden und Verwandten Geschenke mitbringen.

Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass ich ein wenig abwarte und gleichzeitig ein wenig Urlaub mache. Ich blieb in Kiew und richtete mich häuslich ein. Wir arbeiteten weiterhin auf Distanz.

In Kiew hatte ich dreimal Covid. Das letzte Mal war meine Lungenfunktion eingeschränkt, mehr als 35 Prozent. Ohne normale Krankenversicherung und in dem Moment praktisch schon als Illegaler. Ich hatte eine Covid-bedingte Lungenentzündung. Dank an die ukrainischen Ärzte, sie haben mich da rausgeholt. De facto haben sie mir das Leben gerettet.

Danach hatte ich drei Monate lang ein Post-Covid-Syndrom: Mein rechter Arm war geschwollen und schmerzte stark. Die Knochen taten mir weh. Ich kann immer noch nicht richtig scheiben.

„Nach Covid und Revolution begann der Krieg“

Ich hatte auch zeitweise Depressionen. Als ich dann nach Neujahr allmählich wieder auf die Beine kam, begann der Krieg.

Wenn mich früher jemand nach meiner Meinung fragte, sagte ich, Putin ist ein Scheißkerl, aber er hat intellektuelle Fähigkeiten. Taktische, strategische. Ich dachte, er rechnet sich aus, dass es viel vorteilhafter für ihn ist, keinen Krieg anzufangen, sondern die Erpressung an der Grenze fortzusetzen. Aber wie sich zeigte, lag ich mit meinen Berechnungen falsch. Der Krieg begann. Ich dachte, ich bleibe und verteidige Kiew. Ich hörte die Schüsse, es flogen Raketen, Flugzeuge, man hörte es nachts, morgens, am Tag. Als das in Hostomel passierte, befand ich mich bei Babyn Jar. Nach meiner Abreise schlugen dort Raketen ein.

Von Kiew nach Lwiw

Mein Freund und ich gelangten unter abenteuerlichen Umständen nach Lwiw. Überall Panik. Wir kamen erst mit dem dritten Zug weg. Alle dachten, Kiew wird eingekesselt. In meinem Fall hieß das, entweder sofort ins Gefängnis oder das Haus, in dem man wohnt, bis zur letzten Patrone verteidigen.

Aber ich denke, da ich keine Papiere hatte, hätte mich gleich die erste ukrainische Patrouille einkassiert. Sie konnten ja nicht wissen, was ich für einer bin, noch dazu einer aus Belarus, und Kiew war ja gerade von unserm Land aus angegriffen worden. Damals hat niemand gefragt, was du arbeitest und was du früher gedacht hast. Aber die russische Sprache hat uns verraten.

Ich versuchte, ein Gemisch aus Ukrainisch, Russisch und Belarussisch zu sprechen. Ich zeigte den Leuten, bei denen wir in Lwiw untergekommen waren, unsere Website. Sie prüften, ob wir nicht etwa Spione waren. Auf der Straße wurden wir von den Einwohnern angehalten und nach unseren Papieren gefragt. Das war in gewisser Weise eine Panik, aber eine gute Panik. So ein Volk ist sehr schwer zu besiegen, das sich gleich am ersten Tag selbst organisiert und Patrouillen aufstellt, während die Staatsmacht noch darüber nachdenkt. In jeder Straße gab es einen eigenen Kontrollposten.

In dieser Zeit hatte unsere Redaktion aus Sicherheitsgründen die Arbeit eingestellt. Ich war kategorisch gegen eine totale Selbstzensur, lieber sollte man dann gar nichts tun. Denn über die städtischen Neuigkeiten kann jede Zeitung schreiben, wir aber brachten Informationen von allen Seiten. Wir konnten nicht nur darüber schreiben, dass es zum Beispiel wieder warmes Wasser gab.

Es hatte keinen Sinn, länger in Lwiw zu bleiben. Es war schwierig für Belarussen. Im Hotel brachte man uns in einem Zimmer unter, dessen Fenster nicht auf die Straße gingen, ich nehme an, damit wir nicht beobachten konnten, was dort passiert.

„Ich möchte etwas Nützliches tun“

Deshalb fuhren mein Freund und ich mit dem Bus nach Polen. Dort übernachteten wir, und ich fuhr allein nach Deutschland weiter. Ich fuhr zum deutsch-polnischen Kulturzentrum. Das ist eine Burg, irgendein antiker Bau. Es befindet sich nicht weit von der Grenze. Dort wohnten wir, und ich versuchte, von dort aus zu arbeiten.

Ich will die Arbeit an der Website Witebski Kurier news fortsetzen, wie auch immer. Wir bekommen jetzt Unterstützung. Es gibt ein kleines Team, sogar ein paar Leute aus Witebsk. Wir haben einen neuen Anlauf genommen und arbeiten schon seit zwei Monaten.

Ich bin jetzt auf einer großen „kreativen Dienstreise“. Ich bin auch deshalb in Deutschland gelandet, weil ich Deutscher bin. Ich habe deutsche Wurzeln. Deshalb bin ich dort und hier zu Hause. Nur in meinem dortigen Zuhause brennt es jetzt, und es ist gefährlich. Ich möchte dort nicht hinfahren und ins Gefängnis gehen. Das ist sinnlos und nützt niemandem. Lieber dort leben, wo man etwas Nützliches für sich und andere tun kann.

Ich werde von der „kreativen Dienstreise“ zurückkehren, wenn sie zu Ende ist. Das Datum ist noch offen. Mein Planungshorizont reicht derzeit nur für zwei Wochen.

Mit Alexandr Kornyshev sprach Tatiana Firsova am 1.12.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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