Russland: Lösungen suchen, nicht Schuldige
Wie mit Russland umgehen? Kommunizieren und kooperieren statt den Kipppunkt überschreiten
„Was tun?“ lautet der ein historisches Schicksal auslösende Titel des Romans von Nikolai Tschernyschewski vor etwas mehr als 150 Jahren. Vladimir I. Lenin soll daraus grundlegend für seine späteren revolutionären und innerrussischen blutigen Weg inspiriert worden sein.
Wie sollen oder können wir heute mit Russland, einem Land mit dieser Größe, dem kulturellen Reichtum, den belebenden menschlichen Wesen, traumhaften Landschaften, Ressourcen und imperialer Macht umgehen? Allein die Frage konnotiert schon missionarisch und wie überkritische und zur Grandiosität neigende Eltern.
Gerade von deutscher Seite hören und lesen wir oft belehrende, herablassende und normativen Forderungen gegenüber Russland. Menschliche und fachliche Fehlleistungen führender deutscher Politikerinnen und Politiker oder eine chaotische Wahl bieten andererseits eine offene Glaubwürdigkeits- und Akzeptanzflanke für die russische Seite.
Wohl der großen Zahl geht vor Hypermoral
Auch wenn Menschen das Gute begehren, lieben und geliebt werden wollen: Die idealistische Überhöhung von moralischen, ethischen und zu großen politischen Ansprüchen, eine Hypermoral, überfordert die Kompetenzen der Menschen und deren Möglichkeiten. „Das meiste Übel dieser Welt ist nicht … auf böse Absichten, sondern auf die bösen Folgen eines unbegrenzten Willens zum Guten zurückzuführen“, schrieb schon 1971 Gerhard Szczesny über das Unvermögen der Ideologen in der Politik.
Auch die sogenannte akademische Elite, die aller Welt mit einer unbeabsichtigten Intoleranz ihre Wertvorstellungen auch mit Cancel Culture aufdrängen will, erreicht jetzt schon in vielen Ländern mit großer Energie, was sie nicht will. Besser sollten wir pragmatisch menschlich das größte mögliche Wohl der größtmöglichen Zahl der einzelnen Menschen (nach John Rawls) beider Länder im Blick haben – nicht die Profilierung von Politikern, den Erfolg von Parteien oder die Grandiosität von Kollektiven jeglicher Art.
Neuverteilung der Welt: Wie weiter mit Russland?
Spätestens seit der Finanzkrise 2008 spüren wir, dass erstmalig in der Menschheitsgeschichte die Welt neu aufgeteilt wird. Faszinierte uns Amerika in seiner Geschichte mit dem Narrativ für Neuheit, Aufbruch, Idealen von Freiheit, Selbstverwirklichung, Selbstverantwortung und Selbstvertrauen, so erleben wir derzeit ein Amerika in der Bandbreite von Isolierung, Zweifel am Glauben an sich selbst bis zur Auflösung der Pax Americana.
Das aktuelle Narrativ von China stützt sich auf die Theorie des Tianxia als Richtschnur der Möglichkeit eines neuen weltweiten Miteinanders und deren Umsetzung der Moulüe als eine Supraplanung, die bis 2049 die Weltmarktführerschaft generieren soll.
Und wo steht Europa mit wem? Jedenfalls scheint alles auf eine neue Weltordnung zuzulaufen.
Da brauchen wir derzeit keine weitere Polarisierung von Russlandverstehern und Russlandnichtverstehern. Es helfen auch keine Illusionen oder Vorurteile in unseren Auseinandersetzungen, sondern wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse mit dem Respekt gegenüber Russland und über realistische Möglichkeiten einer friedlichen und wertvollen Koexistenz. Elitäre Luftwurzeln ohne den soliden Humus lassen in den russischen Wäldern kein frisches und junges Unterholz gedeihen.
Ohne Russland kann es keinen Frieden geben
Die derzeitigen Krisen sind jedoch nicht nur Probleme, sondern vor allem Chancen. Nach der Bundestagswahl in Deutschland können wir uns nun im Geiste des Gedichts „Stufen“ von Hermann Hesse von den alten Ritualen verabschieden und neu gemeinsam beginnen, „um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andere, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
Nun sind wir Menschen die einzigen Lebewesen, die mit jedem Menschen zu jeder Zeit und überall kommunizieren und kooperieren können, wenn wir es nur wollen. Heute können wir das so leicht via Zoom.
Was also tun, ohne wie bei Tschernyschewsky bei der Oktoberrevolution zu landen oder die heutigen destruktiven Konflikte weiter zu pflegen? Wenn nämlich der politische Kipppunkt überschritten ist, kann eine kleine Kränkung eine Schadensspirale auslösen, die niemand will. Denn wie Helmut Schmidt am 26. November 2014 noch schrieb: „Ohne Russland kann es in Europa keinen Frieden geben.“
Wir müssen im Sinn des Gedichts von Hermann Hesse nicht auf den alten Stufen der möglichen Fehlverhalten beider Länder verharren.
Respekt und redliche Mitmenschlichkeit
Mag sein, dass Russland seit einigen Jahren dem Narrativ folgt: Neo-Imperialismus nach innen und außen, konkludent stützende russische Orthodoxie mit dem Fokus auf Bewahrung einer „russischen Kultur“, kritische Sicht der westlichen individualisierten Zivilgesellschaft sowie Eurasismus bzw. Russia-Asia-Plan. Nun können politische Verantwortliche der Staaten den Streit über unterschiedliche Weltbilder austragen, aber nicht über kaum wirksame Sanktionen und Sprachlosigkeit zulasten der Menschen in beiden Ländern.
So mag denn das russische Sprichwort „Gehe nicht mit deinen Regeln in ein fremdes Kloster“ eine grundlegende Orientierung für einen Umgang mit Respekt, Anerkennung, Aufmerksamkeit und Toleranz sein. Deutschland braucht sich weder anbiedern noch aggressiv verhalten, sondern für seine Interessen mit Selbstvertrauen für bessere Problemlösungen arbeiten, ohne gegen die Interessen anderer Länder zu sein.
Das ist dann eine Basis für eine spezielle Art von Coopetition im Verhältnis zu Russland als pragmatische Win-Win-Strategie.
Coopetition: Partnerschaft im Wettbewerb
Dieser Weg orientiert sich an den großen Bedürfnissen der Menschen nach Sicherheit, Entfaltungsmöglichkeiten und Stolz. Coopetition bedeutet Kooperation, wenn und wo es möglich ist, zum Beispiel in Wissenschaft und Bildung, Gesundheit, Wirtschaft, Jugendaustausch, Kultur, Umwelt und Energie.
Zusammenarbeit ist auch notwendig in der Auseinandersetzung mit dem pseudo-religiösen Radikalismus gegen säkulare Weltordnungen und alle Arten von Terrorismus und weltanschaulichen Zivilisationskonflikten. Konkurrenz bedeutet die kreative und kritisch rationale Suche nach besseren Problemlösungen für die Menschen über die Leistungsfähigkeit von besseren Wirtschaftsordnungen, Gesellschaftsordnungen und Leistungen in Forschung und technischem Fortschritt.
In Anlehnung an Gedanken wie schon einst von Aristoteles bis heute von Friedemann Schulz von Thun dargelegt, tragen dazu vier operativ wirksame Handlungsstränge bei:
- Vertrauen bei Vorsicht
Ohne Vertrauen als in die Zukunft gerichtete Investitionen ist keine gedeihliche Entwicklung zwischen den Ländern möglich. Vertrauen reduziert die vielfältigen Komplexitäten, die Unsicherheiten und die nicht kalkulierbaren Risiken zwischen den Ländern. Vertrauen heißt aber begründete Verlässlichkeit bei der nötigen Vorsicht. Da ist für Naivität kein Platz.
Nun darf aber auch die Vorsicht nicht als paranoides Misstrauen die Partnerschaft blockieren. Insofern müssen misstrauische Menschen auch Vertrauen lernen und erarbeiten im permanenten Umgang und Austausch.
- Akzeptanz bei Konfrontation
Partner respektieren und akzeptieren einander, ohne alles naiv zu tolerieren. Akzeptierung braucht Offenheit und die Konfrontation bei offensichtlich vorliegendem Dissens. Aber Konfrontation darf nicht zur Missachtung bis zu feindseliger Vernichtung verkommen. Ebenso bedeutet Akzeptierung nicht „Friedhöflichkeit“, sondern die Fähigkeit in der Konfrontation mit der Kunst der Dialogik als der Kompetenz, aufmerksam und empfänglich zuzuhören und empathisch zu kommunizieren.
- Verbundenheit bei Unabhängigkeit
Partnerschaft gründet auf einer inneren Verbundenheit bei gleichzeitiger innerer Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Die Unabhängigkeit darf aber nicht in ein schizoides Verhalten oder gar in die Isolierung abdriften. Eigenständigkeit muss die Verbundenheit auch täglich leben, indem wir gemeinsam nach den besseren Lösungen und nicht nach Schuldigen suchen. Ebenso sind einseitige Unterwerfung oder symbiotische Verschmelzung in der Kooperation keine echte Verbundenheit.
- Konzept bei Flexibilität
Auf diesen drei Beinen ist das vierte Coopetition-Bein leicht zu gestalten. Die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland braucht nun noch ein klares Konzept, einen Fahrplan als eine diskursive im Konsens gemeinsam entwickelte politische Roadmap.
Ein tragfähiges Konzept gründet auf tiefen und breiten Kenntnissen der jeweiligen Länder, gemeinsamen Zielvereinbarungen, effektiven Strategien und wirksamen Maßnahmen und deren Steuerung bei der Umsetzung. Diese politischen Leitlinien implizieren im Tagesgeschäft dennoch Flexibilität, Agilität und Schnelligkeit.
Starre zwanghafte Reglementierungen, bei denen jede Seite beckmesserisch auf die Einhaltung von sophistischen Spitzfindigkeiten setzt, oder hysterischer Aktivismus sind fehl am Platz. Eine robuste Roadmap verfügt dann auch über die genügende Resilienz gegenüber möglichen Störfaktoren.
Der Erfolg ist möglich und nah
Gerade jetzt ist das politische Situationspotenzial günstig in einer Welt, in der die Nationen sich mehr denn je gegenseitig brauchen, um die großen Fragen von Frieden, Klimawandel, Digitalisierung, Wissenschaft und Fortschritt kooperativ zu lösen. Vertrauen, Verbundenheit und gegenseitige Akzeptierung sind die Grundlagen eines fundierten konzeptionellen Fahrplans in eine gute gemeinsame Zukunft.
Dazu gehören auch Menschen, welche die vier Ebenen mit positiver Macht (vor-)leben. Dann müssen wir nicht wie Tatjana am Ende des großen Versromans von Alexander Puschkin klagen: „Aber das Glück war möglich und es war doch so nah.“