Außenpolitik

Russlands Wende zu sich selbst

Moskau ist zurück auf der Weltbühne und handelt nur noch nach eigenen Interessen

Präsident Putin verfolgte seit 1999 zwei große Ziele: die Einheit Russlands bewahren und den Status als Großmacht wiederherstellen. Er war dabei erfolgreich. Die Zentralregierung hat sich in der gesamten Russischen Födera­tion fest etabliert. Russland, das um die Jahrtausendwende international fast abgeschrieben war, kehrte als Großmacht in die globale Arena zurück.

Die Erfolge sind unbestreitbar, aber sie waren nicht billig zu haben. Der Aufbau der Machtvertikalen in Russland erfolgte autoritär, was schon traditionell ist. Das politische Regime entwickelte sich jedoch nicht zu einem vollwertigen Staat: Es dient den Interessen einer zahlenmäßig geringen Elite, welche die Res­sourcen des Lands für persönliche und Gruppenzwecke nutzte. Angesichts des allmählichen, aber spürbaren Wachstums des bürgerlichen Bewusstseins der Russen wird dies in Zukunft zu ernsthaften Problemen führen.

Die Re-Etablierung Russlands als Großmacht war mit einer erneuten Konfrontation mit den USA verbunden, was einen langen und ungleichen Kampf erwarten lässt.

Putins Außenpolitik entwickelte sich komplex und auch widersprüchlich. Sie änderte sich dabei mehr als nur einmal. Im Jahr 2000 drängte Putin auf eine NATO-Mitgliedschaft für Russland; 2001 erwartete er, der wichtigste Verbündete der USA zu werden, und befahl, die US-Truppen in Afghanis­tan zu unterstützen. Putin wollte ein „Europa von Lissabon bis Wladiwostok“ und betonte im deutschen Bundestag die europäische Ausrichtung Russlands.

Was hat Putin erreicht?

Es ist offensichtlich, die Ära Putin geht dem Ende entgegen. Zwar hat Putin noch mehr als drei Jahre im Amt, und er kann bei den Präsidentenwahlen in den Jahren 2024 und 2030 noch einmal kandidieren. Aber trotz allem: Eine Ära nähert sich ihrem Ende. Deshalb ist eine Bilanz der letzten 20 Jahre heute möglich und sinnvoll. Was wurde erreicht, wo scheiterte man? Was bleibt und was muss geändert werden?

WeltTrends

Dieser Beitrag ist erschienen in der Ausgabe Februar 2021 des außenpolitischen Journals WeltTrends.

Potsdamer Wissenschaftsverlag
72 Seiten
Zeitschrift
5,80 Euro
ISBN 0944-8101 (ISSN)
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Erstens wurde unter Putin die Souveränität Russlands wiederhergestellt. Der rasche Anstieg der Ölpreise in den 2000er-Jahren ermöglichte es, auf einer neuen kapitalistischen Basis, die in den 1990er-Jahren geschaffen worden war, zum Wirtschaftswachstum überzugehen und sich von externer finanzieller Abhängigkeit zu befreien. Die Verstaatlichung eines großen Teils der Ölindustrie bildete die Grundlage für eine koordinierte Energie­politik. Die Reform der Streitkräfte in der ersten Hälfte der 2010er-Jahre gab dem Kreml ein wirksames Instrument zum Schutz und zur Förderung der staatlichen Interessen des Landes. Die ungebro­chene Unterstützung Putins durch die Mehrheit der Bevölkerung brachte Stabilität für die Regierung.

Zweitens hat Russland zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Status einer Großmacht zurückerlangt. Die Versuche, in den 1990er- und 2000er-Jah­ren einen autonomen Status innerhalb des US-zentrierten euroatlantischen Systems zu erreichen, scheiterten. Die russische Elite und die Gesellschaft akzeptierten die US-Führung nicht – notwen­dige Voraussetzung für die Integration in das westliche System.

Russland gelang es auch nicht, ein eigenes Machtzentrum in Eurasien aufzubauen, weil die Führer der ehemaligen Sowjetrepubliken nicht bereit waren, Moskaus Dominanz anzuerkennen. Für Russland, ein Land, das sowohl unabhängig als auch einsam ist, ist der Status einer Großmacht eine Notwendigkeit.

Vorläufige russischen Asienpolitik

Das Scheitern dieser beiden Integrationen zwang Putin in der zwei­ten Hälfte der 2010er-Jahre zu einer scharfen Wende. Äußerlich sah es nach einer Bewegung von Europa nach Eurasien aus, die als Hinwen­dung nach Osten, insbesondere nach China, wahrgenommen wurde. Tatsächlich war es eine Wende Russlands zu sich selbst, die Suche nach einem stabilen Ruhepol, der in einem sich schnell verändern­den globalen Umfeld Stabilität ermöglicht.

Die gegenwärtige Selbst­bestimmung Russlands ist die Behauptung einer unabhängigen Größe, die sich im Norden des eurasischen Kontinents befindet und direkt an Ost- und Zentralasien, Europa, den Nahen und Mittleren Osten sowie Nordamerika angrenzt. Moskau ist nicht mehr in eine Richtung ausgerichtet, nach Europa, in die USA oder nach China. Russland hat Beziehungen mit seinen vielen Nachbarn und lässt sich nur von eige­nen Interessen leiten.

Bereits vor der Konfrontation zwischen Russland und den USA und der gegenseitigen Entfremdung mit der EU erlangte die östliche Richtung der Außenpolitik unter Putin Bedeutung. Einerseits war die Hinwendung nach Osten eine Folge des generellen Aufstiegs von Asien in der Weltwirt­schaft.

Andererseits war Moskau gezwungen, seine Schwäche im Osten seines Landes zu berücksichtigen. Aufgrund dieser Überlegungen unter­nahm Putin in den 2000er-Jahren große Anstrengungen, um das Problem der Grenze zu China endgültig zu lösen und eine produktive Partnerschaft mit Peking aufzubauen.

Unter Putin begann eine „vorläufige russischen Asienpolitik“. Neben der bündnisähnlichen Partnerschaft mit China versuchte er, die Bezie­hungen zu Indien als einer Großmacht in Asien sowie einem traditio­nellen Partner Russlands auszubauen; er suchte Japan und Südkorea als Ressourcen für Technologieimporte und Investitionen und er sah die ASEAN-Länder als wachsenden Markt.

Die postsowjetische Wirtschafts­integration, die sich seit 2009 innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) intensivierte, erhielt einen zentralasiatischen Akzent. Bilate­rale Beziehungen und multilaterale Formate – im Rahmen der Shanghai Cooperation Organization, BRICS und RIC (Russland, Indien, China) – haben Bedingungen geschaffen, unter denen Russland, obwohl es nicht der größte und dominierende Akteur ist, auch mit mächtigeren Ländern ein Gleichgewicht herstellen kann.

Russlands neue Rolle im Nahen und Mittleren Osten

Die neue Qualität der russischen Außenpolitik zeigte sich am deutlichsten im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere mit der Militäroperation in Syrien seit 2015. Moskau nimmt hier eine einzigartige Position ein: Man hat Kontakte mit allen wich­tigen Kräften in der Region, einschließlich dem Iran und Israel.

Mit relativ geringem Einsatz und mit begrenzten Verlusten hat Russland dort seine Ziele erreicht. Zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der UdSSR wurde Moskau in der Region wieder als Akteur wahrgenommen. Das Geheimnis dieses Erfolgs: Moskau hat sein Handeln ausschließlich nach seinen Interessen und nicht nach Ideologien oder Interessen anderer ausgerichtet. Hinzu kommt, dass man nicht ande­ren Ländern ein politisches Modell aufzwingen wollte und fähig war, auf der Grundlage lokaler Realitäten zu handeln.

Syrien und der Nahe Osten insgesamt sind zu einem Signal geworden, dass Russland auf die Weltbühne zurückgekehrt ist und ein global player von anderer Qualität als die UdSSR sein wird. Statt enorme Anstrengun­gen zu unternehmen, um sein Modell auf andere auszudehnen, sucht Mos­kau heute Nischen, die es nutzen kann. Man exportiert Energie, Waffen, Kernenergietechnologien und Nahrungsmittel. Zugleich bietet Russland als militärischer und diplomatischer Akteur gewissermaßen „politische Deckung“ für einige Staaten an. Damit ist man nicht nur in Europa und Asien präsent, sondern auch in Afrika und Lateinamerika.

Was konnte Putin nicht erreichen?

In der Innenpolitik gelang es nicht, wie angekündigt eine nationale russische Elite zu formieren. Die Gruppe, die mit Putin an die Macht kam, erwies sich als wenig widerstandsfähig gegenüber materiellen Versuchungen. Diese poli­tische Elite ist bis heute eine Gruppe von Personen, die ihre Unternehmens­interessen nicht nur über die nationalen und staatlichen Interessen stellen, sondern auch isoliert von ihrem Land leben, praktisch aber auf seine Kosten. In dieser Hinsicht – befreit von den Pflichten des öffentlichen Dienstes und strengen moralischen Beschränkungen – unterscheidet sich die derzeitige Elite von ihren sowjetischen und imperialen Vorgängern. Dieser Mangel im bestehenden Regime schwächt seine langfristige Perspektive.

Außenpolitisch war der Übergang von den Konzepten vom „größe­ren Europa“ zur Idee eines „größeren Eurasiens“ schmerzhaft. Die Zusam­menarbeit mit Europa, dem nächsten Nachbarn Russlands, ist nicht nur aufgrund der Ukrainekrise und grundlegender Unterschiede in politischen Werten ins Stocken geraten.

Aus EU-Sicht war die Basis für diese Zusam­menarbeit, dass sich Russlands an europäische Normen annähert, jedoch ohne die Einbeziehung Russlands in die EU. Die russische Hoffnung, dass die Eliten der EU mit dem Ende des Kalten Kriegs die atlantische Umlaufbahn verlassen und mit Russland ein größeres Europa aufbauen, erwies sich als unrealistisch.

Dann versuchte man auf den politischen Fel­dern der EU-Länder zu spielen und half nationalistischen Kräften, welche die dortigen Eliten herausforderten. Das war ein Fehler. Auf absehbare Zeit werden die russisch-europäischen Beziehungen durch wirtschaftli­che, wissenschaftliche, kulturelle und humanitäre Interessen geprägt sein. Geopolitik und militärische Sicherheit bleiben die Domäne der russisch-amerikanischen Beziehungen.

Probleme im Großraum Eurasien

Die Stagnation der Beziehungen zwischen Moskau und Delhi, die mit dem Zusammenbruch der UdSSR einsetzte, hält an. Der Umfang der Beziehungen zu Indien, dessen Wirtschaftskraft und internationale Ambi­tionen rasch zunehmen, bleibt hinter den Beziehungen mit China zurück. In Verbindung mit einer erheblichen Schwächung der Beziehungen zur EU ist dies eine Bedrohung für das geopolitische Gleichgewicht Russlands im Großraum Eurasien.

Ein Friedensvertrag mit Japan, der auch die Ter­ritorialprobleme endlich lösen könnte, scheiterte. Putin hat hart daran gearbeitet, Japan als eine Quelle für die Modernisierung Russlands und zu einem Element eines größeren eurasischen Gleichgewichts zu nutzen. Dieses Scheitern wird die Abhängigkeit Russlands von China weiter erhö­hen. Um dies zu mindern, wären die Beziehungen zu Indien und Japan sehr wichtig.

Die wirtschaftliche Integration mit mehreren GUS-Ländern, die Putin mit der Zollunion aktiviert hat, dient sicherlich den Interessen Russlands und seiner Partner. Gleichzeitig ist die EAWU ein begrenztes Projekt. Sie hat keine Aussicht, ein geopolitisches Machtzentrum in Eurasien zu werden. Die Partnerländer sind zu sehr auf ihre staatliche Souveränität bedacht. Der EAWU fehlt auch die Möglichkeit, ein ernsthafter Konkur­rent bzw. Partner anderer Integrationsverbände zu werden, sei es der EU oder der ASEAN.

Gesucht: Russlands Platz in der Weltordnung

Schließlich wurden einige Konzepte Putins in der Praxis nicht getes­tet. Die Idee einer multipolaren Welt, das heißt einer Welt des geopolitischen und geoökonomischen Gleichgewichts, entspricht sicherlich den Interes­sen Russlands. Gleichzeitig ist die Idee, die bestehende Weltordnung zu ändern, das heißt die globale Hegemonie der USA zu beseitigen, eher schäd­lich. Die Feinde der USA nur deshalb zu unterstützen, weil sie sich dem globa­len Hegemon widersetzen, bedeutet nicht, die eigene Position zu stärken. Man schafft sich zusätzliche Probleme.

Wichtig für Russland ist nicht die Weltordnung an sich, sondern Russlands Platz in dieser. Das Streben nach einem würdigen und vorteilhaften Platz in der entstehenden Weltordnung erfordert eine klare Zielsetzung und eine durchdachte Strategie. Das Feh­len einer langfristigen Strategie einerseits und die Neigung zu taktischen Manövern andererseits führen eher zu Risiken in der Außenpolitik.

Putin hat wiederholt versichert, dass Russland keine Konfrontation mit den Vereinigten Staaten zulassen werde. Aber die US-russische Kon­frontation ist seit fünf Jahren eine Tatsache. Nun gibt es ähnliche Zusi­cherungen, dass es kein neues Wettrüsten mit den USA geben werde. Aber angesichts des von Washington eingeleiteten Abbaus des Rüstungs­kontrollsystems gibt es keine Garantie, dass das militärisch-technische Gleichgewicht mit den USA ohne ernsthafte Investitionen im Verteidi­gungsbereich aufrechterhalten werden kann.

Natürlich hängt nicht alles von Moskau ab. Washington hat seine eigenen Pläne, die sich ändern kön­nen. Es geht um etwas anderes. Russland ist als weniger mächtige Kraft verpflichtet, seine Interessen zu verteidigen, um frontale Zusammenstöße mit einem Rivalen zu vermeiden.

Ein großer Fehler in der russischen Außenpolitik seit Mitte der 1990er-Jahre bestand in der starken Fixierung auf die NATO-Osterweiterung. Sicher, der Beitritt von mittel- und osteuropäischen Ländern in die NATO hat die Sicherheit Russlands nicht gestärkt und die außenpolitischen Posi­tionen Moskaus geschwächt. Gleichzeitig haben Moskaus Versuche, sich gegen die Ostbewegung des Bündnisses zu stel­len, die negativen Folgen dieser Expansion für Russland eher verstärkt.

Außerdem hauchten die militärpoli­tischen Schritte Moskaus während der Ukrai­nekrise der NATO neues Leben ein und trugen dazu bei, dass Russland wieder als militärischer Feind des Wes­tens wahrgenommen wird. Das Wiederaufleben dieses Bildes – ein Vier­teljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges – ist eine strategische Niederlage für Russland.

Ukraine-Politik ein schwerer Fehler

Die übertriebene Bedeutung der NATO-Erweiterung hat auch die Poli­tik Russlands gegenüber der Ukraine stark beeinflusst. Es ist diese Poli­tik, die zum schwerwiegendsten Fehler der letzten Jahre wurde. Hier geht es nicht um die Aktionen auf der Krim, die eine Reaktion auf eine scharfe Veränderung der Situation in Kiew waren, sondern um die Ver­haltenslogik, die 2014 zur Ukrainekrise führte, die in der postsowjeti­schen Zeit zu einem Wendepunkt in der Außenpolitik Russlands wurde.

Neben der ungerechtfertigten Angst vor dem Aufstieg der NATO lag der Fehler in den falschen Vorstellungen des Kremls über die Bestrebungen der ukrainischen Eliten und über den Charakter der ukrainischen Gesell­schaft. Man glaubte, die ukrainischen Eliten könnten in das eurasische Integrationsprojekt einbezogen werden und dass Ukrainer und Russen – Zweige eines Volkes – dies unterstützen. Man meinte, die Ukraine sei als kritische Masse für ein eurasisches Machtzentrum notwendig. Putins Versuch, die Ukraine in die EAWU aufzunehmen, war nicht nur ver­gebens. Dies wäre auch kostspielig für Russland gewesen.

Wir müssen erkennen, dass der Staat Ukraine ein großer und feindlicher Nachbar Russlands ist. Einzige Erleichterung für Moskau ist, dass die inneren Probleme der Ukraine Russland nicht länger belasten. Wahrscheinlich für eine lange Zeit, anscheinend für immer.

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